Volltext Seite (XML)
Bezuas-Preis Anzeigen-Preis für Leiv»>a und Vororte durch unierr Träger und Svedileure >uS -au- erbracht: Äu-<> nabe nur morgens) oiertelindrlich 3 M., monatlich c M., 'lusaabe it .morgens und abend-) vierteliädrlich 4 50 M., monatlich I 50 M. Turch die Poft bezogen ll mal tig!ich> innerdald Leuiichlands und der deutschen »to on en vieitelsälrOch 3 M., inonaitich l M. ausschl. Posibestellgeld, sür Oetierreich-Ungarn vierteljährlich 5 L 45 b. Abonnement-Annahme: Augustu-plaz 8, bei unseren Trägern, Filialen, Spediteuren uud Aunahmesiellen, sowie Postämtern und Briefträgern. Die einzelne Kammer kostet IS Pfz. lftedattion und Expedition: FodanniSgasje 8. Trlevbon Ar. 153. Ätr. 222, Nr. 1173. Morken-Auölsjabe 8. Handclszeitung. für Inserate an- Leivztg u. Umgebung die tzgespaltene Prttlzeile 25Ps., finanzielle An zeigen 30 Ps„ Neklamen 75Pf.; von auSwärtS 3<1 Ps., Reklamen 4 M.; vom Ausland 50 Pi., ßnanz Anzeigra75 Pf., Reklamen l.50 M. In'erate v.Behörden im amtlichen Teil 40Pj.^ Beilagegebüdr 5 M. p. Tauiend ertl. Poi>' tjrbüdr. Äeschäftsanreigen an b«0vr;uUer' »Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Tarn Fenerteilte Aufträge können nicht zurück gezogen werden. Für das Erscheinen an beilimmtea Tagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. Anzeigen - Annahme: AugustuSPlatz 8, bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- Expedilionell des In- und 'Auslandes. Berliner RedattionS-Bureau: Berlin >>^. 7, Prinz Louis Ferdinand- Straße 1. Telephon l, Nr. 9275. Ämtsblatt des Aates und des Nolizeiamles der Stadt Leipzig. Haupt-Filiale Berlin: TarlD un cker.Herzgl-Bayr.vofbuchhaadlg^ Lützowslraße 10 (Tel. Vl, 4603 . Nr. 13!. Sonnlaa 12 Mai 1907. 101. Jahrgang. Vas AicdligM vom Lage. * Gestern sand in Wiesbaden die Eröffnung des neuen Kurhauses in Gegenwart deS Kaisers und in Düsseldorf die Eröffnung der dritten nationalen Kunstausstellung in Gegenwart des Kronprinzen statt. (S. Dlschs. R. u. Feuill. u. letzte Dep.) * Der Reichstag wird wahrscheinlich schon am Diens tag sich vertagen und am 12. November wieder zu- sammeatrelen. * Ter Reichstag genehmigte den Weltpostvertrag unv die Zusätze zu dem Handels» und Schiffahrts abkommen mit der Türkei unv behandelte dann die Interpellation wegen der Grubenunglückssälle. (S. 2. Beil.) * Am Moutag findet eine vertrauliche Sitzung deS Braunschweiger Landtags wegen der Regenten wahl statt. Die Kandidatur deS Herzogs von Mecklen burg soll neuerdings wieder auf Schwierigkeiten ge stoßen sein. * Am heutigen Tage wird die Hauptversamm lung deS deutjchen Flottenvereius m Köln abge hallen. (S. Vorder. 2. Beil.) * Im Prozeß Liman — Mehring wurde gestern das Urteil res Schöffengerichts größtenteils aufgehoben. Mehring erhielt 210 Geldstrafe statt des Urteils aus l4 Tage Gefängnis, Kressin 300 statt eines Monats Ge fängnis, Dr. Liman aber 100 statt 50 Geldstrafe, Nur Segers Berufung wurde verworfen, eü bleibt sür ihn bei 25 Tagen GefaagnlS. (S. GerichlSsaal.) * Anläßlich der Demission MaforanaS stehen neue Veränderungen im italienischen Ministerium bevor. (S. Ausl.) * Die portugiesische Deputiertenkammer ist aufgelöst. Zorisle fiimora grors Serlin. Charlottenburg ist sehr stolz auf seine sozial pädagogischen Einrichtungen. Und es hat tat sächlich auf dem Gebiete manches Lobenswerte durchgesetzt. Der Volksschulunterricht ist unentgeltlich, die