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103. 7. Mai 1910. Nichtamtlicher Teil. 5441 (Keimling) Auch hier werde mau zweifellos behaupten können, daß die Ur sache der Mordtat dieses Menschen in der Lektüre der Schund literatur und in der Wirkung der Kinematographentheater zum großen Teil zu suchen sei. Der Mensch sei zum Tode verurteilt worden. Er sei»im wesentlichen ein Opfer der sozialen Verhält nisse geworden, und er möchte den dringenden Wunsch aussprechen, obwohl er ein Gegner des Begnadigungsweges sei, daß in diesem Falle eine Ausnahme gemacht und dem Manne der Tod auf dem Schafott erspart werden möchte. Jeder dieser ernsten Vorfälle sei eine ernstliche Mahnung an die Eltern, die Schulen, den Staat und die Gemeinden. Er meine, man werde einig sein, daß hier etwas geschehen müsse, aber man werde nicht in der Wahl der Mittel einig sein. In der Ersten Kammer seien vor allem zwei Wege gezeigt worden, der Weg der Gesetzesänderung und der Weg der Selbsthilfe. Der Weg der Gesetzesänderung sei sehr eingehend in dem Be richte behandelt worden. Von einer Gesetzesänderung im Kampfe gegen die Schundliteratur könne man sich jedenfalls nicht allzu viel versprechen. Dem Berichterstatter der Ersten Kammer stimme seine Partei zu in der Ausdehnung des § 33a der Ge- werbeordnnng auf die Kinematographentheater. Ganz entschieden aber müsse seine Partei eine Änderung des Strafgesetzbuches und eine Ausdehnung der Polizeigewalt ablehnen, die etwas sehr Be denkliches habe. Eine viel größere Bedeutung lege er dem Wege der Selbsthilfe bei. Der Bericht der Ersten Kammer zähle in dieser Richtung eine ganze Anzahl Maßregeln auf. An der Spitze ständen natürlich die Überwachung und Belehrung der Jugend durch Eltern und Erzieher. Aber dieser Weg sei nicht gangbar. Arbeitereltern, die den ganzen Tag in der Fabrik steckten, seien natürlich am allerwenigsten in der Lage, die Aufsicht immer auszuführen, die notwendig sei im Interesse des Gedeihens der Jugend. Es komme dann ein zweiter Weg in Frage: Gründung von Schul- und öffentlichen Biblio theken. Er möchte dieser Frage die größte Bedeutung mit bei messen. Von den Gemeinden und vom Staate müsse alles auf- geboten werden, um Schulen und öffentliche Bibliotheken zu wirklichen Musterinstituten auszubauen. Auf diesem Gebiete sei aber noch außerordentlich viel zu tun. In dem Berichte werde weiter darauf hingewiesen, daß man den Weg der Be lehrung beschreiten könne, und wenn diese nicht den gewünschten Erfolg habe, zum Boykott der Schundliteratur übergehen könne. Er stimme dem im Interesse des guten Zweckes, der verfolgt werde, gewiß zu. Ein außerordentlich wichtiges Mittel im Kampfe gegen die Schundliteratur sei auch die Aufklärung durch die Presse. Vor allen Dingen sozialdemokratische und, wie er gern zugebe, auch eine ganze Anzahl von bürgerlichen Blättern hätten in dieser Richtung gewirkt. Ein gewichtiges Moment im Kampfe gegen die Schundliteratur sei auch die Veranstalung von Vor trägen und Ausstellungen, und in der Hinsicht seien gerade die Arbeiterorganisationen wieder vorbildlich vorangegangen. In Deutschland seien von dem Gewerkschaftskartell und den sozial demokratischen Organisationen seit einer Reihe von Jahren all jährlich in den großen Städten Ausstellungen guter Jugend lektüre veranstaltet worden, und zwar veranstaltet nicht etwa von Tendenzliteratur, sondern durchaus guter Jugendliteratur der besten Pädagogen und Schriftsteller unserer Zeit und auch anderer Zeit. In Leipzig besonders sei in der Hinsicht schon Be deutendes erreicht worden. Es seien da auch von sozialdemo kratischer Seite besonders seit Weihnachten Vorträge ver anstaltet worden in allen Stadtteilen, mit denen gleichzeitig Demonstrationen verbunden worden seien, in denen gleichzeitig gute und schlechte Literatur den Zuhörern demonstriert worden sei, und auf diese Weise seien ebenfalls gewisse Erfolge er zielt worden. Das wichtigste Mittel sei aber jedenfalls die Schaffung guter, billiger Literatur, und zwar sowohl für die Jugend wie für die Erwachsenen. Er wolle auch da nur wieder auf den Bericht der Ersten Kammer Hinweisen. Leider habe die Bewegung gegen die Schundliteratur auch etwas be denkliche Momente gezeitigt, nämlich nach der Richtung hin, daß verschiedene sogenannte humanitäre Korporationen rc. auf den Plan getreten seien, die unter dem vorgegebenen Zweck, die Schundliteratur zu bekämpfen, im Gegenteil neue Tendenzliteratur und in vielen Fällen auch