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Seitschriften'Rundschau Don « Huleekdoeb Als sich di« Reichsregierung genötigt sah, den passiven Widerstand im Ruhrgebiet abzublasen, er hob sich im Lager, vor allem der bayerischen Nationalisten, ein wüste» Geschrei über den „Landesverrat" des Reichskabinetts. Daß diese nationalistischen Hetzer aber auf der anderen Seite keine Bedenken haben, Hunderttausende von Deutschen zu opfern, wenn es das Parteiinterefse erfordert, zeigen folgende Ausführungen, die wir in einem Auf- satz: „Betrachtungen zur Südtiroler Frage" von Dr. Hermann Steinberger in der „Deutschen Ein- heit" lesen: „Nicht allgemein bekannt dürfte die Stellung sein, die der Deutschösterreicher (!) Hitler zur Südtiroler Frage einnimmt. Deutschland solle, meinte er vor einiger Zeit gelegentlich eines „Sprech abends", klar und bündig auf die Deutschen in Südtirol verzichten. In der Politik gebe es keine Sentiments, sondern nur „Kalt- schnäuzigkeit". Mit Italien, das ferne nationale Wiedergeburt erlebe und eine große Zukunft habe, müsse Deutschland zusamengehen. „To weit treibt die Liebe zum Parteifetisch, zu Mussolini", schrieb unlängst zu dieser mehr als interessanten Stellung nahme der „Bayerische Kurier". Für Mussolinis Freundschaft 220 090 deutsche Londsl-ntt!" * Im Hinblick auf die Eteuerpläne in Deutsch land ist es interessant zu vergleichen, welche gerade- zu bewunderungswürdige Gabe, neue Steuermög lichkeiten zu finden, die Sowjetregierung bekundet. Nach einer Zusammenstellung der in Rußland im vergangenen Jahr erhobenen Steuern, die in den „Wolgadeutschen Monatsheften" zu lesen ist, seien nur folgende Steuerveranlagungen wiedergegeben: Von jedem Stück Großvieh sind 100 Rubel der Enussion 1922 (ein Rubel Emission 1922 gleicht 1 Million Sowjetrubeln 1918), von jedem Kopf Kleinvieh 25 Rubel zu entrichten, und zwar ist die Steuer in zwei Raten von gleichem Betrage zu be zahlen, als deren Schlußtermine der 31. Deezmber 1922 und der 1. Juni 1923 festgesetzt sind. Von der Steuer befreit ist das Zuchtvieh der Sowjetwirt schaften und Belegungspunkte sowie die Versuchs tiere in den Vcterinäranstalten. Für Pferde, soweit sie nicht in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten, gelten besondere Bestimmung, die in das Gebiet der Gewerbe- und Luxussteuer fallen. Auf jedes im Transportwesen verwandte Tier sind in der ersten Hälfte des Budgetjahres 2090 Rubel abzuführen, außerdem sind für jeden Handwagen oder Schlitten von dem betreffenden Unternehmer 200 Rubel, für jedes Boot zum Passagierverkehr 600 Rubel, für jeden Frachtkahn 2000 Rubel zu erheben. Für Fahrzeuge, die sich im Besitze von Privatpersonen, Gesellschaften oder staatlichen Unternehmungen be finden und in deren Betrieb oder zur persönlichen Verwendung dienen, sind 3000 Rubel, für die Br' spannung 51)00 Rubel pro Kopf zu entrichten. Zwei räder sind mit 200 Rubel im Halbjahr zu versteuern, während für Personcnautomobile 400, für Lastkraft wagen 200 Rubel auf die Pferdestärke festgesetzt sind. Von Gebäuden, die sich im Besitz oder Benutzurkg von Privatpersonen oder staatlichen und privaten Unter nehmungen vor allem der Trusts und (Genossen schaften) befinden, ist eine jährliche Abgabe in der Höhe von einem halben Prozent des Wertes zu zahlen, wobei die Abschätzung aus dem Jahre 1916 maßgebend