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6766 -atz die republikanische Partei sich in Zukunft auf die I Arbeiterschaft und den Elassenkampf stützen, also mit < an-ercn Worten, socialistisch werden muffe. Die alten Herrgötter der Partei waren entsetzt, aber die Mehrheit nahm, seit Zähren an die enge Verbrüderung mit dem Sveialismus gewöhnt, den Antrag Brignardelli an. Man »nist iniii sehen, ob der demnächst i» Pisa stattsin-en-e all gemeine Parteitag das ratificirt. (beschicht cs, so wird damit der Sieg 'der Sveialdemokratie und «das Ende des Mazzinismns besiegelt. Die Grcnzsragcn -er asrikauischcn Territorien,, die deutschen Besitzungen nicht ausgenommen, dürften noch geraume Zeit die Vertreter der in Afrika ansässigen Eolonialmächtc beschäftigen. Neue Schwierigkeiten scheinen sich besonders hinsichtlich der Grenze zwischen K am er« n und dem französischen Cong »gebiet vorzu bereiten. In der „Revue Franco - Saharienue" wird für eine „Rectifieation" der Grenzen eingctreten, die ohne Rücksicht auf die geographischen Verhältnisse sestgelegt seien und in ihrem jetzigen Verlause die wirthschaftliche Ent wickelung des französischen Gebietes außerordentlich er schwerten. Weiter handelt es sich um die Neguliruug der e n g l i sch - siran zö si s che n Grenze zwischen dem Niger und dem Tsadsce, um den sich immer mehr die Inter essen der benachbarten Colonialmüchte zu vereinigen scheinen. Von französischer Seite wird darüber Klage ge führt, daß die Anlage einer ausschließlich aus französischem Terrain verlaufenden Bahn, die das Sudan- und das Evngogebiet Frankreichs verbinden würde, in Folge der jetzigen Gestaltung der Grenz- und Gcbictsverhältnissc in der Rühe deS Tsadsecs unausführbar sei. Schon ans dieser Begründung erhebt, das; die genannte Zeitschrift wesentlich andere und erheblich mcitcrgehende Ziele im Auge hat, als die Beseitigung unbedeutender Schwierig keiten und Formalitäten: denn cs kann mit Recht geltend gemacht werden, daß Sudan und Eongo in ihren weiten Sinterländern so gut wie keine kommerziellen Beziehungen haben, daß also das angebliche Projekt einer Bahnverbin dung, so wünschcuöwerth sic im Interesse der fortschreiten den Erschließung des inneren Afrika sein würde, auf lange Zeit hinaus keinerlei Aussicht ans Verwirklichung besitzt. Diese Annahme, daß cs thatsüchlich andere Beweggrünoc sind, die die französische Zeitschrift veranlaßt haben, die Grenzfragcn im nördlichen Afrika von Neuem anszurollcn, gewinnt durch die dritte Forderung an Wahrscheinlichkeit, die die Rcgnlirnng der Grenze zwischen der Republik Liberia und dem französischen Th eil der Elfenbeinküste betrifft. Darnach sotten neuerdings französische Forschungsrcisende die Entdeckung gemacht haben, daß der bisher als Grenze angenommene Fluß in seinem Unterlauf eine bedeutende Ausbuchtung nach Westen zeigt, daß also Frankreich auf das so abgegrenzte Gebier Anspruch haben müsse, während bisher der südlichste Theil der Grenze zwischen beiden Cicbictcn im Großen und Ganzen gradlinig zur Küste verlaufend gedacht war. Es handelt sich sonach in Wirklichkeit nm die eventuelle Ein verleibung dieses Flußgebietes in französischen Besitz, und es ist sehr bezeichnend für die von französischer Seite ans erfolgte Anregung, daß die Negulirnng der Grenzverhäll- nisse zwischen französischen und fremdstaatlichen Territorien in Afrika nicht nur die Schwierigkeit des gegenwärtigen ZustandeS beseitigen, sondern auch zur Vermehrung des französischen Besitzstandes beitragen soll. Deutsches Reich. -K Berlin, 29. September. <Znr Finanzlage -cs Reiches.) Der 1. September ist für die Etats ansätze der Z o l l e i n n a h m e n im Reiche insofern von einer gewissen Bedeutung, als nach der