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Der Preis, den das Werk für den Rang des Außer gewöhnlichen fordert, ist hoch. Nur Chöre von überragender Leistungskraft dürfen es wagen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Chor trägt den vokalen Part fast allein, nur im „Sanctus" tritt ein Solotenor hinzu. Das Orchester braucht zahlreiche zusätzliche Musiker, um die gesonderten Bläser chöre zu besetzen und dem Streicherkörper das notwendige Gewicht zu geben. Aufführungen der „Grande messe des morts" besitzen daher mit gu tem Grund hohen Seltenheitswert. W. H. An den für weite Räume und für eine große Anzahl von Ausführenden und Zuhörern konzipierten Wer ken Berlioz' - Requiem, Symphonie funebre et triomphale, Te deum - fallen einige Charakteristika auf, die sie von den übrigen Instrumental- und Vo kalwerken unterscheiden: breite Entwicklungszüge, Beschränkungen in thematischer und rhythmischer Verarbeitung, zahlreiche Wiederholungen und großflächige Ostinati, Ausnutzung elementarer Raumwirkungen. Daß Berlioz, der an aufführungs technischen und akustischen Fragen stets interessiert war (so hat er beispielsweise bei vielen seiner Werke genaue Hinweise auf Besetzungsstärken und Aufstellung der Ausführenden gegeben), hier den besonderen Zwecken angepaßte musikalische Mittel einsetzt, ist selbstverständlich. Nur haben schon die Zeitgenossen daraus einen Vorwurf gemacht, der sich bis heute als generali siertes Vorurteil am Leben erhalten hat: den des pompös Monumentalen, das mit primitiven Mitteln gewalttätige Überraschungseffekte erziele. Hier vereinigt sich ein ästhetisches Fehlurteil - auch „Massenmusik" ist bei Berlioz nicht primitiv, und nur selten von plakativer Struktur - mit einer klassizi stischen und zugleich moralisierenden Animosität gegen materiale Fülle an sich, gegen die Üppig keit musikalischer Mittel und gegen elementare mu sikalische Wirkungen. Man hat das Requiem mit Fresken Michelangelos verglichen (dazu Berlioz nonchalant: „... dieses berühmte Fresko der Sixtinischen Kapelle hat in mir lediglich eine vollkommene Enttäuschung hervorge rufen") oder mit Bildern des englischen Malers John Martin (1789 - 1854), des Schilderers schauriger Szenen aus Bibel und Literatur, die auf Schrecken und Katastrophenlust spekulieren. Heinrich Heine hat diesen Vergleich zuerst aufgestellt und in all gemeinster Form für Berlioz reklamiert. In der „Augsburger Zeitung" schrieb er 1 844 über die „Musikalische Saison in Paris" anläßlich eines Ber- lioz-Konzerts: „Hier ist ein Flügelschlag, der keinen gewöhnlichen Sangesvogel verrät, das ist eine ko lossale Nachtigall, ein Sprosser von Adlersgröße, wie es deren in der Urwelt gegeben haben soll. Ja, die Berliozsche Musik überhaupt hat für mich et was urweltliches, wo nicht gar antediluvianisches, und sie mahnt mich an untergegangene Tiergattun gen, an fabelhafte Königstümer und Sünden, an aufgetürmte Unmöglichkeiten: an Babylon, an die hängenden Gärten von Semiramis, an Ninive, an die Wunderwerke von Mizraim, wie wir derglei chen erblicken auf den Gemälden des Engländers Martin. In der Tat, wenn wir uns nach einer Analo gie in der Malerkunst umsehen, so finden wir die wahlverwandteste Ähnlichkeit zwischen Berlioz und dem tollen Briten: derselbe Sinn für das Ungeheuer liche, für das Riesenhafte, für materielle Unermeß- lichkeit. Bei dem einen die grellen Schatten- und Lichteffekte, bei dem anderen kreischende Instru mentierung; bei dem einen wenig Melodie, bei dem anderen wenig Farbe, bei beiden wenig Schönheit und gar kein Gemüt ..." Im Postskriptum der „Memoires" weist Berlioz diese Kritik Heines, aus der er zitiert, als einseitig zurück, und er zeigt zugleich, daß es bei den Monumen talwerken konkret um ungewöhnliche, neuartige musikalische Probleme gegangen sei: um die kom positorische Bewältigung des großen Raumes und der „Gewalt der musikalischen Massen, deren Lö sung ich versucht habe ... durch die Anwendung von außerordentlichen Mitteln." Berlioz nennt zwei Beispiele von mehreren im Raum verteilten Klang gruppen und fährt fort: „Aber hauptsächlich ist es die Form der Sätze, die Breite des Stils und die furchtbare Langsamkeit gewisser Entwicklungen, ohne daß man ihr Ziel errät, was diesen Werken ihr seltsam gigantisches Aussehen, ihren kolossalen Habitus verleiht." Entschiedenen Neuheitswert mißt Berlioz seinen eigenen Versuchen in diesem Genre - das ein „Teil meiner Träume" ist - zu, „in das ich fast als einziger der modernen Komponisten einge drungen bin und von dem die Alten nicht einmal eine Ahnung gehabt haben". (Die Idee einer monu mentalen, auf weite Räume verteilten Musik war Berlioz freilich durch die Revolutionsmusik vermittelt worden.) Das Genre des Monumentalen vereint für Berlioz - und für seine Zeit - zwei Begriffe: das Erhabene und das Schreckliche. (Das Thema des Requiems umfaßt beide.) Das Erhabene in der Spielart des Antikisierenden (in der utopischen Stadt Euphonia etwa läßt Berlioz in würdiger Erhabenheit monu mentale Gluck-Aufführungen stattfinden) und des