ist und die Entwertung des russischen Geldes durch Multiplikation der erhaltenen Summe mit 36 000 in Rechnung gestellt wird. . . Besonders interessant ist die auch in diesem Jahre wieder ein geführte Arbcitssteuer. Der Bauer ist verpflichtet, einen oder zwei Tage mit seinem Zugvieh im Dienste des Staates tätig zu sein. Bei dieser Gelegenheit werden irgendwelche öffentlichen Arbeiten, wie Briickenbauten, Anlegen von Dämmen usw., aus geführt." Ein Hektoliter vier 10 Milliarden Das ist der neue Preis, mit dem die Brauereien die Leipziger Gastwirteschaft am Wochenende über rascht haben. Er ist gleich von drei auf zehn Mil- liarden gesprungen. Die Folge dieser katastrophalen Entwickelung ist, daß von heut« ab in den Leip- ziger Restaurationen für ein Glas hiesiges Pollbier 76 Millionen und für Stark bier 92 Millionen genommen werden müssen. Bei der sonstigen Teuerung auf dem Lebensmittel markt aber werden diese Ausschankpreise, di« tat sächlich nur Mindestsätze darstellen und ver langt werden müssen, um den Betrieb der Gast wirtschaft aufrechtzuerhalten, zweifellos dazu bei tragen, daß der Bicrkonsum weiter zurückgeht. Kein« Bankscheck» bei Zahlun-ev an die Finanz- ämter. Von den Kassen der Leipziger Finanzänner einschließlich des Umsatzsteueramtes Leipzig werden auf Verfügung des Reichsministers der Finanzen bis auf weiteres Bankschecks, gleichgültig welcher Art, nicht mehr angenommen. Hingegen wird bei Zah lungen durch Postanweisung oder Zahlkarte der Tag als Zahlungstag angesehen, an dem d«r Betrag bei der Post eingezahlt ist. Bei Ueberweisungen auf das Postscheckkonto und b «Postscheck«» ist für den Tag der Zahlung der Tagesstempelabdruck des Postscheck- mtes mßgebend. Bei Banküberweisungen wird als Zahlungstag der Tag angesehen, an dem der Betrag dem Konto der Finanzkasse gutgeschriek^n ist. Weiter werden die Steuerpflichtigen darauf hin gewiesen, daß sie bei Maffeneinlieferung von kleinen Geldscheinen auf sofortige Abfertigung nur rechnen können, wenn die Geldscheine übersichtlich sortGrt und qebündet sind. Im andern Falle würde das übrige Publikum vorweg abgefertigt werden. Zur. rascheren Abwicklung des Geschäftsverkehrs können die Steuerpflichtigen, die insgesamt weniger als das Sechsfache des einfachen Fernbriefportos zu ent richten haben, die fällig gewordenen Beträge auf später, längstens in zehn Tagen nach dem Fälligkeite- termin, zahlen, ohne Verzugszuschläge usw. befürchten zu müssen. Für alle Zahlungen, die mit Post- anweisung, Zahlkarte oder Postscheck eingehen, ist nicht der Tag des iEnganges bei der Finanzkasse, sondern der Aufgabe- oder Eingangstag bei der Poft maßgebend. Städtische» Notgeld. Um dem Mangel an Zahlungsmitteln abzuhelfen, die der jetzigen Geld entwertung entsprechen, hat der Rat vom 13. Okt. 1923 an Gutschein« heransgegeben, die auf 500 Mil lionen Mark lauten. Buchdruckertarif uud Buchdrirck^chlüflrlzahl. Der Deutsche Buchdruckcrverein teilt mit: Dr« Tarif- kommisson der deutschen Buchdrucker einigte sich für die laufende Woche zur Zahlung einer Ausgleichs- bcihilfe von 2 Milliarden in der Spitz», zahlbar bis Dienstag, den 16. Oktober. Auf den Lohn ab 13. Oktober ist am Freitag, den 19., ein Vorschuß von 6 Milliarden zu zahlen. Die endgültige Fest setzung des Lohnes für die Woche ab 13. Oktober er folgt Donnerstag, den 18. Oktober. Die