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Nr. lvr. los. Jatzrvaug. IN Fabriken, Werktätte« und Bergwerken Gegen >0 000 kleine Mädchen sind dort gegenwärtig in der Bauinwollenlndustri« beschäftigt. In den vereinigten Staaten gibt e» allein 24 000 Kinder, die in Berg werken tätig sind. Liegen bei un» in DeullchianL dr« Verhältnisse ,n dieser Beziehung auch viel besser, so gibt e» doch noch genug Ucbclstande, ganz besonder» auf dem traurigen Gebiete der Heimarbeit. Bc, den Kindermißhandlunaen dürfen wir aber nicht nur an Vie Nöte Lenken. bei denen der körper in erster Linie leibet. Evenso schlimm ist der schmerz, den osi nur das Gemüt zu tragen hat. Wir denken hierbei an allerlei moralische Demütigun gen, denen Kinder so oft ausgesetzt sind, ,erner an Kränkungen ihrer Ehre, an die Furcht, die man ihnen oft unnötigerweise einjagt, an den Zynismus, init dem man ge nicht selten behandelt. Alle diese Er ziehungsfehler, ebenso wie die zuerst angedcntetcn Mißhandlungen entspringen im letzten Grunde einer einzigen Quelle, nämlich der verkehrten Anschauung über Ellern, und kindesrecht, dem Unverständnis in pädagogischen Dingen, der mangelnden Einsicht, der krossen Gleichgültigkeit, der Lieblosigkeit zum eigenen und fremden Kinde. Viele Eltern find sich eben der hohen Bedeutung und Pflichten ihres „königlichen Amtes" als Erzieher jo gar nicht bewußt. Und dieser Vorwurf trifft nicht nur die niederen, sondern auch die gebildeten Kreise, die häufig die Erziehung frem den bezahlten Leuten übertragen und so manä-e andere Interessen dem Geschick ihrer eigenen Kinder vor gehen lassen. Und doch, wie bedeutungsvoll werden die Kinder- Mißhandlungen dem einzelnen Menschen, der ganzen Menschheit. Muß nicht das mißhandelte Kind zuletzt verbittert gegen pch selber, gegen seine Peiniger iverden? Wird sich sein Herz nicht immer mehr ver härten und wird ern solcher Mensch nicht geneigt wer den, wie manches ist nicht schwachsinnig geboren, son- handeln? Es ist auch hier der Auch der bösen Tat, daß die Roheit neue Roheit schafft und eine Kette von neuen Uebeln herausbeschwör!. Wie viele Kin der werden ferner körperlich und seelisch zugrunde gerichtet! Wie viele werben aus die abschüssige Bahn des Lasters getrieben! Wie manches Kind ist schon zum liechen Menschen, zum Krüppel geschlagen wor ben. wie mnchcs ist nicht schwachsinnig geboren, son dern durch beständige Mißhandlung schwachsinnig ge worden Durch die Mißhandlungen werden unwider. dringliche Werte vernichtet, oas Kind wird für seine Eharakterenlwictlung wie für seine wirtjkt-aftlrchc Existenz gleich schwer geschcidigt, und der gesamten Volkskraft werden dadurch die schwersten Wunden geschlagen. Was ist zu tun, um diese traurigen Erscheinungen aus der Welt des Kindes hinwegzusci)ofsrn? In der Hauptsache hätte zweierlei zu geschehen. Einmal muß auf eine andere Auffassung von den Er- zichungspf lichten hingearbeitet werden. Heute ist diese Auffassung vielfach zu lax und zu ver kehrt. Auf der einen veite werden unsere Kinder verweichlicht, vergöttert, zur Raiestäl des Hauses ge macht, auf der andern werden ibre selbstverständlich, sten, natürlichen Rechte mit Füßen getreten. Beide Extreme sind gleich falsch. Eine ernste Anschauung von der Erziehungshflicht muß wieder zur Geltung kommen, die in der Liebe und Ansicht auch die rechten Erziehungswege finden wird. Das Jahrhundert des Kindes hat das Interesse für allerlei Erziehungs- sragen mächtig erregt und gehoben, und man könnte sich wohl der Hoffnung hingcbcn, daß davon das Kind auch für unser Thema profitieren wird. Sodann hat aber auch die Gesellschaft, ferner aber auch der Staat, noch besondere Aufgaven zu