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PAPIER-ZEITUNG. 1149 No. 40. Steilschrift. In den Kreisen der Lehrer und Aerzte besteht seit einigen Jahren eine lebhafte Bewegung zu Gunsten der Steilschrift. Man empfiehlt dieselbe, weil sie sich leichter lesen lässt als die Schräg schrift, und weil die zu ihrer Herstellung erforderliche Körper haltung, sowie die Ann- und Handbewegungen besser den Be dingungen der Gesundheitspflege entsprechen, als die oft unna türliche und gezwungene Haltung, welche man sich bei An wendung der Schrägschrift leicht aneignet. Da die Schreibwaaren - Industrie ein Interesse daran hat, über die Vorgänge auf dem Gebiete des Schreib wesens unterrichtet zu sein, geben wir nachstehend eine Zusammenstellung der für die Steilschrift geltend gemachten Gründe und der bisherigen Erfolge der Steilschrift-Bewegung. Als Grundlage dazu diente ein Aufsatz von Otto Sperling im letzten Bericht über die Höhere Schule für Mädchen zu Leipzig und das Begleitwort zu Scharffs Schreibschule (Verlag der Hu wald’schen Buchhandlung in Flensburg). Schon im Jahre 1865 schrieb Dr. Fahrner in Zürich: »Wir lassen die Kinder schief werden, damit nur die Schrift recht hübsch schief liegt«. Weder von ihm, noch von Anderen wurde jedoch zunächst der Gedanke, Steilschrift an die Stelle der Schräg schrift zu setzen, weiter verfolgt, und erst Ende der siebziger mehr als 100 000 Schülern vorgenommenen Untersuchungen zu dem Ergebniss, dass die Kurzsichtigkeit in beängstigender Weise zunimmt, was ja auch von Nichtärzten beklagt wird. Dass den Augen eine Arbeit, bei welcher sie genöthigt werden, nach einem rechts von der Körpermitte liegenden Heft zu blicken, schädlich ist, wird selbst von den Aerzten zugegeben, die noch nicht für die Nothwendigkeit senkrechter Schrift ein- i getreten sind. Ebenso unzweifelhaft ist allen, dass bei senk rechter Schrift »die symmetrische Haltung des Körpers nicht bloss möglich, sondern geradezu geboten sei«, folglich die Augen die günstigste Arbeitsstellung einnehmen. Die senkrechte Schrift wird aber nur in der Mittenlage (das Heft mitten vor dem Schreibenden) bequem ausgeführt, wobei das Papier senkrecht zu dem Tischrand liegt. (Senkrechte Mittenlage.) Einer schiefen (ansteigenden) Zeile zu folgen, widerstrebt dagegen dem Auge, weil »die Bewegungen im horizontalen und vertikalen Meridian (also bei Geradhaltung des Kopfes von rechts nach links und von oben nach unten) die leichtest ausführbaren sind, alle diagonalen (schrägen) Bewegungen dagegen von Raddrehungen (Rollungen) des Auges begleitet werden, die demselben auf die Dauer schaden.« Der in schiefer Mittenlage Schreibende sucht daher durch eine seitlich geneigte Haltung des Kopfes die ungleich vertheilte Arbeitsleistung der Augen auszugleichen. Eine Linksneigung des Fig- 1. Jahre trat man mit wirklichen Besserungsvorschlägen hervor. Dem württembergischen Arzte Dr. Ellinger gebührt das Ver dienst, als erster auf den Zusammenhang des schlechten Sitzens mit der durch falsche Heftlage erschwerten Thätigkeit der Augen energisch hingewiesen zu haben. Sein Landsmann Dr. Gross aber wandte sich, wenn auch zögernd, direkt gegen die Schief lage der Schrift. Der Gegenstand wurde nun von einem grösseren Kreise Sachverständiger aufgenommen. Die württembergische Regierung ernannte eine Kommission zur Prüfung der Frage, besonders aber widmete ihr die mittelfränkische Aerztekammer eingehende Besprechungen. Hier