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Mutter Lienhart war es nicht recht, daß er sich der Nachbarin gegenüber so unfein benahm. Er zeigte auch kein bißchen Lebensart. Sie hielt ihn am Arme fest. »Sehen Sie, Frau Nachbarin, diesen Brummbären! Es ist ein Kreuz mit den Männern. Ich glaube nicht, daß Herr Küchlein auch so ist." Frau Küchlein lenkte schnell ein, um sich den weiteren Zuhörer zu erhalten. .Leben'Sie denn gar nicht mit dem Pulsschlag der Zeit, Herr Lienhart?* fragte sie mit dem schönen Ausdruck, den sie gestern abend sich aus der Zei- tungslektüre erworben hatte. .Wo doch die ganze Stadt in Aufregung ist, und lauert, und spannt, und einem die Nerven gribbeln, wie eine gestrichene Baßsaite. Mein Mann ist auch drüben, wo ihn doch die ganze Geschichte nichts angehl. Wir haben nämlich kein Los; es ist uns zu teuer. Mit einem Zehntel ist nichts gewonnen, und ein Viertel, das kostet Geld!" Der Schneidermeister begriff immer noch nicht, darum schüttelte ihn Mutter Lienhart ein bißchen am Aermel. .Heute ist nämlich der letzte Tag der Ziehung, und das große Los ist noch nicht gezogen... nämlich von der Staats lotterie. Das große Los mit den fünfmal hunderttausend Mark!* „Das ist gerade eine halbe Million aus einen Sitz!* erläuterte Frau Küchlein. .Heute muß es'raus! Der kann Hüpfen, der das hat! Jetzt steht die ganze Stadt drüben vor dem Lotteriegebäude und wartet.* In Lienharts Augen blitzte etwas auf, und unwillkür lich fuhr er sich mit der Hand durch das Haar. .Herrgott, da muß ich doch gleich...* Und er machte eine Bewegung, als wollte er schneller, als sonst, wieder die Treppe hinunter. Aber sogleich besann er sich eines Besseren, und kehrte um. .Das ist freilich viel Geld. Ich wollte, ich hätte den zehnten TeU oder auch den hundertsten... Ist das Vesper auf dem Tische?' Damit zeigte er an, daß er nun die Unterredung sür beendigt halte. Mutter Lienhart hätte gar zu gern noch mehr gehört; denn es lies einem so angenehm über den Rücken, wenn die Nachbarin mit den Hunderttausendern um sich warf. Aber unten tauchte Grete auf, die noch geschwind über die Straße gegangen war, um einen Ausgang zu machen, bei dem sie zufällig Stephan begegnen könnte. .Frau Küchlein, wer ist im Laden?* sagte sie schon von weitem. ' O Gott, er ist ja nicht einmal abgeschloffen I* jammerte Frau Küchlein. .Und mein Mann hat mich ja gerade deshalb heimgeschictt, weil er vergessen hat, ihn ab- zuschließen. Und der Schlüssel zur Ladenkasse steckt auch! Wenn das mein Mann wüßte! Er ist sonst ein guter Mann; aber da kennt er keinen Spaß!* Laut jammernd, verschwand sie. Drinnen in der Mansardenstube saß die friedliche Familie beim Vesperbrot; aber es kam nicht zu dem üb lichen Gedankenaustausch. " Grete war mißgestimmt, weil ihr Stephan nicht be gegnet war, und wenn sie etwas sagte, so gaben die Eltern nicht acht, da jeder seinen Gedanken nachhing. Nachdem Mutter Lienhart nichtsdestoweniger ein gutes Stück ihres Butterbrots mit gesundem Appetit stumm ver- zehrt hatte, nahm sie plötzlich das Gespräch mit einer ge wissen Energie auf. „Warum wolltest du denn vorhin erst die Treppe hin unter, Vater, als die Küchlein von der Lotterie sprach?* Mutter Lienhart war trotz ihrer Wohlbeleibtheil eine scharfe Beobachterin psychologisch-auffälliger Vorgänge. Der Meister geriet in sichtliche Verlegenheit, die sich darin kundgab, daß er etwas geniert aus seinem Stuhl hin und her rückte. „Was werde ich denn? Ist mir gar nicht eingefallen!