bestehenden Hebung die Zvlleinnahinen in den Etat nach dem Durch schnitte der Jahre vom k. September bis En-e August ein gestellt werden, und zwar bei den Getreidezöllen nach drei jährigem, bei den übrigen Zöllen nach zweijährigem Durchschnitt. Das Zurückbleiben der Einnahmen aus den Zöllen, in den ersten fünf Monaten deS laufenden Rech nungsjahres um mehr als 2 Millionen Mark wird sich demzufolge auch in den Ansägen der Zölle für -en nächst jährigen Reichsctat geltend machen. Für das laufende Jahr ist bekanntlich von der Hebung in der Etatisirung der Zolleinnahmen insofern eine Ausnahme gemacht worden, alS im Reichstage mit Rücksicht aus -ie Besserung -er Zollerträge in -er zweiten Hälfte des vorigen Jahres -ie Zolleinnahmcn um etwa 12 Millionen Mark gegen den Regiernngsentwurf erhöht worden sind. Dieses Vorgehen war an sich nicht unbedenklich, weil es -en Bundesstaaten um den Betrag «der Erhöhung des Etatsausatzcs -er Zvllcinnahmcn die Aussicht verminderte, durch tteberschüsse -er Ueberwcisungsstcucrn über den Etatsausatz die verhältnißmästig starke Höhe der von ihnen geforderten Matricularumlagen einigermaßen auszu gleichen. Es gewinnt aber auch den Anschein, als ob die Voraussetzungen, von denen -er Reichstag bei der ein seitigen Aenvening des Rcgiernngscntwurfes aus gegangen ist, nicht zutrcfsen; denn wenn die ZollertWgc sich im Reste -es Etatsjahres ebenso gestalten, wie in den ersten fünf Monaten, würde die Jsteinnahme sehr be deutend hinter dein Etatsansatze z u r ü ck b l e i b e n, nämlich um mehr als 37 Millionen Mark. 9kun ist es zwar nicht völlig ausgeschlossen, -aß im nächsten Halb jahre eine Besserung in den Zvlleinnahmen cintritt, aber nach -er Thatsaän', -ast auch die ««geschriebenen Zölle um mehr alS -t Millionen Mark hinter den Anschreibungen -es Vorjahres Zurückbleiben, ist cs mehr als unwahrschein lich, daß -er Ertrag -er Zölle -en in -em Etat vor gesehenen Betrag wirklich erreicht. Alsdann erweist sich die Aussicht, welche man -en Bundesstaaten eröffnet hat, in höheren Zollerträge« einen Ausgleich für die Mehr belastung mit Matricularumlagen zu erhalten, als trügerisch und die Spannung zwischen Matricularumlagen und Uebcrwcisnngen stellt sich in Wirklichkeit beträchtlich höher, als es schönfärberisch in -cm vom Reichstage fest gestellten Etat vorgesehen war. Es ist daher nur zu wahr scheinlich, daß-er von dem Reichstage unternommene Ver such, die Etatsaufstellung günstiger zu gestalten, als nach -cm Regicriiugscntwurfe vorgesehen war, sich als völlig verfehlt erweist und daß dadurch nur ein neuer Beweis geliefert wird, wie mißlich es ist, nm finanz politischer Augenblicksrücksichten willen von der bewährten ttebung bei Aufstellung -cs Etats abzusehen. In Wirk lichkeit helfen solche Experimente -och nicht über die That- sache hinweg, -ast zwischen den gegenwärtigen Einnahmen des Reiches und seinem Ausgabebeüarf ein dauerndes Mißverhältnis; besteht, dem nur durch entsprechende Er höhung der eigenen Einnahmen des Reiches abgcholfen werden kann. Berlin, 29. September. fZur Auslegung des Fürsorgeerziehnngsgesetzes.) Das neue preußische Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minder jähriger, mit dem die entsprechenden Gesetze der übrigen deutschen Bundesstaaten im Wesentlichen übereinstimmen, ist bei der Berathung durch die gesetzgebenden Körperschaf ten einem außergewöhnlichen Interesse begegnet, und als es dann Geltung erlangt hatte, war man überall bestrebt, cs nach Möglichkeit nutzbar zu machen. Bedauerlicher Weise ist das seit einigen Monaten anders geworden, ist neuerdings ein unverkennbares Erkalten des Interesses sür das Gesetz eingetreten. Tie Ursache hierfür liegt zum großen Theil in der Auslegung, die das Gesetz