Lehrmittel der Volksschule werden auf einfachen Wunsch, das heißt ohne viel Umständlichkeit und Demütigung, den Kindern frei zur Verfügung gestellt. Bedürftigen wird Frühstück geliesert. Es gibt Schulärzte, Schulbäder. Es gibt sogar eine Wald schule, in der schwächliche Kinder Freilustunterricht genießen. Sehr schön. Wessen Herz sollte sich daran nicht erfreuen? Und doch, welche unglaubliche Rückständigkeit derselben Kommune am einem dicht benachbarten Schulgebiete — den Mittelschulen! Eharlotrenburg, eine der steuerkräftigsten deutschen Kommunen, sorgt warmherzig für die Kinder des Proletariats, des besseren Arbeiters, des kleinen Bürgers. Es sorgt sich aber recht wenig um die Kinder des Mittel standes. Es erfüllt leine Pflicht nicht, diesen Kindern die gewünschte, die unbedingt nötige Ausbildungsmöglichkeit zu geben. Ter Charlottenburger Stadtverwaltung scheinen die mittleren Schichten der Bevölkerung nicht besonders berück sichtigungswert zu sein. Sie kennt nur reich und arm. Die Reichen können sich selber helfen, können ihren Kindern Privatunterricht erteilen lassen, können sie irgendwohin in Pension schicken, können schlimmstenfalls verziehen. Aber was macht der Charlottenburger Bürger, der weder Prole tarier noch Krösus ist und seinen Sohn auf ein Gym nasium. seine Tochter in eine städtisch« höhere Schule schicken möchte? Vor allen Dingen übt er sich in Geduld, wartet mehrere Jahre, um immer wieder zu erfahren, daß in den Mittelschulen kein Platz ist, läßt seine Kinder Zeit und Möglichkeiten verlieren, petitioniert in angemessenen Zwischenräumen, um nicht als Querulant verschrien zu werden, und — schickt seine Kinder alsdann nach Berlin, Schöneberg, Willmersdorf oder Buxtehude, allwo sie in Mittelschulen Platz finden. Weil er aber in Charlotten- hurg wobnt, darf er einen jährlichen Zuschlag von je 30 oder mehr Mark für die Erlaubnis zahlen, ein Kind in die Schule einer fremden Kommune zu schicken. Der Bürger zahlt und segnet die sozialen Einrichtungen Cbarlottendurgs, die freie Volksschule, die freien Lehrmittel, die Schul hygiene und besonders die Waldschule. Man nennt das ia wohl moderne Mittelstandsfürsorge. In Rixdorf hat sich vor dem Schöffengericht eine Tragikomödie abgespielt, deren Held ein Gymnasial- yberlebrex war. Er sollte sein Dienstmädchen be schimpft haben, und das Mädchen wollte sich nicht beschimpfen lassen. Eine Bagatellsache, denn schließlich kann auch einem Gymnasialoberlehrer einmal die Galle überlaufen. Und die beleidigte Ehre des Mädchens kann sich an 50 Geld strafe, zu der das Gericht den Beleidiger verurteilte, wieder aufrichten. Nun kommen aber die Nehenumstände. Zunächst scheint in dem Beschimpfen doch ein gewisses Familiensystem gelegen zu haben, denn auch die Frau Gnmnasialoberlehrer wurde vom Gericht wegen desselben Delikts verurteilt, zu :>0 Geldstrafe. Und dann passierte vor den Schranken noch allerlei Merkwürdiges. In einem Zeitungsbericht heißt es darüber: Als der Vorsitzende des Gerichts die Be- llagten aufsorderte, aut der Anklagebank Platz zu nehmen, geriet der Oberlehrer in große Erregung und ries kreide bleich vor Zorn: „Ich bin ein Herr der besseren Gesellschaft: wegen eines Dienstmädchens gehe ich nicht auf die Anklagebank!" — Für die Belehrung des Vorsitzenden, daß ein Dienstmädchen auch ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft sei und ein Gerichts hof