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Piere ges er war gangen. Der Mörder heißt Evan Howard!" Mühsam bewahrte Murchison die Fassung. „Der Mann, der sechs Jahre im Zuchthaus und erst seit zwei Monaten wieder frei ist?" „Derselbe!" Murchison nahm dis Brille ab und putzte nervös die Gläser. Dann fragte er rauh: „Und das steht in den Alten?" „Nein... und ja... wie man es nehmen will. Ein kleiner Roman ist es. Ein Roman, der die Vorgeschichte zu der jetzt am Milton-Square erfolgten Tragödie bil det...." Und leise, fast flüsternd sprach er weiter: „Versetzen Sic sich im Geiste gute sechs Jahre zurück... da lebten in Australien zwei Männer. Der eine hieb Nobin Cornish, der andere Evan Howard. Sie waren Freunde und standen als Aufseher im Dienste eines Pflan zers im Innern des Landes. Bis diese Freundschaft eines Tages einen Ritz bekam — warum, ist aus den Akten nicht recht ersichtlich. Sie trennten sich jedenfalls. Robin Cornish verlieh seine Stellung und suchte sich in der Hauptstadt des Landes, in Sidney, eine neue Exi stenz. Kurze Zeit verging — bis auch Evan Howard plötzlich in der Stadt auftauchte. Eewih ahnte er nicht, dah der einstige Freund sich auch nach Sidney gewandt Latte, denn er trat —.wahrscheinlich um irgendwelche Vetrugsmanöver auszuführen, überall als Robin Cor nish auf! Cornish mag eines Tages davon erfahren haben. Er ging zur Polizeibehörde und machte sie auf das Trei ben Evan Howards aufmerksam. Howard wurde nun beobachtet, damit man ein Bild von seinem Leben bekam. Zur selben Zeit geschah in der Straße, in der Evan Howard wohnte, ein Verbrechen. Eine Frau, ein« Obsthändlerin, wurde in ihrem Geschäft erschlagen aufgefunden. Die Kasse war geplündert. Am Tatort fand man als einzige Spur des Täters ein Taschentuch, gezeichnet E. H. — Evan Howard. Die Polizei, die von Robin Cornish, wie gesagt, sowieso schon auf Howard aufmerksam gemacht worden war, beobachtete diesen nun Tag und Nacht — und siehe da: Howard, der fast ohne Mittel nach Sidney gekommen vmr und ein armseliges Loch bewohnte, warf auf ein- nral nur so mit dem Eelde herum, verbrachte die Nächte in üblen Tanzsalons und Bars, und spielte, wie man so sagt, den „groben Mann". „Was soll ich viel erzählen: Evan Howard wurde verhaftet! Man sagte ihm auf den Kopf zu. dah er der Mörder der Obsthändlerin sei — aber er verlegte »ich aufs Leugnen und besah sogar immer noch die Stirn, sich als Robin Cornish hinzustellen. Um den Verdacht auf t^n einstigen Freund zu lenken, behauptete er, Cor nish, der in Wirklichkeit Howard hiehe, habe ihm die Pa 14. Fortsetzung. Es waren einfach entsetzliche Tage. Denn alle muhten: Das ist die Ruhe vor dem Sturm, und in Murchison hatte sich die feste Ueberzeu- gung gebildet, dah das, was dieser unheimlichen Stille folgte, katastrophale Wirkungen auf die Beteiligten aus üben würde. Hierzu gesellte sich bei ihm speziell die Sorge nm jene „Ellis"... er konnte ihre Worte nicht vergessen, jene, die von der Gefahr handelten, die über ihrem Haupte sänoeben sollte.... Hatte sich inzwischen ein Schicksal an ihr erfüllt? Oder war eine plötzliche Erkrankung an ihrem Schwei gen schuld? Das eine stand fest: Durch irgendetwas war sie in ihrem freien Denken und Tun behindert, denn noch immer lagerte sein Brief „E. W. 100" auf dem Haupt postamt .... Am Freitag, genau eine Woche später seit Beginn der Cornish-Angelegenheit, schrillte das Telephon als symbolisches Zeichen der neu anbrcchenden Epoche.... der Inspektor war am Apparat und bat ihn, so rasch als möglich nach der Station zu kommen. Fast erleichtert klang es. als Murchison fragte: „Etwas Neues?" „And ob!" rief Joul zurück. „Die australischen Ak ten sind da! Sie werden Ihr blaues Wunder er leben!" Murchison