durch das >iammcrgericht erfahren hat. Wiederholte Kammer- gcrichtsentscheidttttgen haben nämlich -er öffentlichen Für sorgeerziehung eine nur äußerst „subsidiäre" Anwendbar keit znerkannt, sie erklären die Ueberweisung zu dieser Er ziehung erst für statthaft, wenn alle anderen Maßnahmen, welche dem Vormnndschaftsrichter zu Gebote stehen, er schöpft oder aussichtslos find, und schränken die Fürsorge erziehung im Sinne 8 1 Ziffer 1 des Gesetzes auf innerlich verwahrloste Minderjährige ein. Zugleich mit dem Aus spruch, daß die Fürsorgeerziehung unzulässig sei, wenn schon anderweite Unterbringung zur Vorbeugung der Ver wahrlosung genüge, wird es beim Fehlen von Mitteln als Sache des Armenverbands erklärt, für geeignete Unter bringung zu sergen. Hierdurch glauben sich die Armen verwaltungen vvu einer Verschiebung der Armcnlasten bedroht, und da Armen- und Polizeiverwaltung meist in einer Hand ruhen, so liegt die Befürchtung nahe, daß die der Polizei zufallende Initiative in der Handhabung des Gesetzes ungünstig beeinflußt werden könnte. Angesichts dieser Entwickelung der Judikatur, durch welche die Be deutung des Fürsorgeerziehniigsgesetzes bedenklich ge mindert wird, ist es mit Freuden zu begrüßen, daß die Rechtsanffassung des Kammergerichtes jetzt von berufener Seite eine Nachprüfung erfahren hat. Der an dem Zu standekommen des Gesetzes hervorragend betheiligte Land tagsabgeordnete LandgerichtSdirector Schmitz-Düsseldorf hat diese Prüfung in den letzten Heften der Zeitschrift „DaS Recht" vvrgenommen. Aus den Motiven und der Ent stehungsgeschichte des FürsorgeerziehungSgesetzes führt er den überzeugenden Nachweis, daß der gekennzeichnete StPx°mnct des KammergcrichtS unhaltbar ist, daß viel- m«Zr-' der Gesetzgeber aus socialpolitischen Erwägungen heraus die Anivcndbarkcit der Fürsorgeerziehung weit über die vom Kammergcricht fetzt gesetzten Grenzen hinaus verbürgt wissen wollte und daß insbesondere auch eine Einschränkung der Fürsorgeerziehung auf innerlich verioahrloste Minderjährige mit dem Gesetz und dessen Absichten unvereinbar ist. — Der Kaiser hat seinen Jagdaufenthalt in Nominten verlängert und trifft erst Anfang nächster Woche in Cadinen ein. Bon dort reist der Kaiser nach Marienburg und Danzig. Wie die „Ostpreußische Zeitung" aus Rominten meldet, wohnten der commandirende General Frbr. v. d. Goltz und Oberpräsident Frbr. v. Rich 1 hofen vorgestern Vormittag dem Gottesdienst in der dortigen Hubertuscapelle bei und leisteten Nachmittag einer kaiserlichen Einladung zum Diner im Jagdschloß Nominten Folge. — Wie das „Berl. Tagebl." sich melden läßt, soll der Kaiser beabsichtigen, im Februar auf seiner Aacht „Hohen- zollern" dem König von Italien einen Gegenbesuch ab- zustalten. — Prinzessin Heinrich von Preußen beabsichtigt nach der Wiederherstellung des Prinzen Sigismund einen längeren Herbstaufcnhalt am hessischen Hofe in Darmstadt zu nehmen. — Von den Verhandlungen der Zolltarife»!» Mission wird eö abhängen, ob am 14.October diePlenarsitzungen deS Reichstags wieder beginnen. Die Anwesenheit des beute hier eingetrosfenen NeichStagSpräsidenten Graf Ballestrem in Berlin dürfte mit dieser Frage Zusammenhängen. — Der Vorschlag der deutschen Negierung auf Ein berufung einer internationalen Conferenz für vrahtlose Telegraphie ist nunmehr von allen au der Regelung dieser Frage interessirten Staaten angenommen worden. Das Programm für die Eonserenz wird zur Zeit im NeichSpost- amt auSgearbeitet. Die Eouferenz wird voraussichtlich bald berufen, wahrscheinlich nach Berlin. — Zum 1. Oktober wird der Neubesetzung der Stelle deSUnlerstaatssrkretärS im Reichsamt deS Innern entzegengesehen. Zu den Persönlichkeiten, welche bisher nicht genannt worden sind, die