Standesunterschiede bei Angeklagten nicht machen könne, batte der Angeklagte anscheinend taube Ohren, und erst aus daS eindringlichste Zureden seiner Frau entschloß er sich, hinter die ihm so unangenehmen Schranken zu treten. Die Verkündigung de- Urteil- wurde von dem Oberlehrer mit dem Ausruf „Unverschämt!" ausgenommen, ein Wort, das ihm 50 Ordnungsstrafe eintrug. Ter Mann ist Chole riker. Und soweit das kür einen Pädagogen überhaupt eine Entschuldigung ist, mag sie ihm zugute kommen. Aber was für ungeheuerliche soziale Begriffe hat dieser Jugend erzieher! Und wie mag dieser Mann auf die ihm anver traute Jugend einwirken! Sollte es nicht geboten sein, sich die Erziehertätigkeit dieses sozialen Musterpädagogen ge nauer anzusehen? Seit einiger Zeit gehen bekanntlich durch die Blätter Mahnrufe, die nationale Selbstschätzung nicht zu übertreiben. Dies scheint schon gute Früchte ge tragen zu haben. In Berlin, besonders aber in Char- lottenburg, kann man nämlich häufig beobachten, wie deutsche Mädchen bürgerlicher Abstammung und guter Erziehung, dem Aussehen und Benehmen nach etwa Konl'ervatoristinneu, Erzieherinnen, alle nationale Selbst schätzung mit Erfolg bekämpft haben und nach der Ehre geizen, von den kolonicartig zusammenhausenden Japanern, Chinesen, Singhalesen, Russen, Slawoniern, Kroaten und anderen Volksangehörigen, die man früher als Toppstricker zu bezeichnen pflegte, als „Verhältnis" genommen zu werden. Es ist gar nichts Seltenes, diese Mädchen mit Demut und Hingebung den fremden „Herrenmenschen" nachlaufen zu sehen. Und geradezu empörend ist die nachlässig imperti nente Behandlung dieser Gänse unserer Rasse von den Män- Gemüsebau, zur Geflügelzucht und zur Gartenkultur in solchem Grade die charakteristische Erscheinung der Epoche, daß nicht mehr behauptet werden kann, die Existenz, bedingungen des Bauern hätten sich verschlechtert. Sie haben sich im Gegenteile verbessert. Und damit kommen wir zum Beweise aus dem Gegenteil. Einzelne Latifundien- besitzer, leider nur einzelne, haben diesen Beweis durch ihre vernünftige Landpolitik geliefert. Das leuchtendste Beispiel ist der Earl Carrington, der sowohl in Bucks als in Lincoln shire mit der Parzellierung großer Farmen unter gleich zeitigem Ausbau des Genossenschaftswesens vorzügliche Er folge, sür seine Bauern und für seinen eigenen Säckel, er zielt hat. Das ist freilich ein gründlicher Kontrast zur Politik der überwiegenden Mehrzahl seiner Standesgenossen. die auf das automatische Kapitalswachstum durch Bevölke rungsvermehrung, Bahnkanten, steigende Nachfrage für industrielle Zwecke usw. rechnen, ohne selbst Hand anzu legen Für die Kraßheit der Zustände sind zwei Erschei nungen charakteristisch. Die einzige Klasse ländlicher Arbeiter, die eine Stabilität der Zahl auszuweisen hat, sind die Wildhüter! Die zweite ist das schwindsüchtige, hohl äugige Aussehen der gesamten Stadtbevölkerung Englands, bestätigt durch die kolossale Kindersterblichkeit und die zu nehmende Unbrauchbarkeit des Militärersatzes! nern aus dem Osten. Und dann wundert man sich, wenn diese Leute den alten Respekt vor den Europäern verlieren. Aber wichtiger ist doch noch die Frage: Was sür eine Er ziehung müssen diese deutschen Mädchen gehabt haben? Wobei nochmals betont sei, daß es sich nicht nur etwa um Prostituierte bandelt. Müssen Familie und Schule ihnen in moralischer, sozialer, nationaler Beziehung