Volltext Seite (XML)
»Es macht fast gar nichts', sagte Gretchen sorglos. »Wenn man nicht genauer hinsieht, merkt man's gar nicht." Vater Lienhart räusperte sich bedenklich, und paßte das abgebrochene Stück des Henkels, das Grete gewissenhaft mit hergebracht hätte, sorgfältig an die Bruchstelle, aller dings ohne den mindesten Erfolg. „Bei euch muß alles hin sein", sagte er. Mutter Lienhart überhörte geflissentlich den ungerechten Vorwurf; sie hatte sich der Kanne bemächtigt, und goß sich die Taffe voll. Wenn sie beim Kaffee saß, liebte sie keine wettere Störung und ging ganz in der angenehmen Be schäftigung des Frühstückens auf. „Soll ich dir einschenken, Vater?" fragte Gretchen. Als Antwort schob er ihr nur die defekte Taffe hin, und nach dem er sie noch einmal kopfschüttelnd betrachtet und fest- gestellt hatte, daß der Schaden doch sehr bemerkbar war, versenfte auch er sich in die Prüfung des angenehm-duften- dtn Getränks. Eine geraume Zett war alles stumm; man hörte nur das Klappern der Taffen und der kleinen Löffel. Die Sonne warf einen verklärenden Schimmer in das Heine Zimmer mit der zufriedenen Familie. Der Kanarien vogel, der bisher unruhig in seinem kleinen Käfig von einem Stängchen zum anderen gehüpft war, begann zu trillern und eifrig sein Morgenlied einzuüben, wobei er Mit seinen gesträubten Federchen recht drollig aussah. „Ist Friedrich drunten, uno ver Hans?" Friedrich war der Geselle und Hans ver Lehrjunge. Sie schliefen außer dem Hause, da in der kleinen Wohnung des Meisters viel zu wenig Platz war. Grete atz ihre Semmel, ohne sich stören zu lassen. „Ich glaube, ich habe was im Laden gehört. Sie werden Wohl da sein." Unten im linken Teil des Erdgeschosses hatte Lienhart seine Werkstätte. Seit er sich so emporgearbeitet hatte, daß er sich Gesellen und Lehrjungen halten konnte, überließ er es diesen beiden Getreuen, morgens die Werkstätte zu öffnen. Grete hatte ihr Frühstück beendet; sie erhob sich, und sah zu dem geöffneten Fenster hinaus. Der Morgenwind zerzauste ihr die blonden Locken, und sie atmete vergnügt die sonnige, frische, gesunve Luft ein. In der ganzen Straße war es noch ruhig; denn es ging erst aus sechs Uhr, und eigentlich wohnte man so zusagen in einem vornehmen Stadtviertel, in dem die Leute nicht sobald aufstanden, die kleinen Rentiers, die Zimmervermieter, Beamten und Studenten der Hochschule, die noch lange nicht daran dachten, sich aus den Federn zu erheben. „Wie faul die Leute sind! Noch kein Mensch ist auf", sagte Grete, halb ins Zimmer hinein gewendet. „Ich be greife nicht, wie sie so lange schlafen mögen, jetzt im Sommer!" „Ja, ja, die Leute haben das Arbeiten verlernt", er widerte die Mutter Lienhart, indem sie sich gemächlich die dritte Tafle — halb Kaffee, halb Milch — vollgoß. „Wenn wir früher so geschafft hätten!" sagte sie, mit leichtem Triumph in der Stimme. Lienhart sah mißtrauisch nach seiner hübschen Töchter, die sich wieder zum Fenster hinausbeugte und mit dem Dachstock des Hauses schräg gegenüber durch drahtlose Telegraphie in Verbindung zu treten schien. Sie winkte, lebhaft-grüßend, mit unbewußter Anmut hinüber. „Was machst du da wieder für ein dummes Getue, Grete?" Grete sah augenblicklich zurück; ein leichtes Rot war in dem netten Gesicht aufgestiegen und ihre Augen strahlten, um den kleinen trotzigen Mund legte sich ein glückliches Lächeln. „Es war Stephan", sagte sie einfach. Lienhart brummte etwas Unverständliches, welches wiederum so oder so ausgelegt werden konnte; aber Mutter Lienhart gab laut ihre Mißbilligung kund. „Gleich gehst du weg vom Fensterl Es paßt sich nicht! Wenn ihr mal verheiratet seid, könnt ihr euch winken, so ost ihr