Schlüssel- zahl für das deutsche Buchdruckgewerbe betrügt 35 Millionen ab 13. Oktober. Stadtverordneteuwahl. Im amtlichen Teil der vorliegenden Nummer finden unsere Leser alles Wissenswerte über die Stadtverordnetcnwahl. Bei der Wichtigkeit der Bestimmungen ist es angebracht, die Nummer aufzuheben, damit man sie bei Zweifels fällen sofort zur Hand hat. »rutsch« Demokratische Partei. Sonntag, 14. Oktober, vormittags 1411 Uhr, in der Geschäftsstelle, Göschen- stratzc 22: Berich« über die politische Loge sRednrr: Ainanzminister a D. Dr. Reinhold). Alle Partei mitglieder yaben Zutritt. — Montag. 15. Oktober, abends 8 Uhr, in der Geschäftsstelle Liyimg des Wahlausschusses i Ltadtverordnetenwahl >. Die Allgemeine Ortskrankenkasse sür die P«adt Leipzig verösfentlicht in der Yenligen Nummer eine Bekannt- machung, nach der sich der für die Berechnung der Bei träge und Leistungen maßgebende Multiplikator in der Woeuc vom 15. bis 21. «Oktober »923 auf «0 erhöht hat Gleichzeitig werden die neuen Beiträge für di« Inda- lidenversicherimg dekanntgegeben. Plünderungen i« der Leipziger Markthalle Ver Sturm auf die Kartoffeln Di« Kartoffel ist auf dem städtischen Markt fast gänzlich verschwunden. Nicht etwa darum, weil die Ernte unzureichend ist, sondern weil das unver nünftige Gebaren eines großen Teiles der Stadtbevölkerung den Bauern abhält, seine Ware auf den Markt zu bringen. Es ist wiederholt vorgekom men, daß Kartoffeltransvorte an der Stadtgrenze von sogenannten „Kontrollausschüsscn" beschlagnahmt worden sind. Hierbei ist es zu Reibereien mit den Wagenführern gekommen, die nicht gewillt waren, die Kartoffeln preiszugeben. Ist es unter diesen Um ständen der Landbevölkerung zu verdenken, wenn sie sich nicht länger der Gefahr aussetzen will, für ihren Willen zur Kartosfelbelieferung Prügel als Bezah lung zu empfangen, und der Ware, die oft nicht ein mal mehr ihr Eeizentum ist, verlustig zu gehen? Wir berichteten bereits über mehrere Fälle, die sich im Laufe des Freitags in Leipzig ereigneten. Hierbei war es zwar ohne Mißhandlung dec Wagenführer abgegangen. Die Menge hatte sich aber nur durch da» tatkräftige Einschreiten der Polizei von einer „Beschlagnahme" der Kartoffeln abhalten lassen. Auch am Sonnabend kam es an einigen Stellen der Stadt zu erregten Szenen. Verschiedentlich wurden Kartoffeltransporte, die für Gastwirtschaften sowie Privat-Haushaltungen bestimmt waren, angehalten. So z. B. in der Iohannisgasse. Ein Bauer war mit seinem Geschirr nach Leipzig gekommen. Die Ladung bestand aus Kartoffeln, die in Säcken verpackt, i.eist ! Leuten der arbeitenden Schicht der Bevölkerung zu geführt werden sollten. Die Ware war bereits be zahlt. Kaum hatte der Mann damit begonnen, die Kartoffeln abzuladen, als sich eine große Menschen- menge ansammelte, die forderte, daß die Kartoffeln verteilt würden. Mit Hilfe der Polizei konnte Wagen und Lgdung in einem Gehöft in Sicherheit gebracyt werden. Der Zugang zu dem Gehöft wurde abge sperrt. Noch stundenlang belagerten die Leute den Hof. Im Interesse der Kartoffelversorgung unserer Stadt wäre es erwünscht, wenn derartige Akte der Selbsthilfe unterblieben. Gewiß, die Not ist groß und Hunger tut weh. Deshalb darf ober durch das Vorgehen einzelner Personen nicht die gesamte Ernährung der Stadt in Frage gestellt werden. Ganz zu verwerfen ist