Volltext Seite (XML)
Herrnhuter Wandererinnerungen Bon Heinrich Berndt, Großenhain I. Jahr 1922 gibt uns Gelegenheit, des ungesähr AUMH in der Mitte der südlichen Oberlausitz gelegenen weltbekannten Ortes Herrnhut zu gedenken, feiert doch diese jüngste aller Lausitzer Siedlungen ain 17. Juni dieses Jahres den Gedenktag ihrer vor 200 Jahren erfolgten Gründung. Zweimal (1912 und 1913) haben unsre Großenhainer Schlllerwanderungen uns nach Herrnhut geführt, und es dürste vielleicht angebracht sein, aus den damaligen Reiseberichten einige Erinnerungen aufzufrischen. — Es war dritter Pfingstseiertag. Wir hatten die alte Sechsstadl Löbau besucht und waren aus den Löbauer Berg gestiegen. Darüber war es Nachmittag ge worden, und das Tagesziel war Herrnhut. Dieser freuitd- liche Ort, der ganz und gar das Gepräge eines sehr regel mäßig angelegten und außerordentlich sauber' gehaltenen Städtchens trägt und doch eine Landgemeinde ist, sollte von Löbau aus nicht auf der ziemlich geradlinig geführten Staatsstraße, sondern auf einem anmutigeren Wege erreicht werden. (Jetzt ist der damals noch unbezeichnete Weg mit einem roten 11 bezeichnet.) Nachdem wir ein Stück die alte Bernstädter Straße ent lang gezogen waren, ging es quer über die Herwigsdorfer Fluren bergan und zwischen dem schön bewaldeten Hölzel- berg und dem ebenfalls dicht bestandenen Hirschberg hin durch, die beide dem Löbauer Berg an Höhe nur wenig nachstehen und dadurch auch die südliche Fernsicht desselben bedeutend beeinträchtigen. Auch bilden die beiden Berge ein Doppelglied in der vom Kottmar aus nordostwärts ver laufenden Wasserscheide zwischen Spree und Neiße, Elbe und Oder, Nordsee und Ostsee. Als unsre diesmal recht an sehnliche Reisegesellschaft (30 Teilnehmer) den südlichen Waldsaum des Höhenzuges erreicht hatte, da lag zum ersten Male jenes wundervolle Bild des von Norden gesehenen Zittauer Gebirgskammes vor unfern Blicken, das in mancher Hinsicht der berühmten Hirschberger Riesengebirgsaussicht j gleicht. Wie dort das Hohe Rad, die Sturmhaube und die Schneekoppe, so bilden hier der Tannenberg, die Lausche und der Hochwald die ragenden Gipfel über dem dicht ge schlossenen und doch nicht eintönig verlaufenden Bergzuge. Dem ruinengeschmückten Kynast entspricht der gleichfalls burggekrönte Tollenstein, und die zahlreichen Borverge des Hirschberger Talkessels werden durch den Oderwitzer Spitz berg und eine ganze Anzahl kleinerer Anhöhen dargestellt, alles in allem: das ganze Riesengebirge in verjüngtem Maßstabe breitete sich vor uns aus. Frohe Hoffnungen regten sich, all die schönen blauen Berge sollten ja besucht werden. Doch die Sonne war schon über den Westpunkt hinübergeglitten, und darum hieß es nun in das freundliche Strahwalde hinabsteigen und am Bahnhof Herrnhut vorüber dem Nachtquartier zusteuern. Dieses war für die Knaben und ihre Begleiter im Herrnhuter Brllderhaus, für die Mädchen mit ihren Führerinnen aber im Diaspora haus vorausbestellt worden. Schon die Namen dieser beiden Häuser verrieten uns etwas von den eigentümlichen Ein richtungen des Herrnhuter Gemeinwesens. In demselben ist auf streng christlicher Grundlage unter Ablehnung alles dessen, was diese Grundlage gefährden könnte, ein gut Teil der sozialen Frage schon längst gelöst worden, und dem auf merksamen Beobachter drängt sich hier zwingend die Uber- zeugung"auf, daß nur auf solcher Grundlage und