wollt." Grete schmollte reizend. „Wenn wir verheiratet sind, hat's keinen Wert mehr. Dann sind wir ja beieinander." Immerhin trat sie gehorsam vom Fenster weg; denn auch Stephan war nicht mehr sichtbar. — Grete und Stephan waren so gut wie zusammen ver sprochen, schon seit zwei Jahren. Auch Lienhart hatte nichts einzuwenden; denn Stephan war ein tüchtiger Kerl, fleißig und rechtschaffen, und verdiente als Maler ein hübsches Stück Geld. Nur zu jung waren sie beide noch nach seiner Ansicht. Wenn sie sich aber richtig lieb hatten, konnten sie auch gut noch zwei weitere Jährchen warten, meinte er, und wenn es in die Brüche ging, hatte es auch nichts zu sagen; die Grete kam immer noch rechtzeitig zum Heir-ten. Mutter Lienhart war selbstverständlich auch nicht da gegen; denn seit Gretchen ihr Erdenwallen begonnen, war es schon ihre ständige Sorge, ob das Mädchen einen Mann bekäme. Und gegen den Stephan hatte sie schon gar nichts einzuwenden; er hatte ein hübsches Aussehen und war immer so nett zu ihr, wenn man Sonntags zusammenkam. „Es patzt sich einfach nicht", sagte sie noch einmal mit Würde. „Das können die von der Rabengasse tun, oder vom Heringsmarkt, aber nicht bessere Leute, die in der Lütticher Stratze wohnen." „Nun ja", erklärte Grete unerschütterlich, „ich bin ja schon vom Fenster weg, Mutter. Uebrigens hat's doch gar nichts zu sagen. Es sicht Vies ja kein leiblicher Mensch in der Straße. Es sind noch alle Vorhänge heruntergelassen." Jetzt war Lienhart fertig mit seinem Frühstück. Er erhob sich, und schlürste mit seinen weiten, ausgetretenen Pantoffeln zur Tür, um nun selbst zur Werkstatt zu gehen. Er sah die hübsche Grete mit grimmigen Augen an. „Mußt du eigentlich immer vas letzte Wort haben? Das hast du von der Mutter; aber es tut nicht gut .. Gib acht, wenn das ver Stephan erst weiß, dann hast vn ihn gesehen. Und jetzt rate ich vir in gutem, mach', vaß vu zur Küche kommst, vamit Friedrich und Hans auch endlich was in den Magen bekommen " Damit ging er gravitätisch zur Tür hinaus, unv man hörte draußen noch kurze Zeit die Dielen des Flurs unter seinem Gewicht ächzen, vann ging es tapp-tapp die Treppe hinunter. „Vater ist heute brummig." „Recht hat er. Nimm deinen losen Mund etwas besser in acht." Grete ließ die Unterlippe hängen, und sagte kein Wort mehr. Sie räumte das Geschirr zusammen, mit Ausnahme von Mutter Lienharts Tasse; denn Mutter Lienhart dachte noch nicht daran, sobald von dem geliebten Trunk auf zustehen. Etwas geräuschvoll und ostentativ verließ Grete das kleine Zimmer, und draußen in der Küche setzte sie den Spektakel fort. Das war Mutter Lienhart doch zu bunt, und sie wat schelte zur Tür. „Ich sag' bloß, Grete, wenn du noch mal was lieferst, dann pass' auf!" Daraufhin mäßigte sich der Lärm in der Küche. Mutter Lienhart schloß die Tür und schüttelte den Kopf. „Die macht uns noch zu schaffen! Das ist ein Racker, dieses Mädel!" Dabei erblickte sie das abgebrochene Stück des Henkels von Vaters Taffe, das aus dem Tische liegen geblieben war, und sogleich nahmen ihre Gedanken eine bestimmte Richtung an. „Muß doch einmal sehen... muß doch ein mal sehen. Ist ja noch früh am Tage und nichts eilt, es schreien auch keine kleinen Kinder mehr bei uns!" So sehr war sie mit ihren neuen Gedanken beschäftigt, daß sie nicht einmal den Inhalt des Glaskastens eines be sonderen Blickes würdigte, als sie ihn jetzt aufschlotz. Etwas mühevoll und mit einem schlecht - unterdrückten Aechzen bückte sich die rundliche Frau, und nahm vom Boden des Kastens etwas Zerrissenes, Unscheinbares, was sich bei näherer Besichtigung als ein sehr kleines, sehr altes, sehr abgegriffenes und schmutziges Büchlein entpuppte,