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die Talhänge flacher. Wer kennt nicht die Sage von dem Ratten fänger, der im buntscheckigen Kleide durch die Flöte alle Mäuse und Ratten der Stadt in die Weser lockte. Als ihm die Rats herren den ausbedungenen Lohn versagten, lockte er eines Sonn tags während des Gottesdienstes die Kinder aus der Stadt; nie mand hat sie wieder gesehen. Das Rattensängerhaus und ver schiedene Inschriften erinnern an die Sage. Das enge Beiein ander der Bürgerhäuser veranschaulicht die Zuusammengehörig- keit der Familien in früherer Zeit, in der das gesprochene Wort und der Händedruck die Einwohner in Freud und Leid verbanden. Heute drängen sich Erfindungen, Maschinen und politische An schauungen zwischen die Menschen, die holde Intimität kommt nur noch in den außerordentlich vielen Fachwerkhäusern zum Ausdruck. Besondere Beachtung verdient das reichgezierte Hochzeitshaus, in dem bis 1700 die meisten Hochzeiten abgehalten wurden. 1721 wurde dies mit der Begründung, daß zu viel Aufwand getrieben werde, verboten. Das Hamelner Bier, das einst gleich hinter dem Einbecker rangierte, ist auch heute noch vorzüglich. Bei Hameln verlassen wir das Wesertal und biegen nach Osten zu auf Hildesheim ab. Dabei offenbart sich uns noch einmal das wirre Durcheinander der vielen kleinen Gebirgszüge in der Wesergegend. Süniel, Deister, Ith, Hils, Osterwald, Sackwald, Sieben Berge und Hildesheimer Wald geben uns auf der ver hältnismäßig kurzen Strecke das Geleite. In Hildesheim kann sich ein schönheitstrunkenes Auge nur schwer sattsehen. Da sind zunächst die wunderbaren alten Fachwerkhäuser, deren die Stadt etwa 300 bis in die Gegenwart gerettet hat. Wir haben in Sachsen auch Fachwerkbauten, aber wohl nicht eine, die mit den Hildesheimern zu vergleichen wäre. Wie gemütlich, schön und ehrlich wirken diese Häuser. Keines gleicht dem anderen, jedes zeigt Eigenart im Balkenwerk und in den Ornamenten. Es ist keine Stelle an so einem Hause, aus der nicht Originalität spräche, und denoch keins will protzen. Die ganze Altstadt scheint wie aus dem Heimatboden gewachsen. Bedauerlich ist, daß sich einige kastenförmige Warenhäuser zwischen die Denkmäler deutscher Hausbaukunst eingeschoben haben. Ein wirklicher Baumeister wird immer nur der sein, der in dem durch die Heimat vorgezeichneten Rahmen Großes schafft. Auch das Bauhaus zu Dessau wird an dieser Tatsache nichts ändern. Wenn man das Aeußere als Spie gelbild des Innern auffaßt, so bekommt man einen Begriff davon, in welch charakterloser Zeit wir leben. Der schönste Fachwerkbau ist das acht Stockwerke hohe Knochenhaueramtshaus am Markt. Die reichgegliederte Giebelseite in ihrer bunten Bemalung gleicht einem Bilderbogen, einem Märchen. Interessant ist auch das alte Rathaus, besten mit stadtgeschichtlichen Wandgemälden geschmück ter Festsaal dem Fremden unentgeltlich offen steht. Zeigt die Stadt nur germanische Kunst, so sind die Kirchen romanisch. Der Dom ist die malerischste, die Michaeliskirche die gewaltigste, die Godehardskirche die reifste und reichste. Am Dom rankt der tausendjährige Rosenstock. Seine Triebe sind alle sehr jungen Datums, seine Wurzeln aber sollen tausend Jahre alt fein. Wir sind von ihm, der umgeben von romanischen Bogengängen an einem bezaubernd weihevollen Orte steht, etwas enttäuscht. Unser nächstes Ziel istGoslar, eine Stadt, die auch durch ihre alten Bauwerke berühmt ist, die aber, wenn man von Hil desheim kommt, keine Steigerung, sondern einen Abstieg be deutete. Goslar erhielt seine Gestaltung in der Hauptsache durch Kaiser Heinrich III., dessen Herz im Dome beigesetzt ist, Hein rich IV. wurde hier geboren. Bis zum Interregnum hielten sich alle Kaiser zeitweilig hier auf, Kaiserhaus und Dom gaben einen würdigen Hintergrund für weltgeschichtliche Begebenheiten und Handlungen ab. Später wurde Goslar freie Reichsstadt und Mitglied der Hansa. Es umgab sich mit einer gewaltigen Mauer die nicht weniger als 182 wehrhafte Türme aufwies. Von den Türmen sind zwei, der Zwinger und der Achtermann, noch sehr gut erhalten. Das Rathaus stammt aus der Mitte des 15. Jahr hunderts. Sehenswert ist sein Huldigungssaal mit den 1858 auf- gedeckten Wandgemälden. Leider macht das Rathaus außen und innen einen recht schnoddeligen und schmutzigen Eindruck. Durch Has von den Besuchern reichlich erhobene Eintrittsgeld dürfte doch mindestens soviel einkommen, daß das Gebäude dann und wann einmal gereinigt, die Schaustücke von ihrer Staubkruste befreit und mit sauberer Beschriftung versehen werden könnten. Zwei Häuser verdienen ganz besondere