auch nur im Rahmen von kleinen, übersichtlichen Einheiten eine solche Lösung dauernd möglich ist. Das Brüderhaus wurde zuerst von uns erreicht. Es ist in seinem an der Straße gelegenen Teile ein wuch- tiger Neubau — die frühere Straßenfront mit dem ältesten Gebäude Herrnhuts aus dem Jahre 1722 wurde 1901 ein Raub der Flammen —, an dem sich nach Südwesten ein älterer Flügel und hinten wiederum ein umfangreicher Querbau anschließen. Man ist erstaunt, auch in den alten Teilen des Gebäudes weite, lustige und lichtreiche Treppen häuser und Wandelgänge zu finden, wie sie den heutigen Anforderungen der Wohnungshqgiene vollauf genügen, obwohl sie schon länger als ein Jahrhundert bestehen. In diesem Hause wohnen diejenigen männlichen unverheirateten Mitglieder der Brüdergemetne, die in Herrnhut keine Familienangehörigen befttzen. Alle Lebensalter, vom eben konfirmierten Lehrling bis zum einsam gebliebenen Greis, sind vertreten. Namentlich die älteren Hausbewohner haben jedes eine oder auch mehrere „Stuben" für sich allein Eine gemeinschaftliche Küche und eine Bäckerei sorgen für die leiblichen Bedürfnisse. Von gewerblichen Betrieben sind eine Tischlerei und eine Gerberei im Bereiche des Brüder hauses vorhanden. (Letztere ist seit der Verlegung des theo logischen Seminars der Brüdergemeine von Gnadenberg in Oberschlesien nach Herrnhut eirigegaugen.) Ein großer Obst und Gemüsegarten, sowie eine mit Speditionsbetrieb ver- bundene Holz- und Kohlenhandlung gewährleisten weiter- hin die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des von einem „Vor steher" geleiteten großen Ganzen. Im Brüderhause ist ferner auch das sehenswerte Herrnhuter Altertumsmuseum unter gebracht, und endlich ist noch ein großer Turnsaal vorhanden, in dem heute mit Hilfe von Matratzen und Decken für uns das Nachtlager hergerichtet war. Wir machten es uns be quem, legten die Rucksäcke ab, entfernten den Reisestaub, und gingen dann hinunter in den Speiseraum, um das Abendbrot — Fleischkloß, Bohnengemüse und Kartoffeln — einzunehmen. Unterdessen waren auch die Mädchen in ihr Heim, das Diasporahaus, eingezogen, ein durchweg altes Gebäude, das seinen Namen davon trägt, daß die nicht in Herrnhut selbst, sondern in dessen näherer und weiterer Umgebung, also in der Diaspora (Zerstreuung) lebenden, aber in religi öser Beziehung sich ganz zu Herrnhut haltenden Anhänger der Brüdergemetne in diesem Hause bei ihren regelmäßigen Zusammenkünften und zu besonderen Festzeiten Unterkunft und Verpflegung erhalten. Im übrigen steht das Haus für vorübergehend in Herrnhut weilende Gäste offen, und so hatte auch unsere Mädchenschar hier ein stilles, freundliches und anheimelndes Obdach gesunden. Die über dem ganzen Orte lagernde Ruhe nahm auch unsre junge Schar gefangen, und zeitig suchten beide Gruppen ihr Nachtlager auf, während draußen dunkle Wolken den Nachthimmel mehr und mehr umzogen. Am nächsten Morgen tras unsere Reisegesellschaft vor dem Diasporahaus wieder zusammen. Das Wetter war fast neblig geworden. Doch begannen wir guten Mutes die heutige Wanderung mit der Besichtigung des Herrschafts gartens. Dieser erstreckt sich vom Herrschaftshause in der Mitte des Ortes, das verschiedenen Beamten der Brüder gemeine als Wohnung und Arbeitsstätte dient, hinter der nördlichen Häuserreihe der Zittauer Straße in einer Länge von 300 Metern und ist mit seinen viereckigen Quartieren,