es, wenn zu Pliinde- rungen geschritten wird, wie es Sonnabend mittag in der Markthalle geschehen ist. Schon in den Morgenstunden hatte sich unter den Besuchern der Halle eine recht aufgeregte Stimmung be- merkbar gemacht. Da dies in der Zeit der täglichen Preissteigerung und der Kartoffelknappheit nichts Außergewöhnliches ist, legte man der Sache keine oe- sondere Bedeutung bei. Erst gls sich immer mehr Leute ansammelten, denen man ansah, daß sie sicher nicht zum Einkäufen in die Halle gekommen waren, wurden die Händler stutzig. Es war jedoch bereits zu spät. Wie auf ein gegebenes Zeichen stürmten mit einem Male Burschen auf d i e G a l e r i e, wo sich die Stände der Bittter-, Fett- und Margarinehändler befinden. Hundert Hände griffen nach den qusgelegten Fettwaren. Als tie Händler merkten, um was es sich handelte, machten sie gute Miene zum bösen Spiel. Sie boten, dem Zwang gehorchend, ihre Waren den Anstürmendrn dar. Sie erhoben auch keinen Einspruch, als ihnen die Ware ohne Bezahlung ans den Händen gerissen wurde. Die wenigen Beamten, die den Verkehr in der Markthalle beaufsichtigen, waren dem Ansturm der Massen nicht gewachsen. Sie mußten ten Dingen ihren Lauf lassen. Als dann die grüne Polizei anrückte, wurde sie mit Hohnrnfcn empfangen. Die Rädelsführer aber waren längst v e r s ch w u nd e n, so daß sie nicht festgenom men werden konnten. Zusammenstöße ernsten Charak ters ereigneten sich nicht. Die Menge der Neugieri gen leistete der Aufforderung der Polizei, weiterzu gehen, Folge. Zwar mußten die Beamten anzügliche Redensarten einstecken, sie ließen sich jedoch von den Schreiern nicht aus der Ruhe bringen. In wenigen Minuten waren die Straßen um die Halle geräumt, da» Gebäude selbst besetzt. Diese Sicherheitsmaßnahme wurde auch am Nachmittag aufrechterhaltcn, da sich die Markthallenstandinhaber weigerten, ohne genügen« den Schutz feilzuhalten. * DieprelSprüfungsfieNe beaniraqt Herabsetzung der Preise Die Leipziger Prei»prüfung»stelle hat an die Reichsregierung, die sächsisch« Regierung und auch an den Landbund Anträge gerichtet, daß ei« Herabsetzung der Erzeugerpreise für Kartofseln ersolge. Sie hat serner wegen Fracht ermäßigung Schritte bei der zuständigen Stelle getan. * Markthallen-Wanderung Der Gefrierf leischmarkt hatte Sup penfleisch zu 240, Nippe zu 260, Keule mit Kno chen zu 280, Keule ohne Knochen zu 360 und Ge hacktes zu 300, der Frischfleischmarkt Rindfleisch zu 320, Schweinefleisch zu 440, Ham melfleisch zu 320, Kalb- und Ziegenfleisch zu 260, ein Pfund Leber- oder Blutwurst zu 600 und ein Pfund Knack- oder Mettwurst zu 640 Millionen ausgestellt. Auf dem Gemüsemarkt waren nur wenige Käufer erschienen. Rotkohl wurde für 30, Blumenkohl für 60, Weißkohl für 25, Toma ten fiir 45, Bohnen für 45, Pflaumen für 25, Tafelüpfel fiir 65, Musäpfel für 35, Tafelbirnen fiir 70, Kochbirnen fiir 40, Möhren fiir 18 und Salat fiir 6 Millionen verkauft. Den regsten Berkehr hatte der Fischmarkt aufzuweisen. Hier kosteten ein Viertelpfund Bücklinge 60 und je ein Pfund Glodbarsch 90, Seelachs 100, Schellfisch l40, Kabeljau 140, Karpfen 150 und grüne Heringe 60 Millionen Mark. Auch auf der Fettgalerie waren viele Käufer erschienen. Molkereibutter war für 1800. ein Pfund Margarine für 600, amerikanisches Schmalz für 700, Limburger Käse für 600, Til siter Käse fiir 1000 