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79 auseinander. H. Graff ist ein lieber, herrlicher, junger Mann, er ist ver heiratet und zwar sehr glücklich. Wir haben schon mehrere Herzens ergießungen gehabt; er kennt meine Liebe und nahm vom ersten Augen blicke an den innigsten Anteil dran; ihn hat die Liebe auch ganz beseligt; sein l. Weibchen heißt Lina, wir tranken gestern ihre Gesundheit und gleich drauf stieß der liebe Graff auf die Deine an, mein Engel, und die ganze, ganze Gesellschaft stimmte wacker ein; — was war das für ein süßer Klang für mich. Späterhin leerte ich mit Niederer noch ein volles Glas dampfenden Punsch auf die Herzen am Luzerner (Luise Segesser, Braut Nie deres) und Bodensee, worauf wir uns recht herzlich küßten. H. Graff (der ebenfalls von der preußisch. Regierung hieher gesendet ist) wird bis künftiges Frühjahr hier bleiben, dann kehrt er über Lindau zurück und hat mir schon ver sprochen, Dich zu besuchen. . . . Donnerstag, den (3' Gktbr. In Deine Arme — an Dein Herz, mein Liebchen! wie ist mir wieder so wohl — wie löst sich Alles auf in Liebe, Freud und Friede. — Ich bin heute durch vieles sehr mißgestimmt und über Manches verdrieß lich gewesen; es geht hier im Institute oft vieles gewaltig graus durch einander — Ordnung ist wenig; Pestalozzi will dirigiren und kann es nicht — gegen Andre ist er mißtrauisch — eine Igfr Hohe und Frau Artist (vgl. S. 7ü u. 81) vermögen oft weit mehr über ihn als alle seine Lehrer — er wird nicht selten ungerecht; kurz es geht in vielen puncten jetzt recht schlimm hier — wenn das lange so fortwährt, so sehe ich einem traurigen Ende entgegen. Niederer bekümmert sich um nichts als um seinen Streit mit Bremi, diesen heillosen Streit; Krüsi sieht, daß bei der Verwirrung und bei dem Mißtrauen Pestalozzis selbst gegen ihn nicht viel zu thun ist und zieht sich in seine Häuslichkeit zurück. Die armen Töchter leiden dabei auch sehr. Weder Niederer noch Krüsi ist ihnen jetzt etwas, keiner von ihnen giebt auch nur eine einzige Stunde im Töchterinstitut; ich kann ihnen leider nur sehr wenig sein, da ich Tag für Tag 8 Stunden zu geben habe, was nicht wenig anstrengt und ermüdet. Dabei habe ich mich ver gangenen Sontag, wo ich bei den Töchtern aß, über die Knickerei der Fr. Küster nicht wenig geärgert, die den lieben Töchtern wahrhaftig kaum genug zu eßen giebt; es war alles so knapp da, daß ich mich scheute, den armen Töchtern, von denen gewiß mehrere noch hungrig vom Tische weggingen, etwas wegzueßen; ich nahm daher nur äußerst wenig und aß dann nachher noch einmal. War denn das zu Deiner Zeit auch schon so, liebe Renate, oder hat man das Sparsystem jetzt erst angefangen? — mir widersteht so etwas gewaltig; wenn sie doch verstünden, in andern ökonomischen Einrichtungen zu sparen und die jungen, kräftig aufwachsenden Tächter sich satt eßen ließen. Dann würden auch Sachen nicht vorfallen, wie am letzten Sontage, die mich nicht wenig frappirten, wo nemlich ein paar Töchter in dem Laberet zu Matthon, wo wir eingekehrt waren, übrigen Käse und Brod sich einsteckten und sagten: „Da haben wir morgen früh etwas zu eßen." Dieß war auf alle Fälle sehr undelicat, aber ich entschuldige es gern daher, weil die armen Kinder warlich nicht immer mögen satt haben.H — i) Rosette Kasthofer schreibt en Muralt (8. Juni 1813): „Wenn Niederer, der allem sieht, wie es sein sollte, oder sonst Jemand, der auch fühlt, daß es so nicht gehen kann, Ein wendungen macht, so wird Pestalozzi zornig und sagt, man hemme ihn nur; er habe keinen