erfüllen, k i n- derschutzgesetze haben wir zwar, allein sie stiften noch nicht Len «egen, den sie stiften könnten. Sie müß- tert oft noch viel schärfer durchgeführt werden. Befremd lich erscheinendem natürlichen Empfinden auchdre mil den Strafen, mit denen manchmal teuflische Roheiten und boshafte Quälereien Kindern gegenüber geahndet werden. Wenn irgendwo, so wäre hier eine ganz ge hörige Strafe als Abschreckung für andere Rohlinge durchaus am Platze. Auch den Kinderschutzacsellschas len wäre eine größere Ausdehnung zu wünschen. In England hat sie große Erfolge aufzuweisen, weil ihr Leipziger Tageblatt. reiche materielle Mittel zufließen In Deutschland ist damit zwar auch schon ein Anfang gemacht, allein die private MUdtäligkeit muß hier noch viel mehr Opfer bringen, als sie es augenblicklich tut. E» geht in vielen Dingen ein sozialer Zug durch unsere Zeit; die Erziehung besinnt sich immer mehr darauf, daß sic den Menschen in seinem Verhältnis zu den anderen im Auge behalten muß, daß der BUS auf das Ganze der Menschheit zu richten ist. Möchte daher auch das Mitgefühl für bas leidende Kind mehr als bisher gewertet werden. Der Zentrnloerbsnü üer Ortskrankenkassen im Deutschen Kelche. Dresden, 13. Juli. Der Zentralverband der Ortskrankenkassen im Deutichen Reiche hat »unmehr seine Verhandlungen abgeschlossen. Eine längere Debatte entwickelte sich noch für und gegen die freie Acrztcwahl Ter Vorsitzende der Leipziger Orrstrankcntasse. Herr Pollender, wandte sich besonders gegen die Aus sührungcn des Lnnstagsabgeordne!en Fräßdors- Dresden, der geiag» habe, daß die Leipziger Ortskrankenkasse die dortigen einigecmahen günstigen Bedingungen nur dem Widerstande der übrigen Organisationen gegen die freie Aerztewahl zu nerdanken hätte. Wenn cs nach Herrn Fraßdorf ginge, dann bestände auch in Leipzig keine freie Acrztcwahl und leine Familicnbehandlung durch die Kassenärzte. Herr Fraßdorf sei der Meinung, daß jede Kasse freie Wahl bezüglich ihres ärztlichen Systems Halen solle, er verarge es aber den Leipziger», wenn sG sein Evangelium nicht »achdete». Die Leipziger jollien sei» säuberlich de» Mund halten, das sei die Frei heil, die er meine. Er müsse jedenfalls jeststelien, daß die Mehrzahl der in Leipzig angeschlosienen Kasse» die freie Aerztewahl habe. Er halte cs für seine Pflicht, die Erfahrungen der größten deutschen Ortskrankenkasse hier zur Kenntnis zu bringen. Die Frage sei jedenfalls die, welches System sich am besten mit der Fürsorge für die ermerbsunsähigen Arbeiter vertrage und auf welche Weise man oie meisten Ersparnisse erzielen könne. Die Ausführungen des Redners wurden teils mit Wideripruch, teils mit Beifall ausgenommen. Hieran' wies auch Land tagsabgeordneter Fraßdorf in seiner Entgegnung hin, indem er hervorhob, daß die Mehrheit des Kongreßes die Auffassung des Herrn Pollender nicht teile. Seine Ausführungen hätten jedenfalls nicht den Zweck gehabt, eine freie Aeußerung der Mei nungen zu verhindern. Die Stellung der Aerzte- prcste und besonders ihre Verhimmelung Vollenders, sollten eigentlich zeigen, daß er auf falscher Führte sei. Im weiteren Verlaufe der Tagesordnung refe rierte noch Bureauvorstano Frenzel-Dresden über Haushaltplan und innere Einrichtung. Auch er besprach die neuen Vorschriften der Reichs- versicherungsordnung, nach denen auch die Kranken kassen einen Hausbaltplan aufstellen müßten. Not wendig sei es. daß die Ortskrankenkassen bei der Aus stellung der Haushaltpläne möglichst einheitlich vor gehen und dieselben möglichst übersichtlich gepalten möchten. Hieran schloß sich der Bericht des Tarif amtes und die Beschlußfassung über die fer nere Gestaltung der Tarifgemetnschaft. Hier über entspann sich eine lebhafte Debatte. 