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103, 7. Mai 1S10. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 5439 Hierauf beschließen die Anwesenden einstimmig die abgeänderte Satzung. Zu Punkt 7 der Tagesordnung: »Anregungen aus der Mitte der Versammlung«, erteilt Herr Carl Reinecke Herrn R. Bellmann jr. das Wort, der sich in längerer Ausführung gegen das Abschreiben der Noten seitens der Zivil- und Militärkapellen wendet. Herr Bratfisch ergänzt diese Ausführungen, indem er darauf hinweist, daß auch Gesangvereine widei rechtlich abschreiben, und schlägt, der An regung des Herrn Or. Mittelstaedt folgend, gerichtliche Ver folgung einzelner Fälle vor. Herr Lienau empfiehlt dem Deut schen Mustkalien-Verleger-Verein ein Vorgehen in dieser An gelegenheit. Zu der Angelegenheit sprechen in gleichem Sinne die Herren Geh. Rat vr. O. v. Hase, vr. Volkmann, Or. R. Astor und W. R. Linnemann. Der Antrag des Herrn Bellmann: »Die Unter zeichneten beantragten neue Bestimmungen festzustellen gegen das Unwesen des Notenabschreibens«, von den Herren W. Rich. Linnemann, Georg Bratfisch, E. Astor, Max Merse burger, Willibald Fritzsch, Fritz Schuberth, Martin Cohen, Ludwig Bloch, E. Schultz unterstützt, wird dem Vorstande zur weiteren Bearbeitung überwiesen. Nachdem Herr Geh. Rat vr. O. o. Hase in warmen Worten dem Vorstand und Herrn Carl Linnemann gedankt und des erkrankten Herrn Simrock freundlich gedacht hat, bittet er die Versammlung, sich zu Ehren des verstorbenen Prof. vr. Carl Reinecke, der ein aufrichtiger Freund der Verleger war, zu erheben. Zum Schluß regt Herr Lienau an, daß die Genossen schaft Deutscher Tonsetzer so, wie sie früher die »Musik- geschäftlichen Blätter« unterstützt hat, in Zukunft auch »Musikhandel und Musikpflege« für Propaganda zugunsten der Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht pekuniär unterstützen möge. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben sgez.) Carl Reinecke, (gez.) Albert Stahl, (gez.) 0r. Robert Astor. (gez.) vr. Gustav Bock. (gez.) Max Merseburger, (gez.) Carl Linnemann. (gez) Rechts anwalt vr. Mittelstaedt. (gez.) Geschäftsführer Karl Hesse, Protokollführer. (Nach: »Musikhandel und Musikpflege« Nr. 18/19 v. 4. Mai 1910.) Die Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild im Sächsischen Landtag. (Vgl. Nr. LS, S« d. Bl.) Die II. Kammer des Sächsischen Landtags beschäftigte am 3. Mai 1910 die Schlußberatung über den mündlichen Bericht der Beschwerde- und Petitionsdeputation über die Petitionen 1. des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild in Berlin, sowie 2. des freimaurerischen Vereins »Fürsorge« in Dresden und 3. eines Anonymus in Plauen, die Vorführungen der Mutoskope und Kinematographen sowie die Ausstellung und den Verkauf anstößiger Schriften und Bilder betreffend. Berichterstatter Abgeordneter Poserrr (natlib.): Von Berlin aus bitte der Volksbund zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild bei allen deutschen Negierungen und Parla menten, daß im Interesse der deutschen Jugend eingeschritten werde gegen die öffentliche Auslegung von Bildern und Schriften, die, ohne der Kunst und Wissenschaft zu dienen, lediglich darauf berechnet seien, die Sinnlichkeit zu reizen. Auch gegen Kine matographen und Mutoskope, die denselben Zwecken dienten, möge vorgegangen werden. Der freimaurerische Verein »Für sorge« in Dresden, der es sich zur Aufgabe gemacht habe, die Heranwachsende Jugend fürsorglich zu beraten und zu bewahren, richte ebenfalls die Bitte an die Stände, dahin zu wirken, daß der Verkauf oder wenigstens die Auslage und Anpreisung sitten verderbender und die Phantasie der Jugend krankhaft ver bildender Schund- und Schmutzschriften verhindert werden könne. Ein anonymer Bittsteller aus Plauen i. V. wolle von der Ständeversammlung die Frage erörtert wissen, welchen Ein fluß die Schundliteratur und das Kinematographenwesen auf unser Volk ausübten. Die Beschwerde- und Petitionsdeputation erkenne an, daß in der von den Bittstellern bezeichneten Rich tung große Ubelstände herrschten. Diese