Volltext Seite (XML)
8 Theodor Kirchhoff: Die Wunder des Iosemitethales in Californien. Geist um Hülfe an für ihr Voll. Der zerspaltete den Süd dom und ließ die Fluthen des Hochgebirgs durchs Thal rau schen, Negcn strömte vom Himmel, die Ernten waren gerettet und alle Angst vor der Hungcrsnoth hatte ein Ende. Tissaak aber, die sich dem Großen Geiste als Opfer dargebracht hatte, war auf immer verschwunden. Als Tutokanula seinen Ver lust entdeckte, verließ auch er das Thal, wo er ohne seine Geliebte nicht länger leben wollte. Ehe er fortging, meißelte er noch ihr Antlitz in die Felswand des zerborstenen Süd doms (wo dasselbe in schwachen Umrissen zu sehen ist) und sein eigenes mächtiges Bildniß in die Granitmauer des El Capitan, von wo aus er immer noch ernst und traurig thal- auswärts, nach der ehemaligen Wohnung seiner verschwun denen Göttin, hinüberblickt. Im Nosemitethale werden die Sagen der Urbewohner und die Namen, welche sie allen hervorragenden Felsen und Katarakten gegeben haben, fortleben, wenn der letzte von den Rothhänten längst verschwunden sein wird. Hosemite bedeu tet auf indianisch „der große graue Bär". Der dem El Capitan schräg gegenüberliegende Bridal-Veil-Fall wird von den Indianern Pohonü, d. i. der Geist der bösen Winde, genannt. Keine Rothhaut wagt sich gern dorthin, und niemand von ihnen würde um alle Schätze der Welt eine Nacht am Katarakte im Lager verbringen. Die durch die hcrabstürzenden Fluthen in seiner Nähe stets heftig erregte Luft scheiut jene» von bösen Geistern voll zu sein. DieEnt- dccknng des 4)oscmitcthales ün Jahre 1851 hatte schrecklicher Weise die fast gänzliche Vernichtung der dort wohnenden Indianen zur unmittelbaren Folge. Eine Abtheilung Mi lizen und Grenzler verfolgte eine Schaar vor ihnen flüchtender Rothhäute, die sich des Pferdediebstahls und Mordthaten an einigen Minern schuldig gemacht hatten, bis in ihre damals noch unbekannte Bergfeste und tödtete den ganzen Stamm bis auf einen kleinen Ueberrest. Die letzte Schlucht, in wel cher die Indianer Schutz suchten und wo die meisten von ihnen niedergcmetzelt wurden, führt heute noch den Namen „Indian Canyon". Durch ihre ungezügelte Raubgier und Mordlust hatten die Röthhäute selbst das Verhängniß gegen sich heräufbeschworen, einen Feind, der kein Erbarmen kannte. Fürwahr, ein wehmüthiger Gedanke, daß sich die Entdeckung des herrlichsten Felsthales in der Neuen Welt mit dem tra gischen Untergange seiner alten Bewohner verknüpfen mußte! Heute sieht mau nur noch wenige Indianer im Thäle, kaum ein paar Dutzend, die vom Fischfang leben und in ihrer zer lumpten Kleidung einen traurigen Eindruck hinterlassen. Noch wenige Jahre und auch dieser kleine Rest des einst zahlreichen Noscmitestammes wird verschwunden sein; keiner wird alsdann noch die Geister am Pohonü fürchten, und Tu- tokanula's Riesenbild wird vergebens von der Felsmauer des El Capitan nach den alten Bewohnern des Thales aus schauen. Der Bridal-Veil-Fall, den ich bei meinem Eintritt ins Nosemitethal ganz in der Nähe sah, wird ost als der Staubbach in der Sierra Nevada bezeichnet. Aber jener ist weit wasserreicher und viel imposanter als sein Bruder in den Alpen. Die Höhe der beiden Wasserfälle ist fast die selbe; der Staubbach ist 925, der gegen 70 Fuß breite Braut- schleicrfall 940 Fuß hoch. Während der Stanbbach seine weiche milchige Fluch unaufhörlich über den Abhang in die Tiefe drängt und als ein diamantener Spühregcn