2m Ver lauf derselben wurde vorgeschlagen, Verhandlungen über eine den neuen Verhältnissen entsprechende Dienstordnung einzuleiten, wobei die Forderungen der Angestellten nach Möglichkeit berücksichtigt wer den sollten. Ein bestimmter Beschlug wurde jedoch in dieser Frage nicht gefaßt. Eine Anzahl Anträge der geschaftsführcnden Kasse auf Abände rung der Verbandssatzungen wurden ange nommen. Weiter beschloß die Hauptversamm lung, beim Bundesräte dahin vorstellig zu werden, daß dieser die Einführung gleichmäßiger Statistiken bei den Verbands kassen veranlasse. Der Antrag auf Gründung einer Verbandszeilung und einer Recht««»»- kunsts- und Beratungsstelle wurde abgelehnt. Zum Vorsitzenden wurde Landtagsabgeordneter Fraßdorf und zum Stellvertreter Arbeitgeberver treter Lauck ner gewählt. Die Wahl de» Kassen vorstandes Pollender-Leipzi^ war von der Kam- Mission mit Stimmengleichhett abgelehat worden. 2n seinen» Schlußworte dankte Landtagsabgeordneter FrShdorf den Ver- tretern der Behörde für ihr« Teilnahme an den Verhandlungen und wies darauf hin, daß der Zentralverband nicht Parteipolitik, sondern Sozial politik treibe. Sowohl die Vertreter der Arbeit geber als auch die Arbeiter selbst hätten sich in diesen Bestrebungen vereint und er hoffe, daß hier durch auch aus der Reichsversicherungsordnung Segen für das Volk fließen werde. Serlcktslsal. Reichsgericht. Leipzig, 12. Juli. rr. Die Berliner Unruhen am Wcddingplatz. Das Landgericht t in Berlin hat am 28. März den ver antwortlichen Nedalteur des „Vorwärts" Karl Wermuth wegen Beleidigung der Berliner Polizeibeamten zu einer Geldstrafe von 200 ./t ver urteilt. Die Beleidigung wurde erblickt in einem Artikel, der am 2. November v. 2. iin „Vorwärts" er schienen ist und Bezug nahm auf einen anderen, der am Tage zuvor unter der Ueberschrift „Knüppelgardisten" abgedruckt worden war. Strafantrag ift vorn Poli zeipräsidenten nur wegen des am 2. November er schienenen Artikels gestellt worden, nicht aber wegen des ersten mit der Ueberschrift „Knüppelgardisten". Aus Anlaß eines Streiks bei der Firma Morgenstern war es an» Wedding zu Ausschreitungen gekommen, welche von der Polizei unterdrückt wurden, lieber die hierbei von einzelnen Polizei beamten ausgellbte Tätigkeit berichtete in kritischer Weise der erste Artikel mit der Ueberschrift „Knüppel gardisten". Der zweite, allein inkriminierte Artikel vom 2. November sollte, wie der Angeklagte zuge standen hat, diejenigen Kriminalbeamten und deren Agenten treffen, die au jenen Tagen der Unruhen auf dem Wedding grundlos auf Passanten einjchlugen und diese mißhandelten, insbesondere aber diejenigen, welche an dein Ueberfall auf der Adolphstraße be teiligt waren. 2n diesem Artikel war im Anschluß an den vorhergehenden wieder von Knüppelgardisten die Rede. Diese Bezeichnung war aber nach Ansicht des Landgerichts nicht nur, wie der Angeklagte be hauptet, auf die im ersten Artikel bezeichneten Be amten gemünzt, sondern auf die Gesamtheit der am Wedding tätig gewesenen Beamten. Diesen hat — nach Ansicht des Gerichtes — der Angeklagte seine Mißachtung kundgeben wollen, indem er sie verhölste.n — Die Revision des Angeklagten kam heute vor dein Reichsgerichte zur Verhandlung. Der Ver teidiger Rechtsanwalt Wolfgang Heine rügte mate rielle und prozessuale Rechtsverletzung. — Ent gegen dem Anträge des Reichsanwalts hob das Reichsgericht das Urteil auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Wegen fahrlässiger Tötung war seinerzeit von der Strafkammer in Krotoschin der Vikar Kasimir Euzikowski zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden. Nachdem auf seine Revision