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Das Schaffen von Berlioz bewegt sich in einer Sphäre, die schwer zu umreißen ist, denn sie nimmt keine Rücksicht auf die anerkannten Konven tionen des schöpferischen Vorgangs und der Ver mittlung von Musik, will gar keine Rücksicht darauf nehmen. Die Geschichte hat, den jeweiligen Um ständen entsprechend, vom Komponisten Werke verlangt, die sich entweder dem Kult einfügten, oder zur Unterhaltung bestimmt waren. Das bringt feste Rahmen mit sich; sie wechseln zwar je nach den Epochen, gehorchen aber den sozialen Kon ventionen, die für die jeweilige Zeit gelten. Die Kir chenmusik ist ein Aspekt dieses Rituals, die Konzert oder Opernmusik bildet die entgegengesetzte Seite des gleichen Rituals. Es ist klar, daß zwischen bei den sich ständig eine stilistische Osmose vollzieht, die soweit gehen kann, daß es manchmal schwie rig wird zu unterscheiden, welchem der beiden Ri tuale eine Musik zugehört. Die französische Revolution bringt darin keinen grundlegenden Wandel; sie verlegt allerdings den Akzent auf das weltliche Ritual, auf die Verpflich tung gegenüber dem Staat. Die Musik wird zu einem wesentlichen Bestandteil der großen Volks feste, die die französische Revolution unter dem of fenkundigen Patronat von Jean-Jacques Rousseau in Szene setzt. Das revolutionäre Zeremoniell verjüngt das christliche und gibt ihm andere Koordinaten, lehrt es, die gesellschaftlichen Bedürfnisse wieder als vordringlich zu sehen. Es verwendet die Prozes sion, jenes „abstrakte" Schauspiel, das jahrhunder telang Eigentum der Kirche gewesen war. Dabei genügt es, an die Stelle Gottes die Göttin Vernunft zu setzen: der Umstand wechselt, die treibenden Kräfte bleiben dieselben. Dennoch ist die Bezie hung zwischen Musik und Gesellschaft tiefgreifend verwandelt, und das hat Berlioz sein Leben lang beeinflußt. Wenn in Werken wie dem Requiem, dem Te Deum oder der Symphonie funebre et triomphale der revolutionäre Einfluß offen zutageliegt (der re volutionäre Bodensatz gerät weder mit der katholi schen Gottesdienst-Praxis noch mit der Ergebenheit dem Staat gegenüber in offenen Widerspruch ...), so bildet dieser Einfluß doch keineswegs das ge heimnisvollste Phänomen bei Berlioz. Man hat ihm oft seine Gigantomanie und seine Vorliebe für grel le Effekte, für falschen Glanz vorgeworfen. Häufig wird gerade das zur Verschärfung der Mißver ständnisse herangezogen, die durch Redseligkeiten innerhalb der Werke selbst ebenso entstehen wie durch die Kommentare, mit denen Berlioz seine Kompositionen lebenslang versehen hat. Aber stel len sie nicht einfach die Kompensation niemals ver wirklichter Träume dar, die meiner Meinung nach mit bestimmten ideellen Aspekten der französischen Revolution verbunden sind, freilich ihres ursprüngli chen Sinnes durch politische und soziale Entwick lung entkleidet? Pierre Boulez Der Text des Requiems I. Requiem und Kyrie Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis. Te decet hymnus, Deus in Sion, et tibi red- detur votum in Jerusalem, exaudi orationem meam, ad te omnis caro veniet. Requiem aeternam dona defunc- tis, Domine, et lux perpetua luceat eis. Kyrie eleison, Christe eleison. II. Dies irae Dies irae, dies illa, solvet saeculum in favilla, teste Da vid cum Sybilla. Quantus tremor est futurus, quando judex est venturus, cuncta stricte discussurus! Tuba mirum spargens sonum, per sepulchra regionum, coget omnes ante thronum. Mors stupebit et natura, cum resurget creatura, judi- canti responsura. Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, und ewiges Licht leuchte ihnen. Dir gebühret Lobgesang, Gott in Zion, und An betung soll dir werden in Jerusalem; erhöre mein Ge bet, zu dir kommt alles Fleisch. Ewige Ruhe gib den Hingeschiedenen, Herr, und ewiges Licht leuchte ihnen. Herr, erbarme dichl Christe, erbarme dich! Tag des Zornes, Tag der Klage, der die Welt in Asche wandelt, wie Sybill' und David zeuget. Welches Zagen wird sie fassen, wenn der Richter wird erscheinen, Recht und Unrecht streng zu richten. Die Posaune, wundertönend durch die grabgewölbten Hallen, alle vor den Richter fordert. Tod und Leben wird erbeben, wenn die Welt sich wird erheben, Rechenschaft dem Herrn zu geben.