zögerte nicht. Kaum zwanzig Minuten später betrat er das Allerheiligste des Inspektors im Sta tionsgebäude. Joul lief ihm erregt entgegen. „Der heutige Tag bedeutet einen Wendepunkt in der Geschichte dieses mysteriösen Kriminalfalles," sagte er hastig. Ruckweise zog er den Arzt zum Schreibtisch und drückte ihn in einen Stuhl nieder. Sein Antlitz war leicht gerötet und auf der Stirn leuchteten drei rote Flecken. Die Erregung teilte sich unwillkürlich dem Doktor mit. „Haben Sie denn den Akten irgendetwas Wichtiges entnehmen können?" fragte er rasch. „Das ist doch eigent lich kaum denkbar...." Joul wehrte ab. „Hören Sie zu. Vor drei Stun den bekam ich die australischen Akten zugestellt. Zwei Stunden benötigte ich zu intensivstem Studium. Und jetzt weih ich, wer Robin Cornish vergiftete und warum der Mörder die Tat ausführte!" „Donnerwetter!" ,Za — auch ich konnte im ersten Moment das schier Unglaubliche nicht fassen...." Während Joul mit zit ternden Fingern in den Papieren blätterte, hatte er nichts von jener Ueberlegenheit an sich, die er sonst in ähnlichen Fällen gern zur Schau trug. Es schien, als wäre ihm die Lösung der Affäre derart nahe gegangen, dah er das Verdienst, das er sich um Herbeibeorderung der Akten erworben, gar nicht für sich in Anspruch nahm. „Lassen Sie sich alles kurz erzählen," fuhr er fort. „Der Mord an Robin Cornish wurde aus Rache he ¬ gen nicht weit. Robin Cornish konnte sich voll und ganz über seine Person ausweisen. „Befragt, wo er das Geld herhabe, das er mit vol len Händen ausgestreut, erzählte er, ein Unbekannter habe es ihm geschenkt. Er habe es eines Tages in seiner Behausung gefunden! Also der „große Unbekannte" wieder einmal. Man fand bei ihm noch einen ansehn lichen Geldbetrag. Außerdem konnte er nicht einwand frei nachweisen, wo er sich zur Zeit des Verbrechens auf gehalten hatte — kurz und gut: Evan Howard empfing den Lohn für sein Verbrechen... eine eigentlich viel zu milde Strafe: Acht Jahre Zuchthaus...." Joul machte eine Pause. Eine einsame Fliege kreiste summend um den Lampenschirm. Schwül und dumpf war es in dem Zimmer. „Evan Howard Hal geleugnet bis zum letzten Tage, aber es half ihm nichts. Seine Berufung wurde ver worfen. Er verbüßte sechs Jahre seiner Strafe. Den Rest schenkte man ihm, weil er sich gut führte. Vor zwei Monaten ließ man ihn frei. Nun — und das andere haben wir ja hier erlebt. Das Schlußkapitsl der Tra gödie ...." „Und nun glauben Sie..." Murchison sah unruhig zu dem aufgeschlagenen Aktenbündel hinüber. daß .... hm... aus Rache...." Joul nickte. „Es steht eigentlich nunmehr außer jeder Frage," sagte er. „Cornish war es, der die Polizei in Sidney auf ihn aufmerksam machte. Wäre Cornish nicht gewesen — wer weiß, ob jemals auf Evan Howard Verdacht ge fallen wäre. Sechs lange Jahre hat Howard hinter Zuchthausmauern gesessen. Eine Zeit, in der der Rache plan entstand. Ja, an Cornish wollte er sich rächen an dem Manne, der einst sein Freund gewesen und der ihn dann der Polizei in die Hände gespielt! Freilich, daß Howard selbst Schuld an seinem Unglück ist. scheint er vergessen zu haben..." Murchison sah eine Weile schweigend ins Leere. „Ihre Logik in Ehren," meinte er dann. „Wirk lich... aber doch kann ich mich eines unangenehmen Ge fühls nicht erwehren... Sehen Sie, Joul, warum hat Robin Cornish ein Testament für Howard hinterlassen? Ich meine, jemanden, den man für einen Verbrecher hält, merzt man doch aus seinem Gedächtnis nicht wahr!" „Du lieber Gott.... wieso? Vielleicht hatte Cor nish Mitleid mit dem einstmaligen Freund, der ja im Grunde genommen gar kein so schlechter Mensch zu sein braucht. Wie wäre es denn nun, wenn der versiegelte Brief ein Testament zugunsten dieses Howard enthielte?" „Wie käme