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Karl Dietrich Gräwe über Richard Wagner wird verboten - falls durch schlechte Aufführung nicht das Ganze parodiert wird nur mittelmäßige Aufführ ungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen...”, hatte Richard Wagner 1859 aus Venedig an Mathilde Wesendonck geschrieben. Vorbeugende, doch unnötige Koketterie. “Tristan und Isolde” konnten niemals ver fehlen, “den Leuten” den Kopf zu verrücken. Nach welchen Ereignissen auch immer man die Musikge schichte in Epochen aufteilt: Es gibt eine vor-tristanische und eine nach-tristanische Zeitrechnung. Seit es die “Tristan”-Parti- tur gibt, hat es an Versuchen nicht gefehlt, das alle Schwerkraft aus den Angeln hebende Vorspiel zum ersten Akt nach den Regeln der funktionalen Harmonik auszuloten und irgendwo festzumachen. Es hebt an mit einem Sextensprung auf wärts von a nach f, von dort aus verzweigen sich die Linien, auseinanderstrebend in aufsteigenden und abstei genden Halbtonschritten; der erste harmonische Schwerpunkt ist zugleich ein dissonanter Schmerzens punkt: der “Tristan-Akkord” f-h-dis-gis. Die erste denk bare Auflösung dieser Ge spanntheit wäre eine Kadenz nach H-dur. Eine solche Lösung (die banal wäre) und jede andere wird dem Hörer zu seiner Lust und Last vorenthalten. Er wird hin eingezogen in den Sog der Vorhalte, der trügerisch-ver heißungsvollen, immer wei ter wegführenden Sequen zen, der Halbschlüsse, die sich, gleich einem Trichter system, immer entfernteren Bezirken öffnen. Zur Ruhe kommt diese zentrifugal um sich greifende Bewegung erst nach einer Ewigkeit: nach einer realen Partitur- Spielzeit von viereinviertel Stunden, in jenen letzten Pakten, die Isoldes Worten “unbewußt -, höchste Lust!” folgen und über den (abermals und zum letzten Mal erklingenden) “Tristan Akkord” hinweg der unsag bar schwebenden, gelösten, endgültigen H-dur-Harmo- nie zustreben. “Doch alle Lust will Ewigkeit -, will tiefe, tiefe Ewigkeit”, singt Nietzsches Zarathustra. Mag sein, daß Tristan und Isoldes Liebe die Lust der Ewigkeit erst jenseits der Last des Lebens erfährt. Richard Wagners Musik aber ge winnt sich die Lust der End lichkeit, indem sie sich schließlich doch noch der Last des Unaufgelöst- Unendlichen entledigt. Zur Menschlichkeit auch seiner Musik gehört, daß sie beseelt ist von Vergänglich keit, daß sie ein Wissen hat vom Anfang und vom Ende: hier das Vorspiel - dort der Liebestod.