nicht alles schul dig geblieben sein? Es Hilst nichts. Wir haben uns wegen dieser Mädchen zu schämen. Die Aussperrung im Baugewerbe ist für Ber lin beschlossen. Es gibt einen Riesenkampf. Die Zahl der Ausgesperrten wird auf 100 000 geschätzt. Und wenn man den tiefsten Ursachen dieses gewaltigen Ringens nachforscht, wenn man in die Seelen der einzelnen steht, so kommen die merkwürdigsten Regungen zutage. Ist cs wirklich die tiefe Sehnsucht nach der achtstündigen Arbeitszeit, die den Bau- Seit Jahrzehnten ist die große Mehrheit der Nation davon durchdrungen, daß die Landfrage die Grundfrage aller Sozialresorm ist, die einzige Frage, die im nüchternen Eng. land, richtig agitatorisch aufgefaßt, zu einer revolutionär heftigen Bewegung führen könnte. Kommissionen über Kommissionen haben getagt, die Theoretiker und Menschen freunde haben sich in ihren Ratschlägen erschöpft, keine kon servative Negierung hak bisher gewagt, der Notwendigkeit der Landreform ins Gesicht zu sehen, keine liberale Negie rung hat bisher die Lcbensspanne und die politische Macht besessen, um sie anzuiassen. Mit den Reden Cambell- Vanncrmans auf dem Bankett der englischen Landreformer- geiellschaft und Winston Churchills im Drury-Lane Theatre hat die jetzige liberale Negierung die Landsrage nicht nur angeschnitten, sondern sie in das Mitteltreffen des Kampfes 1 Politik de> ,.^'i gegen das Oberhaus gestellt. Ter zum künftigen Führer des Unterhauses erkorene und kürzlich zu Kabinettrang erhobene Mr. Harcourt wird noch in der laufenden Session eine Reihe organischer Gesetze zur Landreform durch das Unterhaus bringen, die <o radikal gehallen sein werden, daß sie in der ' " iiiz- Ille cup" gegen die Lor-s d»m Tropfen darstcllcn, wela-cr den Becher zum Ueberlousen bringen soll. Ter Eckstein der geplanten Reform ist die Aufnahme eines Dodcnkalasters für den städtischen wie den ländlichen Grundbesitz, unter gleichzeitiger Feststellung der Bodenwerte. Dabei sollen Grundwert, Gebäudcwert und Meloriations- wcrt besonders ausgenommen werden. Dieser Kataster soll die Grundlage für eine Reform der Grundsteuern bilden, bei welcher das Ziel verfolgt wird, den nicht verdienten Wertzuwachs in Steuersorm der Kommune dienstbar zu arbeiter so sinnlos halsstarrig macht, daß er alle Mahnungen seiner gewerkschaftlichen und politischen Führer in den Wind fchlägt? Daß er den Vorschlag des Schiedsgerichts mit der Aussicht auf eine sehr erhebliche Erhöhung des jo schon hohen Lohnes verwirft? Bei einzelnen iozialtheoretisch i erschallen Fanatikern Wohl Aber bei der Mehrzahl k ium.-^ Unterhaltungen mit Bauarbeitern zeigen das. Mit ver blüffender Offenheit kann man hören: „Wir haben so lange in die Kasten gezahlt, daß wir auch einmal etwas heraus haben wollen." Es ist nickt so sehr die Lust am Blaumachen, die dabei eine so große Nolle spieli, als vielmehr das Be dürfnis, die Erfolge der jahrelangen Opfer zu sehen. Man hat den Leuten so lange von dem Segen und der Macht ihrer Organisation vorgeredet, daß sie die rechten Begriffe, den richtigen Maßstab verloren haben. Tiktatorengclüite der Masse. Verworrene Gefühle. Vielleicht auch die Sehnsucht nach einer Entscheidung, einer Klärung, nachdem die poli tischen Wahlen so schwere Mißerfolge gebracht haben. Und darum die Entfesselung eines törichten, grausamen, gütcrzer- störenden Kampfes, der 100 000 Männer wochenlang zur Untätigkeit, die