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360 Nr. 9. STAHL UND EISEN.* Mai 1893. Verkehr und die tausendfältigen Mittel zu seiner Bewältigung in der kurzen Spanne eines Menschen lebens entstanden sind. Der Ausstellungsplatz im Jackson-Park liegt etwa 9,6 km vom Mittelpunkt der Sladt entfernt; er hat 2,4 km Front am Ufer des grünlich-blau- schimmernden Sees und umfafst im ganzen rund 270 ha, d. h. nahezu die vierfache Fläche der Pariser Ausstellung von 1889. Die Haupt gebäude bedecken einen Flächenraum von rund 50 ha (Paris 21,6), dazu kommen die Neben bauten, welche die bebaute Fläche auf volle 76 ha bringen. Die grofsen Gebäulichkeiten sind nach dem erfolgreichen Vorbild der Pariser aus Eisen und Stuck errichtet, aber auch Holz ist in erheblicher Weise zur Verwendung gekommen. Die Mittel, welche dem Unternehmen zur Ver fügung standen, setzten sich wie folgt zusammen: 5 721 230 Dollars Schuldscheine der Stadt Chicago . 500 000 „ Voraussichtliche Eintrittsgelder . . 10 000 000 " Gerechtsame und Privilegien . . 2 000 000 , Bergegeld 2 000 000 , Zinsen auf Depositen 33 000 , 20 254 230 Dollars Die Ausgaben werden um mindestens 2 Millionen Dollars höher geschätzt, wahrschein lich werden sie den Betrag von 100 Millionen Mark (Paris rund 45 Millionen Mark) erreichen. Selbstredend ist, dafs diese Beträge nicht an nähernd die auf die Ausstellung im ganzen ver wendeten Summen vorstellen, da die Ausgaben der einzelnen Länder und Aussteller hinzukommen. Das letzte Pariser Völkerconcert wurde nach sachverständigem Urtheil als der Gipfelpunkt des auf dem Ausstellungswesen Erreichbaren ange sehen — es haben Chicago und das amerikanische Land ungeheure Mittel aufgeboten, um den „biggest record“ für Amerika zu sichern und der staunenden Welt „the greatest show on Earth“ zu zeigen. Zur Bewältigung des zu erwartenden riesen haften Verkehrs sind grofse Vorkehrungen ge troffen. Sowohl gewöhnliche Strafsenbahnen und eine Hochbahn, als auch die Illinois Central Bailway Company, welche ihre zu gewöhnlichen Zeiten schon aus 6 Geleisen bestehenden Linien um 4 weitere Geleise eigens für die Ausstellung vermehrt hat, und ferner auch die Dampfer auf dem Michigan-See werden in der Beförderung der Ausstellungsbesucher wetteifern. Auf dem aus gedehnten Ausstellungsgrund selbst wird der Ver kehr vorwiegend durch elektrische Boote auf den über 4 km langen Kanälen bewirkt werden. Diesem Kanalverkehr tritt hülfreich zur Seite eine Hochbahn, welche das Ausstellungsfeld mit Ausnahme der rechten, dem See zu gelegenen Seite, umzieht, und als Neuheit auf dem Gebiete der Verkehrsmittel eine Stufenbahn, welche unseres Wissens zwar von dem Deutschen Rettich erfunden, aber hier zum erstenmal ausgeführt wird. Eine neue Erscheinung auf der Ausstellung wird die hervorragende Mitwirkung der Frauen welt sein, welche für sich unter dem Vorsitz von Mr. Polter Palmer eine grofsartige Organisation und Vertretung in den „Women’s Building“ ge schaffen haben. Von den Weltcongressen, welche in Verbindung mit der Ausstellung in einer grofsen Zahl verschiedener Abtheilungen für Literatur, Regierung, Erziehung, Musik, Wissen schaft, Kunst, Ingenieur-, Berg- und Hüttenwesen, Elektricität, Ackerbau, sociale Fragen u. s. w. abgehalten werden sollen, ist in dieser Zeitschrift mehrfach die Rede gewesen; man erwartet von ihnen eine weitere Belebung des Unternehmens. Allem Anschein nach erfolgt die Eröffnung thatsächlich am 1. Mai, in Bezug auf die Fertig stellung dürfte die Ausstellung indefs das Geschick der meisten ihrer Vorgängerinnen theilen, da die Eisenbahnen sich als unfähig erwiesen haben, den gewaltigen Güterandrang zu bewältigen. Ein Urtheil über die Ausstellung und Vergleich mit anderen Unternehmungen dieser Art ist somit noch nicht sobald zu erwarten, aufser Zweifel dürfte jetzt bereits sein, dafs die Ausstellung nicht nur das amerikanische landwirthschaftliche und gewerbliche Leben in einer bisher noch nicht dagewesenen Vollkommenheit zeigen wird, sondern auf ihr auch das Ausland in zwar nicht vollständigen, aber sehr bemerkenswerthen Sammlungen vertreten sein wird. Ohne Zweifel wird die Ausstellung eine mächtige Zahl von Besuchern anziehen, wenn gleich die deutsche Beiheiligung bisher nicht die wünschenswerthe Stärke zu erreichen scheint. Als wünschenswerth bezeichnen wir einen zahl reichen Besuch aus Deutschland aus zwei Gründen, nämlich einmal um die 400 000 deutschen Ein wohner Chicagos in engere Fühlung mit ihrem Vaterland zu bringen, und das andere Mal, weil es für den Fortschritt unserer Industrieen und ihre Fähigkeit, auf dem Weltmarkt zu bestehen, unerläfslich ist, dafs ihre berufenen Vertreter die Ausstellung studiren und sich ihre Lehren zu nutze machen, um erfolgreich nach höherer Vollkommenheit zu streben. Hier ist Unwissenheit unklug und unverzeihlich zugleich. S.