aber sür den Posten sehr Wohl in Frage kommen konnten, gekört das Mitglied des Bundes raths, der königlich sächsische Ministerialdirektor Fischer. Ob an ihn mit einem Antrag herangetreten worden ist und ob er geneigt sein möchte, einem solchen zu entsprechen, wissen wir nicht. In BundesratkSkreisen scheint man es aber an genommen zu haben. (Natlib. Corr.) — Der vom Berliner Magistrat als Patron zum zweiten Prediger an St. Petri Ende vorigen JabreS gewählte, der freieren Richtung angehörige Prediger vr. Heyn in Greifswald ist noch immer nickt bestätigt worden. Nach der „Voss. Ztg." ist der Grund hierfür darin zu suchen, daß der Propst von St. Petri, Viccpräsident des Oberkirchenralhs, Wirkt. Ober- Eonsistorialratb und Professor Frhr. von der Goltz in einer längeren Schrift bei der Obrrbehörde Einspruch gegen die Wahl erhoben habe mit der Motivirung, daß dem Propste eine Mitwirkung an der Wahl der Prediger an St. Petri zustehe. lieber diesen Punkt werde zwischen Magistrat und Consistorium noch verhandelt. Die Streitfrage wäre nur aufgeworfen worden, weil vr. Heyn nicht zu den Positiven zähle. — Ter Staatssekretär des Neichsschatzamts Freiherr v. Thiel- mann hat »inen jckweren Trauerfall in seiner Famiiir zu beklagen. Ter Gatte ^-iner ältesten Tochter ist am Typhus gestorben. Ter Staatssekretär ist durch LieS Mißgeschick von Berlin seit einiger Zeit serngehalten. TaS hat auch jähmend aus den Fortgang der Berathungen zur Fertigstellung des Reichshaushalts gewirkt. Gegen Ende dieser Woche wird der Rückkehr des Freiherr» v. Thielmann ous seinen Posten entgegengesehen. — Wie die „Welt am Montag" angeblich von gut unterrichteter Seite erfährt, wird der Berliner Polizeidirector v. Windheim demnächst als Nachfolger des Grafen Wedel das Ministerium Les königlichen Hauses übernehmen. — Ter Gouverneur von Teutsch-Südwestasrika, Oberst Leut wein, der zur Zeit einen längeren Urlaub in Deutschland ver bringt, ist zur Erholung in Urberlingen am Bodensee eingetrofsen. — Der Rentner Heinr. Schlieper in Grüne bei Iserlohn beging mit seiner Gemahlin das Fest der goldenen Hochzeit. Er hat früher den Wahlkreis Altena-Iserlohn zehn Jahre im Ab- geordnetenbause und drei Jahre lang im Reichstage vertreten. Er war Mitglied der uationalliberalen Partei. Er ist der Vater des in den Chinawirren schwer verwundeten Eorvetten-Capiläns Schlieper. — Hier angekoiinilen sind der Staatsminister Möller von KönigShütte in O.-Schl., der UnterslaatSjekretär im Ministerium sür Handel und Gewerbe, Wirkliche Geheime Rath Lohmann vom Urlaub, der hiesige hansealische Gesandte vr. Klug mann vom Urlaub, Oberbürgermeister Kirschner vom Urlaub. Abgereist ist der Bevollmächtigte zum Bundesralh, hessische Geheime Staats- rath Krug von Nidda. * Tanzig, 29. September. Der Oberpräsident von West- Preußen Staatsminister vr. v. Goßler ist heule Abeud kl Uhr hier gestorben. Gustav v. Goßler wurde am 13. April 1838 zu Naumburg a. C. als ältester Sohn Karl Gustav v.Goßlcr's.des Kanzlers des Königreich; Preußen und Oberlandesgerichtspräsidenten in Königsberg, und Enkel Les Juslizministers v. Mühlrr, geboren. Er studirte in Berlin, Heidelberg und Königsberg die Rechte und trat 1859 als Auskultator zu Königsberg in den preußischen Justizdieust. Nachdem ec 1864 Gerichtsassessor in Insterburg und 1865 Landrath im Kreise Darkehmen gewesen war, wurde er 1874Hilfsarbeiter im Ministc- rium deS Innern. Später war er Rath in, Obcrverwaltungsgericht und 1879 Unterstaatssekretär im Eultusministerium. Zugleich hatte sich G. 1878 sür den Wahlkreis Tarkchmen-Goldap-Stallupöneil in den Reichstag wühlen lassen, wo er sich der konservativen Partei «„schloß und zum ersten Präsidenten gewählt wurde. Am 17. Juni 1881 folgte er