Famihen zu dürftiger Ernähruna zwingt, die Kindersterblichkeit in die Höhe schnellen läßt. Do bleibt die vielgerühmte soziale Erkenntnis der hochintelligenten Berliner Arbeiterschaft? Wir vermögen sie in diesem Falle nicht zu entdecken. machen. Hand in Hand mit diesen, wesentlich an das Vor bild der preußischen Grundsteuerreform angelehnten, aber den Ideen der Bodenreformen noch etwas radikaler ent- gegenkommenden Plänen soll die Autorisation der Ge meinden zu einer sozialen Bodenpolitik nach Frankfurter Muster und die Förderung des ländlichen Genossenschafts wesens gehen. Die Wohnungs- und Sanitätsgesetzgebung soll gleichzeitig einer entsprechenden Adoption unterzogen werden. vir englischr LatMesolm. (Von unserm Londoner L.-Korrespondenten.) In Frankreich befinden sich nur etwa 5 Prozent des Ackerbodens in den Händen des Großgrundbesitzes. Jaurös hat den Code Napoleon, besten Erbrecht wesentlich zur Er zeugung dieses Zustandes beigetragen hat, die „Hackmaschine des Bodens" genannt. Der Zustand ist nicht ganz gesund, weil nichts geschieht, um die noch immer fortschreitende Aus teilung des Bodens in erträglichen wirtschaftlichen Grenzen zu erkalten. Der Krach des Landkredits wird nur durch den französischen Hochschutzzoll aus Landbauprodukle aufgehalten. In England. Schottland und vor allem in Irland haben wir den genauen Kontrast. Noch nicht fünf Prozent des nutzbaren Bodens, in diesem Falle auch des städtischen, sind im Besitz des Kleinbürgers. Die Günstlingswirtschaft des 16. bis 18. Jahrhunderts Es ist sicher, daß das Unterhaus dieses gewaltige Reform- wer ohne wirksamen Widerstand verabschieden wird: eine Perspektive, sie die Vorzüge eines wirklich parlamentarischen Systems gegenüber einem pjeudoparlamentarisch«n er läutert. Es ist eboni'o sicher, daß das Oberhaus dieser „ein äugigen" Reform einen heftigen Widerstand leisten wird. Tenn schon in der Ankündigung haben beide Minister darauf hingewiesen, daß die Katastrierung durch die staatliche Zwangspachtuug auf ewige Zeiten und eventuell durch die Enteignung renitenter Lalifundienbesitzer ergänzt werden könne. Dieses sind die „sozialistischen Ausschreitungen", vor denen kürzlich Lord Rosebery das Kabinett gewarnt hat. Nicht so sicher ist aber, daß das Oberhaus, wenn diese „Aus- schreilungen" unterbleiben, in letzter Stunde die Hand zum Kompromisse bieiet. Vor wirtlich revolutionären Attacken hat es stets die Waffen gestreckt. Und diese Landreform ist der revolutionärste Angrijf, den das landbesitzende England, das aue England, bisher erlebt Hal. bat zuerst zur Zusammenballung von Landmassen geführt, die beute noch die Geschicke der Städteentwickelung in die Hände weniger Aristokraten legt, welche überdies durch ihren Eisenbahnbesitz die Wertfluktuation des Bodens willkürlich bestimmen. Der Agrikulturboden ist großenteils brachgelegt, der Pächter großenteils rechtlos und kaum in einer besseren Stellung als der preußische Leibeigene vor der Stein- Hardenbergschen Reform: das Grundrecht und das Lokal steuersystem hat den aristokratischen Bodenwucher legalisiert und in Permanenz erklärt. In diesen Beziehungen steht England hinter Rußland zurück. Wer den städtischen Land wucher kennen lernen will, besuche die Arbeiterquortiere der Großstädte, wo er schauerliche Eindrücke des Wohnungs. elends empfangen wird. Je weiter von den Großstädten ab, besonders im Norden