Cornish dazu, einem Mörder sein Ver mögen zu vermachen?" „Sagen Sie das nicht. Es hat schon immer merk würdige Menschen auf der Welt gegeben. Vielleicht dachte Cornish, daß er Evan Howard wieder auf eine anständige Bahn zurückführen könne, wenn er ihm die Mittel dazu in die Hand gab. Wäre das nicht möglich?" „Dann müßte Cornish geradezu eine menschliche Perle gewesen sein!" Joul zuckte oie Achsel. „Warum nicht? Die Aus künfte, die ich über ihn eingeholt habe, stellen ihm kein schlechtes Zeugnis aus..." „Schön... und auch in diesem Falle hinkt Ihre Logik, Joul, ich kann mir nicht helfen." „Wieso?" Joul zeigte leisen Mißmut. „So rücken Sie Doch mit Ihren Einwänden heraus...." „Gern. Ich erinnere Sie an Ihre Vermutung be züglich des seltsamen Einbrechers und Chloroformhelden... sagten Sie nicht, daß Sie diesen Menschen für den Mörder halten? Sagten Sie nicht, daß in dieser An nahme die einzige Erklärung liege?" Das Cornish ein Testament gemacht habe, wahrscheinlich zuungunsten eines andern .... und dieser andere sei eben der nicht stehlende, sondern nur suchende Einbrecher... der Einbre cher, der nichts als das Testament sucht, um es zu be seitigen, wodurch er wahrscheinlich Vorteile hat Sagten Sie nicht so, Joul?" „Allerdings..." „Nun und heute? Heute nehmen Sie an, daß das Testament zugunsten Evan Howards aufgesetzt wurde .... daraus wäre nun wieder folgerichtig zu schließen, daß der Testamentssucher und der Mörder nicht ein und dieselbe Person sind!" Joul preßte die Lippen zusammen. „Sie verstehen es großartig, einem alle Freude zu nehmen," knurrte er. „Gewiß, Sie haben nicht so ganz unrecht. Ich dachte wirklich nun endlich ein Stück vor wärts gekommen zu sein..." Murchison bot ihm die gefüllte Zigarrentasche. „Trö sten Sie sich einstweilen hiermit," sagte er mit schwachem Versuch, zu lächeln. „Es ist schließlich nichts weiter, als die alte Leier. Die Kette höhnt wieder einmal... wie immer. Nachgerade müßten Sie sich doch daran gewöhnt haben...." Der Inspektor blies kunstvolle Ringe in die Luft. Dann fragte er jäh, unvermutet: „Nun sagen Sie einmal ehrlich: Wen halten Sie für den Mörder?" „Das ist eine Eewissensfrage, die ich unmöglich direkt beantworten kann. Aber soviel steht fest: H a t Evan Ho ward den Filmfabrikanten vergiftet, so dürfte er keines wegs in der Person des sonderbaren Einbrechers zu suchen sein. Ist dieser Einbrecher aber doch Evan Ho ward, so steckt unbedingt hinter dem Mörder ein anderer." „Danke," nickte Joul grimmig. „Nun weiß ich Be scheid...." Als Dr. Murchison zurückkam, fand er Peter Dryp im „Studierzimmer". Er hatte das Riesenformat dxr „Daily Mail" vor sich und hantierte eifrig mit Papier und Bleistift. M/7 „Ach," machte Murchison, als er den Grund der Drypschen Tätigkeit erkannte, „Sie haben wohl wirklich nichts Besseres zu tun?" Der Zeitungsmann reichte ihm lachend die Hand entgegen. „Was wollen Sie?'' meinte er vergnügt. „Dieses Grotz-World Puzzle ist einfach großartig. Schon seil gestern abend sitze ich dabei.. Der Arzt schüttelte den Kopf. ,Zch werde Ihnen Godolphin zur Verfügung stel len. Er kann Ihnen bei der Lösung helfen." Peter Dryp packte die Zeitung zusammen. „Sie sind ein Ekel, Doktor," zeterte er. „Wie soll man denn die Zeit sonst totschlagen. Sorgen Sie viel leicht für Abwechslung? Ich sitze seit ein paar Tagen regelrecht auf dem Trockenen. Und warum? Wei! Sie nicht für neuen Stoff sorgen! Ja! Sie glauben schein bar, es nicht mehr nötig zu haben! Was ist denn nun mit Robin Cornish? Nichts, nicht wahr? Na also! Und warum ist nichts? Weil Sie sich hier auf die faule Bären haut legen, anstatt auf die Verbrecherjagd zu gehen...' „Sie sind verrückt! Was geht mich Cornish an? Habe ich eine Arztpraris oder ein Detektivbüro?" „Nun... eine