Beachtung: das „Brusttuch" mit seinem hohen spitzen Dach und schöner Fachwerkschnitzerei und das ehemalige Amtshaus der Gewandschneider, jetzt Worth genannt. Den Fachwerkhäusern fehlen die Ueberbauten, die in Hildesheim so fesselnd sind, dafür sind die graublau beschieferten Dächer ost Meisterwerke für sich. Befriedigt verlassen wir Goslar. Die Waldberge des Obet-- harzes blicken während der Fahrt nach Bad Harzburg auf uns herab. Harzburg, lieblich zwischen Vorberge eingebettet, ist wie die meisten Kurorte ein freundlich-sauberes Städtchen. Der Besuch scheint in diesem Jahre zu wünschen übrig zu lassen; denn allenthalben kann man lesen „Zimmer frei". Wir unternehmen von hier weg einen Abstecher auf den Brocken. Auf der kurzen Strecke bis zum Torfhaus muß unser NSU. eine Steigung von 550 Meter überwinden, was er schließlich mit dem Kochen des Kühlerwassers quittiert. Ueber Braunlage, Elend und Schierke erreichen wir den Gipfel. Der Wettergott ist uns einigermaßen günstig, wenn auch die Aussicht nicht klar ist, was ja im Jahre nur einige Male vorkommt, so haben wir doch einen guten Fernblick. Der Parkplatz auf dem Gipfel des Berges ist im mer voller Kraftfahrzeuge. Neben deutschen Wagen können wir viele Engländer und Holländer beobachten. Die 'Brockenbahn er leidet dadurch merkliche Einbuße. Talwärts gelangen wir über Elbingerode nach Wernigerode. Hier bewundern wir vor allem das Rathaus, das mit seiner fein und reich gegliederten Fassade ein köstliches Kleinod deutscher Baukunst darstellt. Dann fahren wir über Blankenburg nach Thale. Thäle und der Austritt der Bode aus dem Gebirge sind geschändet durch große Fabrikanlagen. Man fragt sich angesichts dieser Tatsache: Mußte die lärmende Fabrik unmittelbar neben das schönste Fleck chen des ganzen Harzes gesetzt werden oder konnte sie auch etwas abseits stehen, Die Bodeschlucht mit Hexentanzplatz und Roß- trappe erinnert in ihrer romantischen Wildheit an alpine Land schaften. Von Thale aus durchqueren wir den Unterharz in Rich tung auf den Kyffhäuser. Dabei berühren wir Ba d S u d e r o d e, Güntersberge und Stollberg. Besonders hervorge hoben sei das lieblich in einem engen Tale gelegene, von dem gewaltigen Schlosse überragte Stollberg. Auf furchtbar schlechter Chaussee gelangen wir in die Goldenen Aue, wo das Getreide infolge des vielen Regens auf den Feldern fault und auswächst. Von Kelbra aus führt eine herrliche Straße in vielen Win dungen auf den Kyffhäuser hinauf. Das von den deutschen Kriegevvereinen gestiftete, von Bruno Schmitz entworfene, gewal tige Denkmal stimmt jeden ehrlichen Deutschen traurig. 1896 wurde es zur Erinnerung an die Neuerstehung eines einigen deut schen Reiches geweiht und schon 1918 muhte es besten Zusam menbruch mit ansehen. Die schwarzen Raben kreisen wieder um den Berg, und die Aasgeier bedrohen das verkleinerte Deutsch land. Möge bald ein neuer Barbarossa auferstehen, der das Raubgesindel abwehrt! In Bad Frankenhausen halten wir kurze Rast, besehen die Badeanlagen und besuchen altoer traute Orte. Dann fahren wir über Ariern, Querfurt und BadLauchstädt,wo wir das Goethetheater und die be rühmte Quelle besichtigen, nach Merseburg. Die Stadt ord net sich unter die überragende Gewalt des Domes. Der stolze Bau, der mit dem Schloß zusammen auf einem Hügel am Afer der Saale steht, erinnert an das gleiche Beieinander in Meißen. Der Dom birgt neben vielen Fürstensärgen- einer herrlichen Orgel und dem berühmten Radleuchter auch die noch gut erhaltene Hand Rudolfs von Schwaben. Rudolf verlor sie bekanntlich in der Schlacht bei Hohenmölsen und tat dabei den Ausspruch: „Das ist die Hand, mit der ich meinem König Treue schwur". Im Dom kapitelhaus besichtigen wir unter der sachkundigen Leitung eines süddeutschen Literaturprofessors neben anderen wichtigen Urkun den auch die in der Literatur berühmten Merseburger Zauber sprüche. Ueber Markranstädt, Zwenkau, Borna, Bad Lausick, Colditz und Waldheim gelangen wir in unsre Heimat zurück, zu frieden mit unserm Wagen, der die 1200 Kilometer lange Strecke ohne jede Panne bewältigte, in unserem Innern bereichert um vieles Neue und Schöne, das wir geschaut, und erfüllt von immer neuer Liebe zu unserm herrlichen deutschen Vaterlande. Tagesspruch. Rufe nicht vergangne Tage, Nicht entschwundne Zeit zurück; Leb der Gegenwart und klage Nimmer um verlornes Glück. Weh dem Manne, der verzagend Auf verfloßne Stunden schaut, Der die Gegenwart verklagend, Nicht der eignen Kraft vertraut; Der mit Wchmut und voll Bangen Rückwärts hält den Blick gewandt; Glänzend liegt, du mußts erlangen, Vor dir das gelobte Land.