und ein Stück Backsteinkäse für 10 Millionen ausgpstcllt. Kolonialwaren, Kartoffeln und Eier waren auf dem Markt nicht erschienen. Biersteue». Nach einee Bekanntmachung de» Hauptzollamtes Leipzig haben Bierhändler, Wirte? Konsumvereine, Kantinen, Kasinos, Logen usw., die am 15. Oktober 1923 mehr als 2 Hektoliter Bier be sitzen, bis zum 20. Oktober 1923 ihren gesamten Be stand ungekürzt bei dem zuständigen Zollamt zur Nachversteuernng anzumelden. Wir verweisen herbei auf die heutige Bekanntmachung im amtlichen Teil. t . — - - vom Schamgefühl der Zrau Ss gk-t typische Fälle des Liebeslebens, mit denen man sich öffentlich beschäftigen muß. Denn sie sind Probleme. Die Frage der weiblichen Tugend und des Leiblichen Schamgefühls ist ein Problem, das auf größt« Diskretion und feinstes Takt gefühl Anspruch erheben sollte. Und dennoch wird davon am öffentlichsten und im brutalsten Tone ae- sprachen. Es gibt überspannte Feministen, die die geschlechtliche Aufklärung in einem Maße verkünden und fordern, daß sie damit vollkommen jenen wert vollen Schatz ausrotten, den auch wir Männer ge- wöhnlich erst dann richtig cinzuschätzen verstehen, wenn wir ihn schon selbst beschmutzt haben: das Schamgefühl d«r Frau. Ich werfe zwei konkrete Fälle in die theoretische Polemik. Sie mögen von jenen betrachtet werden, die dem Schamgefühl der Frau gar keine Bedeutung beilegen. In einer Provinzstadt spielte sich ein skandalöser Scheidungsprozeß ab. Mann und Mäd chen waren ineinander bis über beide Ohren verliebt. Das Mädchen entstammte einer vornehmen Familie und es hatte ein« tadellose Vergangenheit. Der Mann ließ sich dennoch schon nach den ersten Tagen der Flitterwochen von ihr scheiden. Al» Ursache gab er an, daß er vor seinem Ideal einen Ekel be- kommen hat, weil er bei diesem nicht jene weibliche Schamhaftigkeit vorgefunden hat, die auch zur I l l u- sion der Ehe gehört. Und dabei hatte das junge Mädchen die Aufklärung nur von ihrer Mutter er halten. Den -weiten Fall teilt mir ein B r 8 u t i - a m im folgenden Briefe mit: „Ich bin mit einem svmpa- thüchea Mädchen bekannt geworden. Ich beschloß, sie zu heiraten. Wir setzten den Derlobungstag fest. Ich war mit meiner Braut nie allein. An dem der Verlobung vorangehenden Nachmittag ließ man uns allein. Ich küßte ihr als Bräutigam, wenn auch mit schwerem Entschluß, die Hand, mit jenem verlegenen edlen Gefühl, da« ein beflerfüylender Mann in einem solche Falle empfindet. Nicht nur, daß meine Zu künftige von meinem Kuß nicht verlegen wurde, siel sie mir sogar, noch bevor ich es getan hatte, um den Hal», küßte mich auf den Mund, auf die Stirne, schmiegte ihr Gesicht an das meine, und sagte: „Welch «in angenehmes, glattes Gesicht Sie haben." L» überkam mich plötzlich ein Gefühl, al» würde eine Kokotte neben mir fitzen. Mit einem Dort, ich wurde schrecklich ernüchtert.. Ich reiste unter iraendeinem Vorwande noch am selben Tage ab nnd schrieb tags darauf meinen Absagebrief." Und nun fragt mich der ernüchterte Bräutigam, ob er hierzu Grund gehabt hat. Die gerechte Ant wort hierauf wäre vielleicht die, daß er zum Bruche wohl einen Grund, aber kein Recht gehabt hat. Di« Mädchen können aus solchen Fällen jedenfalls die Lehre ziehen, daß sie sich, wenn sie im Leben glücklich werden, und besonders wenn sie sich glücklich ver heiraten wollen, hüten