Puttkamer als Cultusminister und suchte den kirchenpolitischcn Conslict nach Möglichkeit beizulegen. An dem Princip des staatlichen Einflusses auf die Volksschule hielt er fest. Den polnischen Treibereien in Posen trat er ent schieden entgegen. Am 27. September 1887 erfolgte durch ihn die Aushebung des polnischen Sprachunterrichts in den Volksschulen- Ende 1890 brachte er den Entwurf eines Volksschulgejetzes ein. Derselbe scheiterte an dem Widerstand des Centrums und der Polen. In Folge dessen erbat er seine Entlassung, die ihm am 12. März 1891 gewährt wurde. Bald darauf, am 7. Juli, erfolgte seine Er nennung zum Oberpräsidenten von Westpreußen. Die ersten Anzeichen deS tückischen Leidens, dem Ober präsident v. Goßler zum Opfer gefallen ist, machten sich schon im Herbst 1899 bemerkbar. Im Frühjabr 1900 begab Goßler sich aus Anrathen seiner Aerzte zu Professor von Berg mann nach Berlin. Am 4. April 1900 führte Professor veu Bergmann dir Operation glücklich aus und entfernte die ganze rechte Niere. Dank der sonst robusten Constitutien des Patienten ging die Heilung damals glatt von statten. Der Nest des Jahres 1900 und das Jahr 1901 vergingen durchaus normal, aber schon zu Beginn dieses JahrcS machten sich wieder Schmerzen bemerkbar, die auf einen erneuten Krankheitsherd hindeuteten. Die Ursache der fetzt lvvliich verlaufenen Krankheit waren nach Feststellung der ihn be handelnden Aerzte bösartige Geschwülste und Geschwüre, welche sich auf der rechten Nierenseite neu gebildet hallen und allmählich sich bis zur Wirbelsäule und zum Rückenmark ausdehnten. Hand in Hand damit ging bei stetig ver ringerter Nahrungsaufnahme ein rapider Kräfteverfall, ter seil dem 2l. d. M. in immer wiederholten und immer be denklicher werdenden Anfällen von Herzschwäche zu Tage trat. Am 23. d. M. wurde auch dem Kurier auf telegraphische Anfrage der Zustand des Kranken als „völlig hoffnungslos" bezeichnet. Heute Abend um 11 Uhr constatirten die Aerzte den cingetrelenen Tod. (B. L.-A.) (D Klei» Flottbcck, 29. September. Der Oberpräsident von Schleswig-Holstein, Freiherr von Wilmowski, ist heule zum Besuche des Reichskanzlers hier eingetrofsen. * Aus -er Ostmark. Dem „Ges." wird berichtet: Am 25. September sand in Bruß die Firmung durch den Bischof Vr. Nosentreter statt. Als nach der polnische» Predigt der Geistliche die deutsche Predigt begann, entstand in der übersülltcn Kircke ein allgemeines Scharren und Trampeln, so daß der Geistliche die Predigt unter brechen und die Ruhestörer in ihre Grenzen weisen mußte. Nach der Firmung fand die Visitation der Schulen stall, wobei von den Lehrern deutsch geprüft wurde. Um zu sehen, ob daS Verständniß auch da sei, wurden vom Herrn heraus. Seit vorgestern weiß i. daß die neue Bahn knapp bei unserm Dörfel Vorbeigehen wird; da ist der Hvf wenig- slens nm tausend Gulden mehr werth, als ich Dir schuldig bin. Und da mein' i halt, Du übernimmst selber den Hof, und nimmst tausend Gulden auf, die mir auszahlst. Da taufen wir uns andcrsw» ein klein's Hansl, mit ein paar Gründ', die i und d' Franzi noch betreuen können; und der Franz geht nachher in -' Arbeit; ein schlecht'- Aus kommen ist's schon — und ein gut's verdien' i nct. Freilich, meine Leut' schon, die thäten 's verdienen, die —" Dem alten Mann brach die Stimme. Eine kleine Pause trat ein. Die Sephi unterbrach das Schweigen nicht; sie rührte sich gar nicht. Groß blickten ihre Augen auf den heftig erschütterten Mann. Der raffte sich endlich auf. „Zusammenkommen können s' nie, die Zwei, Tein Dirndl und mein Franz, und so ist's besser, wir machen uns weit davon, daß sic einander nimmer in die Augen haben. Ist ja eine Gutheil von Dir, wenn cingchst ans meinen Vorschlag; aber nm der