das Reichsge richt das Urteil aufgehoben hatte, ist er am 19. April vom Landgericht Ostrowo zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Am 7. Mai 1910 war er nach Jarotschin gekommen, um an einem Begräb nis teilzunchmen. Der Propst Nikowski lud ihn dann zum Essen ein. Hierbei zeigte er ihm auf dessen Wunsch seine Pistole, die geladen war. Ehe er sie ihm gab, wollte er sie entladen. Dabei versah er sich, der Schuß ging los und traf den Propst so- unglück lich, daß die große Schlagader durchschlagen wurde und der Tod sogleich eintrat. — Die Revision Les Angeklagten gegen Las neue Urteil, welche Ver kennung der Fahrlässigkeit rügte, wurde vom Reichs gericht als unbegründet verworfen. §reusy. 14. IrM ISN. >»tr« schwersten Vr. dingungen. Vor dem Kriegsgericht halte sich der Ver treter des Sächsischen Milltärversicherungvoereins in Dresden, der Ooerlcutnant der Landwehr Adolf Theo dor August See deck in Gohlis wegen Herausfor derung zum Zweikampf mit tödlichen Mafien. Pisto lenforderung bi» zur Kampfunfähigkeit eine» der Gegner, zu verantworten, währeird der Prokurist und Leutnant der Reserve Johanne« Müll« r»K lebe» des Kartelltraaens angeschuldigt war. Am 9. Oktober vergangenen Jahres hat der Haupt agent Viktor Gützlaff, Vertreter der Leipziger Lebens versicherungsgesellschaft, an die Direktion -es Sächsi schen Mllltürversichcrungsverei»»« einen Brief ge schrieben, in dem er dem Herrn Eeedeck den Vorwurf machte, Laß er bei dem Abschluß einer Versicherung mit einem Zahnarzt B. betrügerische Manöver in Anwendung gebracht habe, um den V. zum Abschlüsse der Versicherung zu bestimmen. Dieser Brief schloß mit der Wendung: „Ich erwart« umgehende Antwort, wie Sie Liese betrügerischen Manöver zu verhindern gedenken und wie Sie mich entschädigen wollen, da ich durch die Hintertreibung zweier fest zugesagter Ab schlüsse über i« 10 000 eine Provision von 220 eingedüßt have." Die Direktion sandte diese»» Bries an ihren Vertreter Seebeck, der daraufhin Beleidi aungsklage gegen Herrn Gützlaff vor dem hiesigen Amtsgericht anstrengte und ihm Lurch den Prokuristen Müller-Klebes eine Pistolenforderuna unter den schwersten Bedingungen überbringen ließ. Der Ge forderte hat diese Herausforderung abgelehnt nut dem Hinweise, er sei zu alt. Die Beleidigungsklage wurde vor dem hiesigen Amtsgericht durchgeführt und endete mit der Verurteilung des Beklagten Gützlaff zu einer Geldstrafe von 100 und Tragung der Koste,!. Der Gerichtshof ist zu Ver Ueberzeugung ge kommen, daß Gützlaff eine erweislich unwahre Tat sache in bezug auf Len Privatkläger behauptet hat. Die Beleidigung war so ziemlich die schwerste, die man einen» anderen in geschäftlicher und gesellschaftlicher Beziehung machen kann. Der Schutz des 8 103 des Relcksstrafgejetzbuchcs konnte dem Angeklagten nicht zugeoilligt werden, das Motiv, von den» er sich ho» leiten lassen, war nichts anderes wie Gcschüflsneid; das geht daraus hervor, daß er sich nicht an seine eigene Direktion, sondern an die Tsirektion des klä aers gewandt und daß er eine Entschädigung ge fordert hat. Es ist erwiesen, daß er im Unrecht war, wenn er meinte, der Kläger hatte di« Versicherungs bedingungen, die er dem B. angebotcn hat, selbst zu fammengestellt, sie waren ihm vielmehr von seiner Gesellschaft «ingesandt worden. Der Beklagte Hal diese seine Verurteilung mit dem Rechtsmittel der Berufung an das Landgericht anaearifsen. Er ist vom Landgericht indessen kostenpssichtig abgewiesen I worden. Er legte dann Revision beim Oberlandes f gericht Dresden ein, aber auch diese höchste Instanz c konnte in dem Urteile keinen Rechtsirrtum erblicken und wies ihn unter Auferlegung ver Kosten