direkt Schund- Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 77. Jahrgang. literatur auf den Markt geworfen hätten. Er verweise da darauf, daß die Jugendwarte der »Leipziger Lehrerzeitung« erst vor kurzem sich veranlaßt gesehen habe, vor der sogenannten Hurra-Serie, die in Dresden im Verlage von Münchmeyer herausgegeben werde und die vom preußischen Kriegsministerium direkt empfohlen worden sei, ausdrücklich zu warnen. Es werde weiter in derselben Nummer der Jugendwarte auch vor der Adler-Bibliothek gewarnt, die herausgegeben werde unter dem Protektorate des früheren Reichskanzlers Bülow. Auf ein Moment, das in dem Berichte der Ersten Kammer nicht erwähnt sei, möchte er noch Hinweisen, das sei die Frage unserer sozialen Zustände. Er sei der Meinung, daß die Haupt wurzel der Tatsache, daß die Schundliteratur eine so große Ver breitung im Volke finden könne, vor allem in unseren sozialen Verhältnissen zu suchen sei. Darüber schreibe die Korrespondenz des Deutschen Lehrervereins vom 23. März 1910: Tausende der jugendlichen Missetäter sind Opfer der Ver hältnisse, unter denen sie zu leben gezwungen waren. Wer das nicht zugeben will, der gehe einmal in die Erziehungs- und Fürsorgeanstalten und unterrichte sich über die Herkunft der untergebrachten Zöglinge, darüber, wie viele von ihnen keine Mutter oder keinen Vater hatten, wie viele aufgewachsen sind in Familien, wo der Vater ein arbeitsscheuer, dem Trünke er gebener Mensch, die Mutter etwas weit Schlimmeres war. Die Jugendkriminalität, deren Umfang auch wir bedauern, ist weniger in einem Mange! an Gesinnung, insbesondere an Religiosität, als vielmehr in mißlichen wirtschaftlichen Verhält nissen begründet. Und hier ist es wieder die bedauerliche Schwächung der pädagogischen Kraft der Familie, die zweifel los den Hauptteil der Schuld trägt, die Wohnungsnot, die für den Vater, oft auch für die Mutter bestehende Notwendigkeit, außerhalb des Hauses der Arbeit nachzugehen, Mängel in der Kunst der Lebensführung, die frühe wirtschaftliche Selb ständigkeit der Jugend, alles dies und noch manches andere trägt bei zur Verminderung der erziehlichen Kraft Tausender von Familien. Die Kriminalität der Jugendlichen ist — darüber sind sich die Soziologen im Lager der Juristen und Pädagogen schon lange einig — zum guten Teil nichts anderes als ein Symptom für die pädagogische Entwertung der Familie, sie ist ein Maßstab für den Umfang, den diese Wertverminderung er langt hat. Der zur Besserung führende Weg ist damit vor gezeichnet: Der Kriminalität der Jugendlichen wird man nicht durch erhöhte Pflege der Religion in der Schule, nicht durch Vermehrung der Religionsstunden, womöglich auf Kosten anderer, ebenfalls lebensnotwendiger Unterrichtsfächer, be gegnen können, sondern vor allem dadurch, daß man den wirt schaftlichen Verhältnissen beizukommen und im besonderen der weiteren Schwächung der pädagogischen Kraft der Fa milien zu wehren sucht. Was hier die »Deutsche Lehrerzeitung« sage in Hinsicht auf die Kriminalität der Jugend, das gelte auch für den Kampf gegen die Schundliteratur. Wolle man wirkliche Erfolge erzielen auf diesem Gebiet, dann müsse man vor allen Dingen bestrebt sein, gesündere soziale Zustände zu schaffen, dafür zu sorgen, daß die Arbeiterschaft höher entlohnt werde, damit die Arbeiter sich bessere Wohnungen mieten könnten. Man müsse dafür sorgen, daß die Arbeiterschaft eine bessere Arbeitszeit bekomme, damit die Masse der Bevölkerung in die Lage komme, sich frei geistig zu betätigen, man müsse vor allen Dingen auch dafür Sorge tragen, daß die Frauenarbeit eingedämmt werde, damit die Proletariermütter in der Lage seien, ihre Kinder selbst zu erziehen. Wenn man in diesem Sinne wirke, dann werde auch der Kampf gegen die Schundliteratur günstige Erfolge zeitigen. (Bravo! bei den Sozialdemokraten.) Abgeordneter vr. Distel (freist): Er glaube, es werde Einig keit darüber herrschen, daß die Gefahr einer Schmutz- und Schund literatur und gewisser kinematographischer Vorführungen nicht nur bestehe, sondern von Tag zu Tag größer werde. Sie sei namentlich für die halbwüchsige Jugend in moralischer Beziehung, das Wort im weitesten Sinne gefaßt, groß. Es sei aber darauf noch nicht hingewiesen worden, daß der Schaden und die Folgen in ästhetischer Beziehung größer seien, insofern nämlich, als unsere Heranwachsende Jugend durch die Lektüre der genannten Schmutz- und Schundliteratur nicht bloß den Sinn verliere für das, was 703