Lieb' willen, die gern eine Brücken geschlagen hält' zwischen uns Zwei — wie mich ziemt —" der alte Mann lächelte schmerz lich zu seinen Worten — „um derentwillen kannst net hart- üerzig sein, wenn i Dich d'rum bitt'. Für mich bittet i ja nm nichts; aber nm der Franzi willen, die in ihre alten Tag' aufs Betteln ausgehen soll!" Die Sephi stand auf. „Iit gut", sagte sie. „Machen wir's so. Wenn's mich auch hart ankommen wird, 's Wirthschaftcn auf dem großen Hof." „Mein, wirst schon einen Knecht finden, einen richtigen!" meinte der Hochgstcttner. „Und 'leicht find t sich doch Dein Dirndl noch einmal drein und nimmt einen Mann, wenn's ihn auch nct so gern hat wie meinen Franz." „Ist schon möglich", meinte die Sephi. „Wenigstens hoffen wollen wir drauf. Und wenn's Dir recht ist, näch ster machen wir's nächste Woch' richtig mit der Sach', beim G'richt." „Ja, ja. Und i dank' Dir schön für Deine Willigkeit." Damit wollte der alte Mann der Thür zugehen. Die Sephi aber rief ihn an: „Geh, wart' noch ein bißl!" Sic ging rasch zur Thür und öffnete diese. „Jula! Jula!" rief sie hinaus. Kaum zwei Secnnden später kam die Jula in die Stube. „WaS ist's denn, Muatter?" fragte sie; da aber sah sie schon den Hochgstcttner stehen, r-nd das Blut schoß ihr jäh lings ins Gesicht. „Mein Gott, ist 'was g'schehcn? Mit 'm Franz?" stotterte sie. Da ging es wie ein wehniüthiges Lächeln über Vinzenz' Gesicht. „Weil i halt da bin, wo i net hcrg'hör', meinst?" sagte er und trat ans sie zu. „G'schehcn ist ihm nichts, dem Franz. Netta grüßen soll i Dich von ihm, 'leicht wird's das letzte Mal sein!" Die Sephi redete jäh darein. „Insa, i hab' Dich her- cing'rusen, wenn Tu Abschied nehmen willst vom Hoch gstcttner — weil ihn cppa nimmer zu sehen kriegen wirst! Za. Sie wollen kort, vom Hof, der Franz und seine Eltern; und da müssen wir ihn selber übernehmen. Müßen stakt Zusammenhalten, wir zwei, Du und ich, und dazu schauen, daß wir uns gut Hausen. Und i mein' fast, bald's so viel Arbeit giebt sür Dich, und mußt Deine Händ' fleißig rühren und den Kopf auch ein bißl an strengen, daß Alles klappt bei uns, nachher wird Dein Herzt schon auch mehr Fried' geben, und kommst zu einer bessern Ruh'! Und vielleicht gar noch — wie der Hoch gstcttner selber g'meint hat! — mit der Zeit zu einem Mann, wenn's auch net der Franz sein kann." So leichthin redete die Sephi von der Sache, als wäre es ein ganz Geringes nm dieselbe; doch ihr Blick hing so eindringlich forschend am Gesichte ihres Kindes, als wolle sie dort etwas ganz besonders Merkwürdiges entdecken. Und die Jula blickte erschrocken auf den Hochgstcttner, als ob sie ihn nicht verstehen, nicht begreifen könne. „So 'was — so 'was denkst doch net von mir?" stammelte sie, blaß übers ganze Gesicht. Und jetzt, wo das Gesicht so blutlos war, jetzt merkte die Sephi, was für tiefe, dunkle Ringe um die schönen Augen ihres Dirndls lagen. Hatte sie wirklich keine Mutteraugen, daß sie bisher, wo sic sich doch jetzt mehr wie früher nm die Jula kümmerte, das dennoch nicht gesehen? Der Hochgstcttner stand jetzt ganz nahe bei der Jula. Innig ruhte sein Blick ans dem jungen Gesichte, das eine so ängstlich bekümmerte Miene zeigte. „Hast ihn denn gar so gern, den Franz?" fragte er, und seine Hand hob sich und fuhr streichelnd über die linden Wangen des Dirndls. „Mein Gott, sterben thät' i gern, könnt' i euch damit euer Glück erkaufen! Mir wär' halt ein Leben ohne Lieb' be stimmt g'wescn, und für mein licb'voll's Leben muß jetzt das Eure damit zahlen, daß's ohne Lieb' bleibt. I steh' halt dawider, ja." Noch immer fuhr die harte Hand über die linden Wangen, aber Jula zog sie jetzt hernnter un preßte sie zwischen ihren beiden Händen. Thränen rieselten über ihre Wangen. „Gelt, i