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Fortschritt! — Wer unter dem Banner streitet, ist des allge meinsten Beifalls gewiß. Dagegen giebt es kaum ein schärferes Ver- > dammungsurtheil über eine Meinung oder Richtung, als wenn man c dieselbe der „Reaction" und des „Rückschrittes" anklagt. c Und doch — werden nicht Fälle gefunden, in welchen der Fort- ! schritt gerade in einem Rückschritt, in einem Zurückgehen von dein t falschen Wege zu dem verlassenen richtigen besteht? Und wo Jemand o auf falschem Wege ist, führt ihn nicht da jeder neue Schritt vorwärts > nur immer weiter ab vom Ziel? i Martin Luther ist nicht dadurch ein Reformator geworden, daß k er selbstersonnene neue Weisheit oder die „öffentliche Meinung" seiner Zeit und also den „Zeitgeist" an die Stelle der römischen Irrlehren setzte. g Vielmehr stellte er der Apostel Lehre und Ordnung wieder her, wie sie a anderthalb Jahrtausende zuvor war gehalten worden. Nun stand er k gar fest und fröhlich auf dem ewigen Felsengrunde des göttlichen g Wortes, und gerade indem er sich demüthig unter dasselbe beugte, be- d herrschte er seine Zeit sammt ihrem Geiste, das wahre Bedürfnis des e Volkes erfüllend und doch aller Thorheit und Uebertreibung wehrend. r Und so ist sein Werk ein unermeßlicher Fortschritt in der Entwickelung i der geistigen Freiheit überhaupt und des christlichen Lebens insbeson- d dere geworden, weil es nichts Anderes war als eine Umkehr zu der ' i lauteren und echten Quelle alles Heiles. g Wie ganz anders ein Thomas Münzer! Der meinte auch eine Besserung der Kirche herbeiführen zu wollen, aber er versuchte es h auf dem thörichten Wege der Schwärmerei und Gewalt, und je wem- d ger er sich warnen und weisen ließ, je unaufhaltsamer er vorwärts ging in seinem Beginnen, desto tiefer stürzte er sich und seine Anhän- st ger in das Verderben, bis er ein Ende nahm mit Schrecken. 2 Gleiches ist auch auf anderen Lebensgebicten geschehen. z Die herrlichsten Blüthen der weltlichen Dichtkunst unter unserem st Volke sind dadurch erwachsen, daß die Dichter von früheren Zeiten L und Sängern lernten. Zu Rom und Griechenland und zu dem bri- s tischen Meister Shakespeare zurückgehend, haben sie — Goethe und d Schiller voran — das eigene innere Leben geklärt und im Gegensatz n zu dem Drängen und Schwanken ihrer Zeit das wahrhaft Schöne er- L kannt und darum auch zu verwirklichen verstanden.