zu beseitigen, müßten sich Staat und Gemeinde, Schule und Elternhaus zu gemein samem Kampfe zusammenschließen. Es sollte aber auch sonst ein jeder, dem das geistige und sittliche Wohl unseres Volkes am Herzen liege, für sich die Pflicht erkennen, nach seinen Kräften mitzuwirken an der Beseitigung dieser Gefahren. Die Deputation sei sich voll bewußt, daß das keine leichte und einfache Aufgabe sei. In der Auffassung über das sittlich Anstößige in der Kunst und namentlich über die Grenzen des Zulässigen gingen die An- sichten in der Bevölkerung weit auseinander. Es sei oftmals schwer zu unterscheiden, wo die Begriffe »sinneerregend« und »phantasieverwirrend« den Begriff »Kunstprodukt« ablösen sollten. Zu allen Zeiten, bis in die graue Vorzeit zurück, sei auf die Phantasie der Menschen durch Wort und Darstellung eingewirkt worden. Neben der Begeisterung für Schönes, Edles und Wahres seien auch die niederen Triebe und die Leidenschaften geweckt und die Sinne verwirrt worden. Er erinnere nur daran, was durch die Erzählungen von Mund zu Mund in den früheren Zeiten für unzählige Hexen- und Teufelsvorstellungen entstanden seien. (Abg. Günther: Sehr richtig!) Unzählige Opfer seien den Folterkammern und Scheiterhaufen verfallen infolge einer verworrenen Gedanken- und Geistesrichtung. In nicht zu weit hinter uns liegenden Jahrzehnten seien auf den Jahrmärkten die Bänkelsänger in der Hauptsache die Berichterstatter über Ver brechen, Schandtaten und schaurige Begebenheiten gewesen, und gern hätten da die aufmerksam lauschenden Zuschauer ihre Groschen gegeben, denn die neu gehörten und neu gesehenen Phantasie und Nerven erregenden Darstellungen hätten eine erwünschte Abwechslung in die gruseligen Gespenster- und Geistergeschichten gebracht, die abends in den Spinnstuben erzählt worden seien. Heute im Zeit alter der Technik berichteten die größten und die kleinsten Tages zeitungen bis in alle Einzelheiten die Schandtaten des Tages. Die modernen Rotationspressen brauchten Maschinenfutter. Da müßten Romanfabrikanten aufregende Ereignisse des Tages in noch mehr aufregende Erzählungen umwandeln, die schlecht be aufsichtigten Kindern oder auch Erwachsenen, die der Beru nicht ununterbrochen beschäftige oder müde mache, die Zeit hin- und umbringen hälfen. Die Taten, die früher lichtscheu und verborgen gewesen seien, brauche heute nicht mehr die Sonne an den Tag zu bringen, das besorge der Photograph. Wirkliche oder seiner Phantasie entstammende Verbrechen, Liebesorgien oder Schäfer spiele bringe heute der Photograph unter szenischer Mitwirkung seiner Gehilfen auf die Films und reproduziere sie in den Kine- matographentheatern seinem andächtig lauschenden Publikum. Es sei wohl ohne Zweifel, daß zwischen jetzt und sonst insofern noch ein Unterschied bestehe, als heute zuviel eingewirkt werde auf die Sinne und auf die Phantasie. Durch die verursachte Erregung werde aber bei wenig widerstandsfähigen und bei unreifen Ge mütern der ruhige und gesunde Gedankengang ganz naturgemäß erschüttert und geschädigt. Daß man das nicht ruhig gehen und geschehen lassen könne, sei wohl selbstverständlich. Man dürfe da keine Rücksicht nehmen auf die Existenzen, die heute die Gedanken und Sitten unseres Volkes verwirrten und die Vergiftung der Kindesseele zum Broterwerb gemacht hätten. Alle Mittel, die dazu dienen könnten, unser Volk widerstandsfähig zu machen, ge wissermaßen zu immunisieren gegen solche schädliche Einwirkungen, seien in diesem Kampfe in Anwendung zu bringen. Am wirk samsten werde aber vorgegangen werden, wenn bereits bei der Jugenderziehung, in der Schule, die weitgehendste Rücksicht ge nommen werde auf die seelische Schädigung durch Wort und Schrift und bildliche Darstellung. Aber nicht nur der Auswahl eines entsprechenden Lese- und Lernstoffes oder der Em pfehlung einwandfreier Büchereien und der Einrichtung und Unterstützung guter Bibliotheken sei da zu gedenken. Er meine vielmehr, unsere Jugend wolle beschäftigt sein. Mit neugierigen Augen und unerfahren sehe sie in das Leben hinein. Sie wolle 702*