dank' dem Franz schön sür sein' Gruß, und sag' ihm, daß ich ihn nimmer vergessen thu' — na, nimmer! I bleib' ihm treu." Ter alte Mann fuhr sich mit der freien Hand wischend über Stirn und Augen. „Ist mir g'rad', wie ivenn'S heut' wär', wie i dag'standen bin auf demselbigen Fleck — 's Herz so schwer über mein' brochenen Eid «nd d' Seel' so voll Er- barmniß mit der Franzi, eine Lieb' in mir, die net zum Auslüschen war, nnd ein Elend in mir, das mich schier er drückt hat. Und anf'm Heimweg hab' ich'n Vater ver wunschen, daß er mich so zwiespältig g'macht hat, -aß er mir den schönsten Seim von meinem Glück g'raubt hat! Und jetzt geht's meinem Buben auch schiera so, nnd wenn er sein' Vatern verwünscht, i kann ihm's nct verdenken." Das zuckende Gesicht verbarg sich in beide Hände. Aber die Jula griff wieder nm die eine, die sich ihr entzogen, nnd versuchte, sie hcrabznziehen. „Geh' geh', so mußt net denken! Dein Bub' ist ein braver — na, na, denk' net so!" bat sie leise, weich. Die Frau beim Tische drüben aber packte jäher Neid. Wie die Inka so redete mit dem da, so lieb, so gut, so tröst lich — sie konnte cs nicht anhörcn. Der war doch schuld daran, daß die Jula so schweren Kummer trug! Den Kummer, den ihr Niemand abnchmen konnte. „Wie kannst so sein mit dem, der d' Schuld hat an Deinem Unglück?!" sagte sie zürnend. Mit naßem, schimmerndem Blick schaute Jula herüber auf sie. „Muatter, hält' er's g'rvußt, was er uns thut, er hätt' g'wiß sein eign's Lcbenöglück dran g'setzt, glaub' i." „So? Meinst?" Nichts weiter sprach die Sephi. Mit großen Augen starrte sie vor sich hin. Wie ein Blitz war es vor sie hingefahren —: der hatte nicht gewußt, waL er that, daß er zwei Menschenhcrzen 's Glück vorweg nahm. Sie aber wußte es, was sie that —: daß sie mit ihrer Härte — in dem Gedanken, daß sie sich über das Geschehene nicht Hinwegsetzen könne — zwei Herzen unglücklich machte. Wo war die größere Schuld an dieser Sache, bei ihr oder bei dem da? Und den Kopf neigend, grübelte sic vor sich hin. Und sie sah sich mit ihrem Dirndl im großen Hochgstcttner- hofe allein; wohl unter mehreren fremden Leuten hausend, dennoch allein unter diesen. Und die Jula, die sah so ernst aus, so still — so ohne Freude, ohne Lachen — und trug an einer unsichtbaren Bürde, die wohl so schwer war wie die, welche sie selbst getragen, so lange Jahre. Und all' das Leid, das sie erlitten, stand riesengroß vor ihren Augen. Und da lebte auch das letzte Leid jäh in ihr auf: der todte Sohn lag vor ihr. Aber da sah sie plötzlich statt des hageren Gesichtes des Lenzls das runde, aber nun so bleiche der Jula, — und sie fuhr aus, jäh, erschrocken, ent setzt, und fuhr mit der Hand znm Herzen, das einen so schweren Schlag that. Jesus, wenn sich das Dirndl gar zu viel grämte, und es siechte dahin und verstarb ihr eines Tages — nnd sie hatte den Hvf, den großen, hatte Geld — Reichthnm, Wohlleben, — aber kein Kind mehr, kein liebes Kind, das ihr doch Alles, Alles war! Alles —? Und ver mochte nicht einmal Gedanken zu bezwingen, die häßlich in ihr aufstiegen — zu bezwingen nm dieses Kindes willen! Ihr verstörter Blick glitt in der kleinen Stube umher — wo waren die Zwei, die eben da gestanden hatten ? Sic wußte nicht, daß sie eine lange Weile vor sich hin ge grübelt und daß unterdessen der Hochgstetrner gegangen war. Da entdeckte sie die Jula im Ofenwinkel, die Hände im Schoß liegend und vor sich hinstarrend, die Augen voll Thränen. „Wo ist denn der Hochgstettner?" fragte sic. Die Jula rührte sich nicht. „Fort! Heim", sagte sie. „Heim? Er kann noch net weit sein. Ans, auf, Jnla, zieh' eine Jacken an nnd nimm ein Tüchl nm! Wir gehen ihm nach." Und die Sephi stand schon vor der Jula und riß sie ungestüm