* „Lienhart, mach' mir keine Geschichten vor! Und nach her hist dH guf ejnmal wieder umgekehrt. Meinst, du, ich hab's nicht gesehen? Ich hoffe nicht, daß du Heimlichkeiten vor mir hast! Jetzt, nachdem wir dreiundzwanzigeinhalb Jahre verheiratet sind!* Lienhart kraute sich hinter den Ohren. Er sah un schlüssig seine Frau von der Seite an. Da er aber merkte, daß es keinen Ausweg gab, entschloß er sich zur Beichte. „Mir ist jetzt erst eingefallen, daß ich auch einLos habe.* Das wirkte wie ein elektrischer Schlag aus Mutter Lienhart. „Du hast ein Los? Und sagtest mir nichts!... Woher hast du das Los?.-.. Da hört denn doch alles auf! So ein Mann!* „Weißt du, Mutter, du hast damals recht gehabt!" Meister Lienhart hatte Anlage zu einem Diplomaten. Mit dieser kurzen Einleitung goß er Oel auf die erregten Wogen. „Ich hätte es nicht tun sollen; aber er bat mich so darum. Du weißt doch, damals der Kommis, der den Anzug haben wollte. Du hattest doch gesagt, ich dürfe ihn nicht machen, der zahle nicht. Aber weil er immer so bettelte und sagte, er zahle gewiß, und da er doch auch ein schönes Gehalt hatte, hab' ich ihm den Anzug doch gemacht. Aber wer nicht gezahlt hat, ist der Krikenberger gewesen. Ihr Frauen seht schärser. Schließlich hat er mir statt des Geldes ein Los gegeben.* „Und ist's ein richtiges Los, sür die jetzige Ziehung?" „Ein richtiges Los, ein Viertellos. Ist beinah so viel wert, als der Anzug gekostet hätte. Also haben wir gar keinen Schaden." Mutter Lienhart sah gar nicht seine demütige Miene. Sie dachte nicht daran, böse zu sein. „Und das sagst du erst jetzt...? Vater, diesmal hat's!* Nun bekam Lienhart wieder Oberwasser. „Was hat's?* Ihre Aufregung nahm noch sichtlich zu, je mehr sie sich die Sache überlegte. „Gezogen ist's doch nicht bis jetzt?" „Wenn es gezogen wäre, hätte der Kollekteur Nachricht gegebenl* „Vater! Grete! Und ich sag' euch, diesmal hat's!* „Mutter, du rappelst", erwiderte der Angeredete be ruhigend. Mutter Lienhart pflanzte das Messer, mit dem sie die Butter auf das Brot gestrichen hatte, gefahrdrohend aus. „Weißt du nicht mehr, daß die Grete heute morgen deine Kaffeetasse kaputt geschmissen hat?" Lienhart sah sie mit großen Augen an. „Jetzt wird's aber ernst. Ich glaube, Grete, du mußt den Doktor holen!" Seine Gattin erboste sich nicht einmal darüber, so sehr war sie von dem gefaßten Gedanken eingenommen. Ihre Stimme nahm einen prophetischen Ausdruck an. „Gib acht, wer recht hat. Die Grete brach heute früh schon eine Tasse kaputt. Scherben bedeuten plötzliches Glück. Die Nachbarin bringt die Nachricht, das große Los stehe noch aus, muß heute 'rauskommen. Du hast ein heim liches Los, vas noch nicht gezogen ist. Wenn das nicht alles zusammen stimmt, wenn daS ein reiner Zufall sein soll, dann weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll.' Lienhart und seine Tochter lachten frei heraus. Die Mutter aber strich sich in größter Aufregung ein neues Butterbrot. „Ich für meine Person halte es für einfältig, in solchem Falle zu lachen, und vollends bei dir, Grete, ist's nicht bloß einfältig, wenn das Küchlein gescheiter sein will, als die Henne. Von dir ist es ganz einfach sehr unanständig, über die Mutter zu lachen. Kannst dir das merken für spätere Fälle!" „Aber Mutter", begütigte Grete, „es ist doch bloß wegen der Scherben. Wenn die Scherben Glück bringen, kann ich ja dafür sorgen, daß es alleweil welche gibt, wenn es gerade nötig ist." „Gans, dumme! Daß du dich unterstehst! Selbstver ständlich ist bloß der Fall gemeint, daß es unfreiwillig ist!* (Fortsetzung folgt.) i