mögen, jene Theorien ernst zu nehmen, welche die Frauen den Männern gleich machen wollen. Denn die Mehrzahl der Männer klammert sich noch immer an jene schönen Lügen, die die Poesie von den Frauen verbreitet. Man darf nicht vergessen, daß der Großteil der Männer die Liebe von schamlosen Frauen erlernt hat. Um so eher verlangen sie daher das Schamgefühl von jenem Weibe, da» sie zur Frau nehmen wollen. Am meisten sündigt manchmal gegen das Scham gefühl die Mode. Wer würde aber wagen, den Frauen zu raten, sich nicht so sehr zu dekolletieren? Ich getraue mich höchstens ihnen ein unschuldiges Märchen zu erzählen: Ls lebte einmal ein sehr schöner, junger Sultan, der heiraten wollte. Die Kunde hiervon verbreitete sich durch alle Länder de» Ostens, und aus allen Richtungen der Windrose kam man zu ihm. Reiche Paschas und arabische Häuptlinge brachten ihre schönen Töchter mit viel Gold und Brillantschmuck. Dann kamen die Sklavenhändler mit herrlich schönen Odalisken. Auch die Frauen wetteiferten miteinander um die Gunst des Sultans. Alles boten sie auf, um ihn zu erobern; mit Gesang und Tanz lockten sie ihn und verrieten auch all ihre versteckten Reize. Kühl betrachtete der Sultan die herrlichen Alabasterglieder und er wendete sich plötz- lich an eine kleine Odaliske, di« bescheiden vor ihm saß: „Dich nehm, ich zur Frau!" Allgemeine Be stürzung. Der Sultan lacht. „Weshalb sollte ick mir diese nehmen, die mir umsonst alle ihre Reiz« -eigen? Ich nehme mir diese Verschämte, denn auf die bin ich noch neugierig! ..." X. Leipziger Konzerte Jan Dahmen, den ehemaligen Konzertmeister der Dresdner Philharmoniker, habe ich einmal das Beethovensche Violinkonzert so spielen hören, daß wan aufhorchte und sich den Namen auf das kleine Blatt der zu großer Kunst Berufenen notierte. Das war r» «Hern mit diesem Jan Dahmen? -r fpiette Bach «nd Mozart, also höchste Wertmesser für das geistige Gestaltungsvermögen, nnd spielte von Kreis- ler «in Schaustück virtuoser Akrobatik, ferner Sachen von Poganini und Sinigaqlia, die durch das Tempe- rameut eines blühenden, zigeunernden Munkanten- tums himmlische Raserei aufflammen lassen. Dahmen spielte das alles recht nüchtern, ledern und technisch nicht einmal zuverlässig. Vielleicht sprachen irgend- welche Stimmungsimponderabilien mit, vielleicht aber, und das scheint mir gegeben, ist hier ein be deutendes, frühreifes Talent verschüttet worden — man weiß nickt wie —, vermutlich weil Ehrqett und Selbstkritik miteinander nicht das Glcichgegwicht ge- halten haben. 8. Bei Albert Hofmann sind Ansätze zu ener gischer, großgliedernder Gestaltung vorhanden, wenn auch zumeist Mittel des einfachen Kontrastes ange wandt werden. Es ist noch viel Unruhiges und Un ausgeglichenes in seinem Klavierspiel, vor allem -uch «ine sehr freie Rhythmik. — Emil Frey hat etwas sehr Eigenartiges in seiner Klavierinterpretation: ein Pathos von Perhaltenheit, dann ein plötzliches Aus- stchherausgehen nnd ein Wiederzurllcksinken; eine Herbheit, die die Klangvracht zugunsten des Gedank lichen in der Musik einschränken will; eine Klarheit, die mit wenigen Mitteln deutlich spricht. — Ignaz Friedman gab einen Lhopin-Abend, der im Pu blikum zündenden Beifall auslöste. Das Technische erscheint bei ihm bisweilen spielerisch übertrieben. D e musikalische Linie wird in großer Dramatik ge zeichnet, unter