empor. „Geh, Dirndl, geh — hör's Weinen auf! Meinst denn. Deine Nluatter ist sich selber mehr werth, als wie Du ihr? Meinst denn, i laß Dein Glück fortwandern in d' Fremd', wenn ich's halten kann mit meine zwei Händ' — d'crschreien mit meiner Stimm', daß 's Lableibt bei Dir — meinst denn a so?" Scheu fragend hatten sich der Jula ihre Augen zur Mutter erhoben, athemlvs hatte sie anigehvrcht; jetzt, wo sie in den Augen der Mutter so viel Liebe, so viel Wärme leuchten sah, jetzt verstand, begriff sie, was ihrer wartete. Und mit einem jubelnden Ruf: „Muatter! Mei' liebe Muatter!" hing sie sich an den Hals des Weibes. Der Hochgstettner war eben daheim angelangt und in die Stube getreten, als draußen schon wieder die HauS. thür aufgeklinkt wurde. Und ehe er etwas sagen konnte zn seinem in der Stube harrenden Weibe, zum Sohn, der beim Tische saß, da klopfte eines draußen an und sann ging die Thür auch schon ans. Und im Thürrahmcn standen die Sephi nnd ihre Tochter. Mit lachendem Ge sicht die eine, ältere, — mit glückseligem die andere, die junge. „I wachs wie Tn, Vinzenz", sagte die Sephi, „und geh' herein, eh', wer herein g'sagt hat! 'leicht thät'st es auch net gern sagen! Aber i muß reden mit Dir, wie Du vorest' mit mir! Heut' noch muß i reden. Denn b'schlafen wollen wir unsere Sach' ans eine gntc Weis', net ans eine schlechte. I hab' mir's nämlich überlegt — nnd mein', ob der Fran; net bei uns anf'm Hof bleiben könnt'? Wir zwei Weibs leut' fürchten uns halt z'vicl ohne einen richtigen Man» — das heißt, ohne eine», der zu uns g'hört! Was meint'S dazu?" Aber die drei Leute da drinnen erwiderten nichts. Da drückte die Sephi die Thür hinter sich in s Schloß nnd schritt mit der Jnla an der Hand auf den Franz zn. „Da, wenn sic noch magst — so b'halt' s'! — Denn anders bleibt sie mir nct anf'm Hof, hat s' g'sagt, wenn sie net Dein Weib werden kann!" Damit wandte sich die Sephi von den jungen Leuten ab, den alten zn. Sie reichte dem Vinzenz die Hand. „I hab' verziehen — i will auch vergessen", sagte sie. „Hab' i so viel ertragen, ohne 's Glück — jetzt spür' ich's Schwere g'wiß nimmer, wo mir so viel Glück ans die Augen von meinem Dirndl und ihrem Mann entgegenlachen wird!" Und cs lachte ihr entgegen, tagtäglich, Jahr nm Jastr; und sie fand sich darein, daß da einer neben ihr hauste, der ihr Schlechtes angcthan; war'S -oct, der Vater vom Buben, der ihrer Jnla das Glück gebracht. Und ein Ge danke trug nickt wenig hierzu bei; der, -aß sie wahrschein lich von istrcm Gelde im Alter nichts mcstr gestabt statte, falls sie dasselbe beim Tode von Vinzenz' Vater erhalten hätte. Ihr Mann war ja so einer gewesen, wo der letzte Kreuzer nicht sicher gewesen wäre. Seit aber die Sephi in die blauen, glänzenden Aeugle!« ihres ersten Enkelkindes geschaut stat, preist sic sich selber — laut zu Jnla und insgeheim zn sich selber — daß sie sich damals überwunden hat um der Liebe zn ihrem Kinde willen. Denn die Jnla wäre unglücklich, sie selber aber nie glücklich geworden. So aber umgeben sic frohe, steitcrc Menschen. Denn selbst der Vinzenz bat seit der Geburt seines ersten Enkelkindes jeglichen Trübsinn verloren, von dem ihm ein nicht geringer Tstcil über ein Jahr lang anhastete. Dies erste Enkelkind heißt zu Ehren der einen Groß mutter Franzi. Seither ist eine hübsche Schaar nachgcsvlgt, nnter der es auch eine Sephi, eine Jnla, nnd einen Vinzenz giebt. Jüngsthin ist auch ein Franzl getauft morden, von dem sein Vater sagt; der müsse 's letzte Kindlein sein, was der Storch gebracht habe; sonst müsse cs bald für die Hochgstcttncrslcnte eigens einen Kalender geben, wo wild fremde Hciligcnnamen darin ständen, in dem, der im Wandschränkchen ausliegc, gehe bald ein „Rand"^) her. *) Ende.