Englands, desto unglaublichere Folgen des Bauernlegens wird man erblicken. Daß für die Brachlegung des Ackerbodens zu Weide- und Jagvzwecken nicht nur die Zollreformära und die Aera der transozeanischen Verkehrserleichterung verantwortlich sind, geht aus zwei Beobachtungen hervor. Im Jahre 1881 gab es in Großbritannien noch 983 000 landwirtschaftliche Arbeiter. Im Jahre 1901 war diese Ziffer auf 689 000 ge sunken. Ter Zustrom der Landbevölkerung nach den In dustriestädten hat damit weit weniger zu tun, als die kolossale Auswanderung nach den Kolonien, die aus dieselben Ursachen zurückgeht, wie die Entvölkerung Irlands, nämlich auf den Truck und die Bewucherung durch die großen Latifundien- besitzer. In diesen 20 Jahren bat überdies auch in Eng land der methodische und wissenschaftliche Landbaubetrieb solche Fortschritte gemacht, ist der Uebergang -um Obst» und üeiouieüe nver IS70/71. Tex patriotische Hitzkopf Teroutöüe Hal jür uns Deutsche etwas vvn e.nem Bramarbas over auch von einem Don -r.Uirvt!!. Sc:u Nauonakirorz har ost genug lenen Grad vvn Eyauvinismus erreicht, oer außerhalb Frankreichs als Farce ooer als Manie wirten mugle. Um jo erireulicher ist es, wenn oerfelbe Deroulöde sich einmal ehrlich bemüht, in möglichst objeltiver Weste die Tinge zu beurteilen, wenn er die guten Elgenschajlen der Treulichen rückhaltlos anerkennt und die Mangel sran- zösijchen GejelstchaslS- und MiUläriebens nicht verschweigt. Wenn er, dessen „Soldatenlieder" einst einen so jtarken Widerhall m Frankreich gefunden haben, nun mit einem „Kriegstagebuch 1870" vor die Oestenlstchkelt tritt, und wenn er, der Führer der Patriotenliga, Licht und Schalten >n diesem Buche io verteilt, daß Deutschland besser wegkommt als Frankreich, so kann er den Anspruch erheben, als denk würdiger Zeuge zu gelten, wenn man sich unwillkürlich auch fragt, warum Herr Deroulöde seine Erinnerungen an den großen Krieg, die nach seiner eigenen Angabe auf sofortige Auszeichnungen sich stützen, erst heute, nach 36 Jahren, an die Ocnentnchkeit gelangen läßt. Das hohe Alter macht wohl einen guten Wein, aber kein festes Gedächtnis. Tie autorisierte deutsche Ausgabe der Teroulödcschen Publikation ist nicht in Deutschland erschienen, sondern bei G. Grimm in Budapest. Was immerhin ein bloßer Zufall sein kann, da die Deutschen über nichts in ibr zu erröten brauchen. Tenn daß er einmal von einer Perfidie Bis marcks spricht, darüber läßt sich hinweglesen, und wenn er das Wort „Stock" in „Stockpreuße" mit käwn übersetzt, und an dieses batcni einige Folgerungen knüpft, so entschuldigt ihn die Unkenntnis der deutschen Sprache, die mit „Stock preuße" soviel wie „Kernpreuhe" sagen will, die aber in dieser Zusammensetzung Weber an den Spazierstock, noch au den Prügelstock denkt. Andrerseits gibt er unumwunden zu, daß, so wie es Mollkes Stärke war psychologstche Momente auszunuven, Bismarck vortrefflicher als irgend 'emand die Kunst verstanden habe, sie vorzubereiten. Uno es ist sicher kein geringes Lob. wenn er ihn :n dieser Beziehung mit König Ludwig XI. vergleicht, der den Grund zur unumschränkten Monarchie in Frankreich gelegt hat. Ganz besonders gut zu sprechen ist Törou- löde auf die Sachsen. Auf dem Schlachtfeld und im Lazarett hat er gute Erfahrungen mit ihnen gemacht, hat sie als menschlich und gutherzig kennen gelernt und glaubz nun, sie in schroffen Gegensatz zu den allzu