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Der Niagarafall. 449 tenden Ereignissen dahin gehörig, waren die Untersuchenden Zeugen gewe sen. In dem amerikanischen Theile des Falles bildete sich eine Vertiefung, so daß er nicht mehr wie früher gradlinig war, sondern seit dem Jahre 1815 halbmondförmig wurde und zwar so stark, daß der Bogen von der Sehne um 40 Aards absteht; im Jahre 1818 erfolgte auf diese Verände rung ein Felssturz von ungeheurer Mächtigkeit, dann aber, zehn Jahre später ein noch viel größerer auf der canadischen Seite; die fallenden Felsmassen waren so mächtig, daß sie die Umgegend auf zehn bis zwölf deutsche Meilen wie ein Erdbeben erschütterten, der sogenannte Hufeisenfall verlor dadurch seine Gestalt so sehr, daß der Name eigentlich gar nicht weiter auf ihn paßt. — Alle diese Erscheinungen bestätigen die Ansicht, daß der Niagarafall einst bei Queenstown und Lewiston gestanden und daselbst in einer viel größeren Breite auch den weiten Kreis ausgehöhlt habe, der vor dem Fel senabsturz liegt und in welchen der Fluß, jetzt aus der Felsenspalte heraus tretend, sich mit einer gezwungenen Biegung von beinahe einem rechten Winkel begiebt, daselbst den berühmten Strudel bildend und dann erst mit einem fast beispiellos geringen Fall dem Ontario zugeht; allein bewiesen wird die Voraussetzung vollständig dadurch, daß man auf den Ebenen, welche den Niagara umgeben, bis weit hinauf viel mehr als hundert Fuß über seinem jetzigen Standpunkte ganz dieselben Geschiebe findet, welche der Fluß jetzt noch führt, so wie auch dieselben Muscheln und Schnecken, welche noch jetzt seine Fluthen bewohnen. Hiermit ist unumstößlich dar- gethan, daß der Strom sammt dem Eriesee einst viel höher gestanden hat als jetzt, daß er sich sein felsiges Bette selbst ausgewaschen hat und daß er noch fort und fort an der ferneren Ausgrabung arbeitet. Allerdings hat dazu viel Zeit gehört. Wenn z. B. die durchschnittliche rückschreitende Bewegung jährlich ein Fuß gewesen ist (nicht ein Yard d. h. über anderthalb Ellen oder 3 Fuß 6 Zoll, welches wohl dann und wann eintreten, aber nicht als eine Durchschnittsgröße angesehen werden kann), so hat der Fluß mehr als 35000 Jahre gebraucht, um von Queenstown zurückzuweichen bis zu seinem jetzigen Stande. Wenn nun aus allem Gesagten unwiderleglich hcrvorgeht, daß Fel- scnthäler in nicht unbedeutender Ausdehnung von dem Wasser ausgewa schen werden können, so haben wir doch gerade in dem vorliegenden Falle, der in seiner Großartigkeit und Form als ein Urthpus solcher Felsaus waschungen angesehen werden kann, den Beleg für die Ansicht, daß die felsigen Alpenthäler, in denen die großen Ströme ihre Kindheit verbrin gen, durchaus nicht von dem Wasser ausgewaschen sind, denn sie haben nicht parallele Wände, sondern schräge gegen einander geneigte, das wei lt. 29