ab. Bo» dem Kriegsgericht gab der Angeklagte Seebeck ohne weiteres zu, daß er an Gützlaff die Pistolensorderung durch seinen Mitangeklagten Müller habe ergehen lasten, und der Angeklagte Müller erklärte, daß er in Anbetracht der Schwere der Forderung keinen Ver such gemacht habe, eine Provokation bcrbeizusühren. Der Vertreter der Anklage trat dafür ein, daß der Gerichtshof nur sehr wenig über das gesetzlich vor gesehene Mindestmaß der Strafe h.inausgehen möge denn den» Angeklagten sei in seiner Eigenschaft als Offizier bei der Schwere »der Beleidigung nichts anderes übriggcblieben, als den Beleidiger zum Zweikampf zu fordern. Der Angeklagte Müller aber sei seiner kameradschaftliche« Pflicht nachgekommen, als er die Herausforderung an den Beleidiger über brockt habe. Der Gerichtshof verurteilte, dielen Ausführungen folgend, den Angeklagten Seebeck wegen Herausforderung zum Zweikamps mit töd liehen Waffen gemäß dem ß 201 des Rcichsstraigesetz buches zu drei Tagen Festungshaft, de" Mitangeklagte,'. Müller wegen Kartelltragens im Sinne Les 8 203 zu einem Tage Festungs haft. Die Angeklagten erklärten beide, sich bei ihrer Beurteilung beruhigen zu wollen. (Fortsetzung in der 1. Beilage.) Ler Lsmpsmle. Zur Einweihung des Neubaues des Glockenturms von S. Marco. Von Dr. Hans Hastelkamp. Flachdruck verboten.) Hunderte und aber Hunderte von Elockentürmen zieren Italiens Städte, aber wenn man vom „Cam panile" spricht, jo weiß alle Welt, ükß damit nur einer gemeint ist und sein kann. Wie dem Alter min Rom Urbs, di« Stadt schlechthin war, so gilt »ns Ler Campanile von S. Marco zu Venedig als der Glockenturm aller Glockentürme; und als er vor nun neun Jahren, am 14. Juli 1902, in sich zusammensank, da ging durch die ganze Kulturwelt ein Gefühl, als habe jeder einzelne etwas Teures und Kostbare-» verloren. Woher dieser Ruhm? Woher dies« ein zige Stellung? Der Campanile war für Venedig, was die Petcrskuppel für Rom ist: ihr Wahrzeichen, i!,r monumentales Wappen. Der Engel, der seine höchste Spitze bekrönte, winkte d«m Schiffer, der die Zauberjtadt in den Lagunen ansteuerte, ihren elften Gruß zu, und wenn er sie verließ, so war er das letzte, was er von ihr sah. Vor dem erstaunten Auge des modernen Reisenden, der durch die flache Binnen lagune über den langen Eisenbahndamm «rwartungs voll Venedig zurollte, tauchte mit einem Male, wie aus dem Meere selbst, dieser schlanke Turm auf, dem Maste eines draußen verankerten Schiffes gleichend, lind wenn er dann endlich seine Ungeduld befriedigt ilih und »m lustigen Treiben der Piazza vor dem tief goldig leuchtenden, hochausstredenden Bauwerke stand, dann ergriff ihn eine tiefe Bewunderung für die künstlerische Weisheit, die dies Monument, die es gerade so und hier geschaffen hat. Wie stark und wuchtig wirkten nicht seine strengen, fest zusammen gehaltenen, nur durch di« zierliche vorgelagerte Log- getta und das elegante Obergeschoß freier de»»xgtcn Formen als der Gegenakzent zu der malerischen, üppigen, aujs reichste ausgelösten Laumaste der Markus-Basilika! Wie wundervoll ward di« ruhende Breite der l^errlichcn Doppclplatzanlag« Lurch diese kühne Vertikale ausgeglichen und gehoben zugleich! Mit feinem Verständnisse, wenn auch gesucht im Ver gleiche hat Nietzsche die künstlerische Wirkung des Campaniles besungen: Du strenger Turm, mit welchem Löwendrange Stiegst du empor hier, siegreich, sonder Müh'! Du überklingst den Platz mit trefem Klange — Französisch, wärst du s«in »eeorrt «igu! Was aber schließlich dem Campanile seine letzte und höchste Schönheit gab, das war seine historische Weih«. Ein Jahrtausend blickte hier auf uns herab! Dieser stolze schlanke Turm war Zeuge jener