schneidigen Preußen stellen zu müssen. Aber wenn er sagt: „Ich glaube ebensosehr an die Güte der sächsischen Volksseele, wie an die Tücke der preußischen", so ist das natürlich ein an sich ganz unhaltbarer Gegensatz. Tenn die Menschlichkeit und Barmherzigkeit sind nicht an Ort und Zeit gebunden. Und es wäre ein recht engherziger Patrio- lismus, in den kein Verständiger wird Versalien wollen, deu Preußen alle die guten Eigenschaften schlankweg absprechen zu wollen, die den Sachsen nachgesagt werden. Tiefe oder lene Eigenschaft mag hier mehr, dort geringer entwickelt sein, aber die Menschlichkeit fällt nicht in diese Rubrik. Tenn sie ist kein Spezialbegriff, sondern ein Weltgesühl. Vielleicht aber sieht Herr Deroulöde ganz gegen leine Ge wohnheit in seinem ^Kriegstagebuch" zu ichwarz in bezug aus sein Vaterland. Mit Entrüstung erzählt er von Kriegs- räubern, die sterbende Soldaten ausraubten. Und er er zählt es von seinen eigenen Landsleuten. Mit ver haltenem Zorn berichtet er von jenem unverschämten, grau samen Militärarzt, der ihm zurust: „Scheren Sie sich weg!", als er seinen scbwcrverwundeten Bruder pflegen will, und der ihn durch eine Anzahl Teutscher festnehmen läßt, da er der Aufforderung nicht sogleich nachtam. Und es ist ein Franzose, von dem er diese Rüpelei berichtet. Ja, mehr noch. Er spricht ganz offen von der Verlotterung im französischen Heere, die von vornherein zu den ärgsten Be denken Anlaß geben mußte. Ein Deutscher traut kaum seinen Augen, wenn er von der Disziplinlosigkeit und den gelegentlichen Revolten erfährt, die doch Tatsachen sind. Daß zur Zeit des Kriegsausbruchs und in den Tagen der offi ziellen Kriegserklärung manche zum Frieden rieten, kann nicht weiter verwundern. Daß solche Schwärmer aber mit ten unter die Soldaten irelcn und sie zum Niederlegen der Waffen aussordcrn dursten, ohne baß die Offiziere Ein- spruch zu erheben wagten, das ist denn doch ein starkes Stück. Tie Fahrt nach der Grenze nennt Deroulöde „eine einzige, lange Meuterei". Trotz des Verbotes der Offiziere hockten die jungen Leute auf den Dächern der Eisenbahn wagen, sie lärmten und brüllten ohne Unterlaß und be tranken sich auf jeder Station von neuem. Sogar im Lager, in unmittelbarer Nähe der diensthabenden Offiziere, wur den Spotllieüer aus den Kaiser gesungen, und zwar immer jo daß irgendeine Gruppe ansing, eine andere den Gesang lortsctzte oder Zwischenrufe höhnischer Art machte, so das es zur Unmöglichkeit wurde, einen einzelnen zur Rechen- schasl zu ziehen. Griff man dann einmal zur Massen- obftrasung, so wurde zwar die Ordnung Halbwegs wieder hergcstellt, aber die allgemeine Unzufriedenheit war in be denklicher Weise vergrößert. Es ist auch ost genug vorge- kvmmen, daß oppositionelle Blätter massenhaft im Kriegs lager verteilt wurden. Ebenso bat man sich nicht vor dem schier unbegreiflichen Fehler gehütet, alle Han lungen des obersten Kommandos mehr oder minder abfällig vor der ge samten Mannschaft zu kommentieren, so daß jeder Gemeine sich schlauer »üblen mußte als der zur Führung beru'euc Offizier. Tie Taktik und die Strategie würben fast täglich durchgehechelt. Korporal A. erklärte, man hätte diesen Weg nehmen sollen und nicht jenen, Sergeant B. bewies, daß die deutschen Kanonen — was übrigens richtig war — weiter trügen als die französischen. In dieser Weise wurde die Manneszucht fast mutwillig erschüttert. Kurz vor