ganze Zeit schien es, als betrieben Sie... hm.... aber Scherz beiseite, Doktor: Besteht denn gar keine Aussicht auf neue Ereignisse?" „Damit Sie wieder fett gedruckte Artikel liefern können..." „Na, gewiß doch... Sol! ich vielleicht von der Luft leben?" Er lachte behaglich auf. „Hand aufs Herz, Doktor... es waren doch ein paar herrliche Augen blicke, die wir zusammen verlebten, was? Damals zum Beispiel, im Gespensterhaus ... und hier bei Ihnen, die Geschichte mit dem Chloroformaugust...." Murchison wehrte entsetzt ab. „Und nun gar nichts mehr," fuhr Dryp unbeirrt fort. „Gar — nichts — mehr? Das wäre ja ein fach...." Die Tür tat sich auf. „.... fürchterlich!" vollendete er, schwieg aber be troffen, als er das verstörte Antlitz Godolphins er blickte, der langsam hereinkam. einen länglichen Zettel in der Hand. Murchison sah ihm voller Unruhe entgegen. „Was ist los?" brummte er. „Doch nicht etwa..." „Die Rechnung vom Telegraphenamt," stöhnte Eo- dolphin Coop. Und mit dem Daumen hinter sich zei gend, setzte er hinzu: „Der Mann wartet draußen. Drei Pfund, Herr Doktor!" „Für was denn?" „Für Instandsetzung des Apparates! Der Kerl l^ doch damals die ganzen Drähte zerschnitten!" Mißmutig reichte der Arzt dem Alten das Geld. „Da haben Sie's!" knurrte er zu Dryp hinüber; „Sie schlagen aus der Cornish-Affäre noch Kapitot durch Ihre Zeilenschreibselei heraus... und ich brocke zu.-' Am Abend desselben Tages kam Dryp noch einmal vorbei. Osborne war von einigen Krankenbesuchen noa! nicht zurück, so daß Murchison allein zu Abend speiste, wobei ihm der Reporter den Gefallen tat und einen Happen mitaß. „Ich komme hauptsächlich, um Ihnen zu erzählen, daß James Westlay bereits ins Untersuchungsgefäng nis überführt ist," sagte er. „Er hat alles eingestan den. Joul hat mit seiner Vermutung recht behalten. West lay hat, trotzdem er angeschossen war, sehr unbedeutend allerdings, den zusammengebrochenen Cornish beraubt, ist aber dabei gestört worden. Von wem, weiß er nicht. Er gibt an, plötzlich Schritte im Nebenzimmer vernom men zu haben. Darauf hat er sich mit dem einen Teil des Geldes begnügt und durch ein Fenster die Flucht er griffen ...." „Das ist sehr nett," nickte Murchison. Er schob Be steck und Teller zurück und griff nach der Zigarrenkiste. „Aber geklärt ist damit an der Sache an sich nichts..- acht Tage geht das nun schon. Der Kuckuck mag wissen, was wird. Vielleicht versickert alles im Sande, ohne da» jemals ein Mensch erfährt, wer hinter den Kulissen ge arbeitet hat." „Unverhofft kommt oft, Doktor. Wer weiß, ob der Mord nicht doch noch seine verdiente Sühne findet. Die Herren Verbrecher sind eben auch bloß Menschen nm Fehlern." „Hoffen wir!" brummelte Murchison. Als Godolphin den Tee servierte, läutete es an der Korridortür. Der Alte setzte die bauchige Kann/ nieder und schlürfte hinaus. Als er öffnete, sah er M einem fremden, etwa vierzigjährigen Manne gegenüber, der den Arzt zu sprechen begehrte- „Jn welcher Angelegenheit?" „Privat." Godolphin Copp durchbohrte ihn mit seinen Blicken- Der Mann gehörte zweifellos den niederen Ständen an. Sein Gesicht war unrasiert und mit Sommerspros sen überzogen. Das Haar kurz geschnitten, schwarz und borstig nach oben stehend. Der Anzug, den er trug. wat einmal neu gewesen .... vor zwanzig Jahren vielleicht- An den Füßen saßen schwere, eisenbeschlagene Schube. „Hm..." machte Godolphin abweisend. „Privat/ Sie entschuldigen schon, aber was ist das für eine pri vate Angelegenheit?" „Ich komme aus Fulham..." „Dem Vorort Fulham?" Der Mann nickte. „Ich habe dem Herrn Doktor etwas auszurichten... aber ich kann's nur ihm selber sagen..." . Godolphin bedeutete ihm, zu warten, und gmg w-' „Studierzimmer" zurück. (Fortsetzung svlgt.)