blühen den Glanzzeit des venezianischen Lebens gewesen, die uns heut« wie ein köstliches Märchen dünkt. Er hatte auf Otto III. und Friedrich Rotbart herabgeschaut. Er hatte Lionardo, Tizian, Dürer und wie viele Fürsten der Kunst zu seinen Füßen wandeln sehen. Von seiner Höhe aus hat Goethe zum ersten Male, beglückt und ergriffen, das offene Meer mit leib lichem Auge erblickt. Nicht die Italiener allein, alle Völker haben an seinen Erinnerungen teil. Ein Jahrtausend — ja, merkwürdig genug: ge rade ein Jahrtausend l)«tte der Campanile hinter sich, als er an jenem Iulitage des Jahres 1902 sich in einen formlosen Schutthaufen verwandelt«. 902 ward, bereits an derselben Stell«, der erste Glocken turm errichtet, ein bescheidener Holzbau; ein riesiger Holunderbaum soll zuvor an seinem Platze gestanden haben. Die Venezianer hatten sich damals der un- sckstrtzbaren Reliquie Les Leichnam» des heiligen Ma-rkus versichert und ihn in einer Basilika geborgen, als deren treuer Wächter und Begleiter der Turm zu dienen berufen war. Erst mehr als zwei Jahr hunderte später ging die stolz aufstrebende Republik daran, nachdem sic die Basilika prächtig erneuert hatte, nun auch den Campanile neu und letzt massiv oufzubauen. 1148—1155 bekleidete Domenico Moro- sini das Dogenamt; in seiner Grabschrift rühmt er sich: „Unter mir wird da» Wunder werk des Campanile von S. Marco errichtet". Der Glockenstuhl ward erst später vollendet, und zwar vor erst noch als Holzbau. Ein Wunderwerk war es freilich: aus einem Pfahlroste stand es im Meere und ragte in den Himmel. 1388 traf ihn zum ersten Male ein Blitzschlag; 1403 fraß zum ersten Male eine Feuersbrunst an ihm: es war dei der großen Illumination, die Venedig aus Anlaß des Sieges Carlo Zenos über den genuesischen Neben buhler veranstaltete. Der Turm trotzte Blitz und Feuer, aber am 12. August 1489 zerstörte ein neuer Blitzschlag den ganzen Glockenstuhl, so daß man den Campanile mit einem Notdache versehen mußte, und nach dem großen Erdbeben vom 26. März 1511 ent schloß sich der Doge Antonio Erimani. auch die Krönung des Turmes in massivem Bau herzustcllen. Bartolommeo Buon aus Bergamo hat diesen schönen Bauteil vollendet: es »vor ein« gefährliche, eine „halsbrecherische" Arbeit, an deren Fortgänge das ganze müßige, geschätzige, neugierige Venedig den regsten Anteil nahm. Es war an einein Iulitage Les Jahres 1513, als der vergoldete Engel unter Trom peten- und Flötenschall auf die Spitze emporgewun- den wurde — ein Feiertag für die sestliebende Stadt. So, in seiner junge»» strahlenden Schönheit, sah unser Albrecht Dürer den Turin, als er wenige Jahre darauf in Venedig eintraf. Das ganze Leben Venedigs brandet« uin den Campanile, spielte sich unter seinen Augen ad: der Karneval, die großen kirchlichen Prozessionen, di« Empörungen, die Hinrichtungen. Seine Glocken sangen di« Geschichte der Stadt. Ursprünglich waren es ihrer elf. Eine davon hieß die Maleficio oder Nenghiera; die erklang nur, wenn es galt, einen» armen Sünder zum letzten Gange zu läuten. Sie war es auch, die ain 17. April 1355 läutete, als auf der obersten Stufe der Gigantentreppe Marino Fallen hingerichret wurde — er batte die Verfassung der Nepublik umzustürzen versucht; eine Frau war der Grund seiner Empörung und seines Falles. In späterer Zeit hatte der Campanile außer der Nenghiera noch vier Glocken. Die Marangona gab durch ihren Klang des Morgens und de» Abends das Zeichen, wann die Arbeiter ihr Tagewerk zu beginnen hatten und schließen durften. Der Nona war das Mittagsgeläut Vorbehalten. Die Pregadi ries die Senatoren zur Versammlung, aber wenn di« Trvttiera ihre Stimm« «rhob, dann hatten die Pa trizier der