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ZUR EINFÜHRUNG Für die „Grande messe des morts" op. 5, die Große Totenmesse, war an Hector Berlioz zum er sten Male - seitens des musikalischen Innenmini sters Graf de Gasparin - ein offizieller Komposi tionsauftrag ergangen. Berlioz sollte zu einer Gedenkfeier für die Opfer der Juli-Revolution von 1 830 ein Requiem schreiben. Leider erhielt er den Auftrag erst im März 1 837, einen Monat vor Ende der Amtszeit de Gasparins, und hatte mit der Büro kratie um sein Werk zu kämpfen, ehe der Minister ein letztes Machtwort sprach. Es war der für alle Zeiten und Zustände so bezeichnende Kampf mit dem ewigen Herrn xx, wie Berlioz den Direktor der Abteilung für Bildende Künste nennt: „Herr xx war niemand anderer als der am meisten ins Auge fal lende Vertreter der musikalischen Ansichten der ganzen zeitgenössischen französischen Bürokratie. Hunderte derartiger Kenner besetzten alle Straßen, durch welche die Künstler gehen mußten, und setz ten das Räderwerk der Regierungsmaschine in Be wegung, in welches unsere musikalischen Einrich tungen gewaltsam hineingerissen wurden. Heute!" Der machtvolle Text des Requiems hatte Berlioz schon lange zur Gestaltung gereizt. „Der Kopf schien mir zu bersten unter dem Druck der über schäumenden Gedanken. Kaum war der Plan für ein Stück vorgezeichnet, als bereits der nächste auftauchte. Die Komponisten kennen das Marty rium und die Verzweiflung, die durch das Verges sen bestimmter Ideen verursacht werden, zu deren Niederschrift man keine Zeit hatte und die einem so auf Nimmerwiedersehen entschlüpfen." Sehr wesentlich für die ans Visionäre grenzende Psychologie des Schaffensprozesses bei Berlioz ist im Zusammenhang damit eine Briefstelle an seine Schwester Adele vom 17. April: „Ich hoffe, in zwei Monaten fertig zu sein. Große Mühe hatte ich, meines Stoffes Herr zu werden. In den ersten Ta gen hatte mich die Poesie dieser ,Prose des morts' in einem Grade trunken gemacht und erregt, daß mein Geist keines klar-durchsichtigen Gedankens mehr fähig war. Mir siedete der Kopf und ich hatte Schwindelanfälle. Jetzt ist Ordnung in den Vulkan ausbruch gekommen, der Lavastrom hat sich ein Bett gegraben, und mit Gottes Hilfe wird alles gut gehen. Es ist etwas ganz Großes) Zweifellos wer de ich mir den Vorwurf der Neuerungssucht zu ziehen, weil ich diesem Gebiet der Kunst einen Ausdruck der Wahrheit geben möchte, von dem sich Mozart und Cherubini, wie mir scheinen will, recht häufig entfernt haben. Ich bringe erschrecken de Verbindungen, die glücklicherweise noch nie versucht worden sind, und von denen ich die erste Idee zu haben glaube." Cherubini, dessen beide berühmte Requiems für gewöhnlich bei allen offiziellen Totenämtern gesun gen wurden und der sich durch seinen Schüler Jac ques Halevy bei dem Journalisten Louis Franpois Bertin bitter über die Bevorzugung Berlioz' bekla gen und durch die Blume um den Großkomtur der Ehrenlegion als Entschädigung ersuchen ließ, muß te von seinem Rivalen brieflich „eine Boa constric- tor entgegennehmen, die er niemals verdauen wird". Ob höflich, ob ironisch: es war überflüssig, den greisen Meister noch mehr zu kränken. Der neue Innenminister stellte der Aufführung des Re quiems im Juli Schwierigkeiten entgegen, und Ber lioz kam in gefährliche finanzielle Sorgen und Schulden seinen Künstlern gegenüber. Der Tod des Generals Damremont bei der Einnahme von Con- stantine bot indessen schließlich Gelegenheit, das Requiem bei den Obsequien für ihn und alle dort Gefallenen am 5. Dezember 1837 anzusetzen. Daß Franpois Habeneck dirigierte, war diesmal nicht zu umgehen. Ob die gerade noch durch Ber lioz' Eingreifen vermiedenen Mißgeschicke bei der in jeder Hinsicht glanzvollen Uraufführung, in Ge genwart des königlichen Hofes Louis-Philippes und alles dessen, was Namen und Rang hatte, vom Di rigenten und den Gegnern Berlioz' absichtlich ge plant worden waren, mochte selbst Berlioz nicht annehmen, der eine eingehende Schilderung bietet und auch die für ihn so bitter enttäuschenden Nachspiele würdigt, die sein Auftraggeber, der französische Staat, sich herbeiließ, mit ihm zu spie len. Im stolzen Bewußtsein, ein wahrhaft bleibendes Werk geschaffen zu haben, sieht Berlioz auf sein Requiem, das „als etwas Großes in unserer Kunst bestehen bleiben wird". Und noch 1 867 schrieb er, dem dieses Werk seine teuerste Schöpfung war: „Wäre ich gezwungen, mein ganzes Lebens werk mit Ausnahme einer einzigen Partitur zu ver brennen, dann würde ich für die Totenmesse um Gnade bitten." Sie wurde später de Gasparin ge widmet. Ihren Platz behauptet sie in der Weltlitera tur neben den Schöpfungen Mozarts und Verdis, der sich übrigens für sein Requiem teilweise bei Berlioz Anregungen holte. H. K. Der Komponist war sich selbst der exemplarischen Bedeutung dieses Ausnahmewerkes wohl bewußt und räumte ihm den ersten Platz in seinem Schaffen