Betonung von Einzelheiten, die leicht zu bewußt werden. Einen starken Eindruck machte die Behandlung der Etüden. Zn jeder war der charakteristische Impuls ganz persönlick erfaßt und -um Greifen deutlich gestaltet. — Ls gibt Pianisten, die über sich selbst hinau» da» ganz unmittelbare Erleben «ine» Kunstwerk» vermitteln, die die Auf- merksamkeit de» Hörers so auf da» Werk richten, daß man diese» selbst in seinen großen Linien sich entwickeln und wachsen sieht bi» zu jener Geschlossen heit, die Klingende» mit eben Erklungenem zu einem Ganzen vereint. Lin solch großer Kunstvermittler ist Walter Dieseking. Der Eindruck seiner Zugabe, der letzten Beethovensonate, überragte den ganzen Abend. , k. X. * Dorothea Schröder hat einen autgebildeten, kraftvollen Alt von sympathischem Klang. Theo Mackeben begleitete korrekt, bi»weilen etwa« auf- dringlich. I. von Wertheims sechs Liedchen wurde die Nmtzbarfchaft »on Brahm» und Hugo Wolf zum Verhängnis. Neben der Sängerin tonnte Lar! Herrmann fiir sein klangschönes, von innigen, Empfinden getragenes Violaspiel den herzlichen Dank der zahlreichen Zuhörerschaft cntaegennehmen. — Die Darbietungen des LeipzigerBoknlqn artet ts bewegten sich, ohne nach irgendwelcher Richtung etwas Besonderes zu bedeuten, auf gewohnter Linie. Mit weicher und anbenchm klingender Sopranstimme sang Elly Opitz, im Vortrag freilich etwas obenhin, zwei Lieder von Reger und Strauß. Karl Schön- hcrr begleitete und trat auch solistisch hervor. — Das erste Iugendkonzcrt — übrigens durchweg von Erwachsenen besucht — hatte infolge eines Aufgebotes an wertvollen künstlerischen Kräften einen schönen Erfolg. Mit schlichter und natürlicher Empfindung sang Frau Peiseler-Schmutzler sieben Kin derliedchen, klar und sauber spielte Frau Kröber - Asche zwei Stücke für Klavier, und als Vortrags- künstler bewährte sich Zeise - Gött in einem aller dings geringwertigen Melodram „Die Nachtigall" von Winternitz, dessen Klavierpart Liebermann- Roßwiese am Flügel aueführte. 6. Professor Einstein ist eingeladen worden, an der Universität von Montevideo Vorlesungen über die Relativitätslehre zu halten. Zum Gedächtni» der Entdeckung Amerika». Aus Berlin wird gemeldet: In der Aula der Berliner Universität fand heute vormittag das von den hiesi- gen spanischen und deutsch-spanischen Organisationen veranstaltete Rassen fest der spanisch sprechenden Völker zum Gedächtnis der Entdeckung Amerikas statt. Mch Begrüßnngeworten des Rektors der Universität, des Geheimen Rats Dr. Hefter, gedachte der argen- tinische Generalkonsul Landioti in deutscher und spa nischer Sprache der Bedeutung des Tages. Nach Bor trägen von Dr. Rohrbach und Dr. Greif, in denen auf die herzlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den spanisch sprechenden Nationen hingewiesen wurde, wurde die Feier durch eine An sprache des spanischen Geschäftsträger» Gardenas ge- schloffen, der dem Wunsche Ausdruck gab, daß die ideelle Vereinigung der spanisch sprechenden Völker dem Frieden der Welt dienen möge. Unter sehr zahlreichen Teilnehmern befanden sich neben, dem diplomatischen und konsularischen Vertreter Spanien» und der spanisch-südamerikanischen Staaten u. a. der Reichspräsident, der Oberbürgermeister von Berlin sowie Angehörige des Auswärtigen Amtes und de» Preußischen Ministerium» für Wissenschaft und Kunst,