Stadt sich zum Großen Rate zu begeben. Man sagt, ihr Name stamme vom Trotte der Maul tiere, auf denen die Herren, wenn die Glocke rief, eil fertig zur Piazza ritten. War der Ton der Glocke ver klungen. so wurden die Türen des Palastes verschlos sen, aber sie erwies sich als nach'ichtig und läutete oft so lange, bis die Signori alle beieinander waren. Die vornehmen und lustigen Hcrrlein von der Lalza- Gesellschaft ließen sie 1562 einmal eine ganze Stunde länger als üblich läuten, damit ihnen die Zeit blieb, in festlich geschmückten Gondeln und unter lustiger Musik ihren Auf- und Eiiyzug zu holten. Das Glocken spiel des Campanile bildete so in seinen mannig fachen Variationen einen ganzen Tages- und Jahres kalender des venezianischen Lebens. Und wozu dient« er nicht alles! Die Loggetta war ursprünglich der Versammlungsort der Nobili, wenn sie sich in den Rat begeben wollten; später wurde sie von den mächtigen Prokuratorcn von S. Marco als Sitzungsraum benutzt, die als Kontrollbeyörde über das ganz« politische Leben der Stadt wachten. In des sie dort geheim berieten, mußte an anderer Stell« des Campanile wohl ein arm Eünderlein am Pran ger stehen. Das geschah an der Südseite, wo ein käsig mit dem Delinquenten aufgehangcn wurde. Aber diese Schande blieb immer noch sozusagen eine Aue Zeichnung, denn am Campanile wurden nur geistliche Uebeltäter, die an öffentlichem Orte auf einer Ilnrot ertappt worden waren, und Laien, die an heiligen Orten verhaftet worden waren, an den Prange» ge stellt. Viel lustiger war jedenfalls die Rolle, die der Turm am Gründonnerstage zu spielen hatte. Do war es im 18. Jahrhundert Ler Brauch, daß von sei ner Spitze bis zur Loggetta des Dogen an der Piaz zetta ein Seil gespannt wurde, und daß auf ihm ein Seiltänzer den halsbrecherischen Weg hinab »nachte Von diesem „svolo" spricht Eoldoni in einem seiner Lustspiele. So stand der Turm Jahrhundert nach Jahrhundert. Von 1548 dis 1745 erwähnt sti« Chronist Gartinoni nicht w«nig«r als acht Blitzschläge, di« ihn trafen. Der von 1745 war besonders arg: er loste große schwere Steiire von dem Bau ab, die herabstürzend eine Anzahl der llein«»» lustigen Läden zerirümmcr len, die bis in die neueste Zeit hinein auf zwei Seiten sich an den Turm anlehnten und erst 1873 abgerissen wurden. Damals kamen bei dieser Katastrophe ein schuster, ein Zahnarzt und ein Hund zu Tode, und man kann sich hiernach leicht vorstellen, mit welchem Interesse Venedig di« Aufstellung des ersten Blitz ableiters auf den» Campanile begleitete. Sie er folgte im Jahr« 1775 durch den Abbate Toaldo, und die Prokuratoren ließen ihm zu Ehren eine Medaille schlagen, sowie ihm 40 Zechinen auszahlcn. Nicht der Blitz war es, der dem Tnrm den Tod geben sollte — es war der still, aber unablästig nagend« Zahn der Zeit. Als der Zusammenbruch am 14. Juli 1902 er folgte, gab der jetzige Papst Pius X. dem allgemeinen Gefühle einen treffenden Ausdruck, i-ndem er sagte: „Obe rruuio» «1 patvor» cki eo«r!" — der Hausherr ist nickt mehr da ! Und ganz rührend ist die Aeußerung, die damals ein alter Gondoliere tat: „Wenn ich mit meiner Barke den Molo lang rudere, dann gibt es mir einen Stich ins Herz, und ich muß mich nach der Seite von San Giorgio hinüber wenden." Venedig ohne Lei» Campanile war nicht Venedig, die Piazza ohne ihn nicht di« Piazza mehr. Und so, nach einer neunjährigen Pause, wird er iin Sommerglanze dieses italienischen Jubeljahre« sich von neuem dem beglückten Venedig zeigen. Dei seinem Neubau sind Verfahren und Maschinen ver wandt worden, von denen Alt-Venedig nichts ahnte, aber seine Formen sind die alter» geblieben. Nicht» Vollkommeneres war für diese Stätte zu schaffen.