übernahm bald der Nürnberger Augenarzt Dr. Schubert die führende Stimme, und seiner rast losen Thätigkeit vor allem hat diese Reform des Schreibunter richts ihre Fortschritte bis heute zu verdanken. In einer grossen Reihe deutscher und österreichischer, auch englischer Schulen sind neuerdings überall mit guten Ergebnissen praktische Versuche mit Steilschrift angestellt worden. Wie weit die Sache als spruchreif erachtet worden ist, geht aus dem Urtheile des VH. Internationalen Hygiene-Kongresses hervor, der im August vorigen Jahres in London tagte. Dort wurde in der Abtheilung für Schulhygiene eine Anzahl von Schriftproben aus den ver schiedensten Schulen vorgelegt, und die Versammlung kam nach eingehender Besprechung zu folgender Resolution, die von 300 Theilnehmern fast einstimmig angenommen wurde: Da die hygienischen Vorzüge der senkrechten Schrift sowohl durch ärztliche Untersuchungen, als durch praktische Erfahrungen klar be wiesen und festgestellt worden sind, und da mit deren Einführung die felderhaften, zu Wirbelsäulenverkrümmung und Kurzsichtigkeit führen den Körperhaltungen zum sehr grossen Theil vermieden werden, so wird hiermit empfohlen, die Steilschrift in unseren Volks- und Mittel schulen einzuführen und allgemein zu lehren. Dr. Schubert ermittelte, dass bei dem vierten Theil der von ihm und anderen Augenärzten untersuchten 22 000 Schulkinder die Sehweite ungleich war (meist hatte die Sehkraft des rechten Auges gelitten) und Professor Dr. Cohn kommt durch die an Fig. 2. Kopfes, verbunden mit Entfernung des rechten Oberarms vom Brustkorb und Hebung der rechten Schulter hat aber eine Rechtskrümmung der Wirbelsäule zur Folge, die wiederum eine Gestaltsveränderung des Brustkorbes nach sich zieht. Dr. Mayer in Fürth berichtet in seiner im Auftrage der Aerztekammer von Mittelfranken herausgegebenen Schrift, dass er von 336 Schülerinnen einer Fürther Volksschule 189 — mithin mehr als die Hälfte — als nicht gerade gebaut gefunden habe, und dass in einer dortigen Knabenklasse die bei 29 pCt. derselben wahrgenommenen Verkrümmungsanfänge in einem Jahr sich nahezu verdoppelt hätten. Welchen Einfluss die Lage der Schrift auf die Körperhaltung ausübt, geht aus den beiden eingeschalteten Abbildungen hervor. Dieselben sind nach Photographieen gefertigt, welche in zwei Nürnberger Mädchenklassen von Zöglingen des zweiten Schul jahres aufgenommen wurden. Fig. 1 zeigt die Abtheilung einer Klasse, die nach altem Brauch Schiefschrift anwendet, Fig. 2 eine in Steilschrift geschulte Abtheilung. Die Kinder wurden nicht besonders zu gutem Sitz ermahnt; sie zeigen diejenige Schreibhaltung, die ihnen durch den Unterricht zur Gewohnheit geworden ist. Zur Anwendung der senkrechten Schrift gab Dr. Schubert folgende Regeln: 1. Die Mitte der Zeile liegt genau vor der Körpermitte, die Zeile selbst ist gleichlaufend mit dem Pultrand. 2. Das Abschreiben aus nebenliegendem Heft muss unterbleiben. 8. Beide Unterarme ruhen zu 2/3 auf dem Pult, in gleicher Richtung gegen die Mitte der Zeile, so dass beide Hände gleich weit vom Körper entfernt sind. Die Ellenbogen stehen beiderseits etwa handbreit vom Körper ab. 4. Die hohle Hand ist nach links gerichtet. Die 3 Schreibfinger sind leicht gebeugt (nicht geknickt). Die Federspitze muss 3 cm über die Spitze des Zeigefingers vorragen, das obere Griffelende ist gegen den Ellenbogen gerichtet. Die Hand stützt sich auf die Kuppe des kleinen Fingers.