die grünen Matten des Lauterbrunnenthals erreicht, stürmt der Pohonü mit donnerndem Brausen auf mächtige Granitblöcke in den waldumbauten Thalgrund herunter. Wie leuchtende Raketen schießen die Fluthen hier und da aus dem vom Winde zer- theilten Katarakte herab, der, aus der Ferne gesehen, einem riesigen silberdurchwirkten wehenden Schleier ähnlich ist — daher sein Name. Wenn die Sonne am hohen Nachmittage einen farbigen Bogen auf die sprühenden Fluthen des herr lichen Wasserfalls malt, über den sich die 3750 Fuß hoch ansteigenden Granitgipfel der sogenannten „Drei Grazien" (Illr-ss kravss) stolz erheben und auf die der kolossale El Ca pitan ernst hinüberschaut, so ist das ein Gesammtbild von wunderbarer, wilder Schönheit, gegen welches das des Staub bachs fast als kleinlich erscheint. Wie ich am grünen Ufer des etwa 70 Fuß breiten klaren Merced zwischen zerstreut wachsenden Eichen und prächtigen Coniferen langsam weiterreite, begrüßen mich zunächst an meiner Rechten die 2660 Fuß hoch aufstrebenden kolossalen Mauern der Kathedrale, neben deren steilen Klippen wänden zwei isolirt dastehende sich an 500 Fuß über das Felsgesims erhebende Granitpfeiler, die Cathedral-Spi- res, d. i. Kirchthürme, seltsam aufgesetzt sind. Dann treten mir an der Nordseite die 4300 Fuß hohen schrägen Gipset der Three Brothers entgegen (von den Indianern die Pompompasus, d. h. die sprungfertigen Frösche, genannt), die aussehen, als ob sie jeden Augenblick in das Thal herab stürzen könnten, und rechter Hand der furchtbar steile Sen- tinelfels, von den Indianern Loya, d. h. die Schildwache, genannt. 3270 Fuß baut er seinen obeliskähnlichen Granit gipfel, der oben nur 300 Fuß breit ist, über das grüne Thal empor, das zu seinen Füßen mit prächtigen 150 bis 175 Fuß hohen Fichten geschmückt ist. Hinter dem Loya liegt die hellgraue Kuppe des 4500 Fuß hohen Sentineldoms. Aber mehr noch als vom gewaltigen Sentinelfels wird das Auge von dem ihm gegenüber von der Südseite der Thal- wand aus einer Höhe von 2634 Fuß in drei Cascade» sich hcrabstürzenden Ä)oseinitefal ls gefesselt, dem höchsten bekann ten Wasserfall auf der Erde; ich sage ausdrücklich, der höchste Wasserfall, denn der ihm gegenüberliegende 3200 Fuß hohe Sentinelfall kann ihm diesen Rang nicht streitig machen, da derselbe sich nur wie ein schmales silbernes Band an den steilen Felsen herunterschlängclt und gar nicht das Aussehen eines Kataraktes hat. Unter den Schweizerfällen kommen nur die bei Reichenbach ihm an Höhe ziemlich nahe; aber es sind ihrer sieben auf einander folgende unterbrochene Casca- dcn, und keiner von ihnen kann sich im entferntesten an Wasserfülle und Größe mit dem oberu Hoscmitcfall messen. Dieser ist 1600 Fuß hoch, oben einige 30 Fuß breit, und erweitert sich nach unten bis auf 300 Fuß. Der durch einen Felsenvorsprnng von ihm getrennte mittlere Fall ist 600 Fuß hoch und stürmt über eine steile, rauhe Granitfläche herab, und der untere gleich auf ihn folgende macht seinen Niesen- sprung von 434 Fuß direct in den Abgrund. Der obere Tjosemitefall schwebt wie der Brautschleierfall im Winde hin und her. Sein lant hörbares Brausen nud der Anblick der gleichsam vom Himmel herabstürzenden mit unzähligen blitzen den Tropfen und Wassergarben sich drängenden Fluth gab den schroffen Contouren der umliegenden Granitgipfet ein lieblicheres Aussehen, denen ohne den riesigen Kataralt gleich sam das pulsirende Leben gefehlt hätte.