der Schlacht bei Sedan ist es vorgekommen, daß man, obwohl man den Feind in großer Nähe vermutete, beim V. Korps vergessen hatte, Wachtposten auszustellen. Auch die Re kognoszierung war mehr als mangelhaft gewesen, so daß die preußischen Granaten ganz unerwartet in die Armee hinein- schlugen. Tic Verproviantierung war völlig ungenügend organisiert. Unter den Offizieren selbst gab es welche, die eine Niederlage für unvermeidlich hielten. Deroulöde be richtet von seinem Major Hervö, der ihm am Anbrnch des Schlacbitaaes vvn Sedan gesagt harte: „In drei Stunden sind wir besiegt und in drei weiteren umzingelt. Jch^habe es vorausgesehen. Wir sind im Rachen des Löwen." Schon nach der dritten Granate wurde die Position der französi schen Batterien unhaltbar. „Alle Geschosse des Feindes", berichtet Deroulöde, „trafen, von den unseren gelangten nur wenige ans Ziel. Von dieser zermalmenden Ungleichheit und den erzwungenen Verschiebungen unserer Geschütze rührte das erste Wanken der französischen Armee her." Wiederum bestätigt uns das Kriegstagebuch Teroulödcs. daß kein Franzose im Augenblick nach der Niederlage von Sedan an bas Ende des Krieges dachte. Es gab Optimisten, die Kontcrmarsch nannten, was doch allaemeine Flucht war. Aus dem Wirrwarr der sich widersprechenden Befehle konnte niemand mehr klug werden. Es war ein sorlwäbren- des orckre, eontn-orckre, ckösorckre. Wie zerfahren der Rück zug war, zeigt deutlich bas Beispiel, das Deroulöde mitteilt: Auf einem steilen, abschüssigen Wege fuhren zwei Artillerie- batterien in langem Trab. Plötzlich bleiben sie stehen, Werde werden auf Pferde gestoßen, Kanonen und Muni tionswagen fabren zurück, und alles ist in Gefahr, über den Tamm den Hügel hinunterzukollern. Und der Grund? Drei andere Artilleriebatterien, die im Galopp aus der entgegengesetzten Richtung kamen, waren mit den ersten zulammengestoßen. Es war unmöglich die einen wieder hinauf, die anderen wieder hinunterzufübren. Tie Fliehenden hatten sich die Straße selbst unpassierbar gemacht. Den Mangel an strancr Zucht im französischen Heere er- klärt Deroulöde wohl nicht unrichtig aus der politischen Ge- samtstimmung vor AuSbruch. des Krieges beraus. Tie meisten waren aniikaiscrlich gesinnt und sie wünichlen ins geheim. daß die Armee eine Schlappe erleide, damit das Kaisertum infolgedessen zusammenbreche. Auch Teroulöde be kennt offen, daß er noch kurz vor 1870 ein überzeugter An- bänger der Friedcnsidee unv des Weltfriedens und alles andere als ein Freund Napoleons III. gewesen sei. Ja. er war sogar antimilitaristisch gesinnt und mehr einem Zufall als eigenem Willen verdankte er seine Ernennung zum Leut- nant ber Mobilgarde. Als er sich aber einmal mit seiner neuen und so aktuellen Würde abzusinden batte, da zeigte sich in ihm die Anpassungsfähigkeit und -schnclligkeil, die dem Franzosen überhaupt eigen ist. Er revidierte seine Ideen schnell und gründlich und sah seine Hauptauigabe a!S Offizier darin, die zersetzenden Lehren aus den Köpfen der Soldaten zu treiben, die man damals in gewissenloser Weise bineingcpslanzt hatte. Ein Verteidiger Deroulöde? sagte später einmal in einem Pro-esie zu den Richtern: „Wie bei manchem Gläubigen die Religion, so ist bei Deroulöde dcS Vaterland eine fixe Idee." Und er batte recht damit. Paul Deroulöde bat für seine Ueberzeugung männlich gekämpft und geduldet. Da- dar s ihm keiner absprechen.