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Gesetz wurde im Jahre 1897 vorbereitet; aber noch bevor es denk Parlament zur Genehmigung vorgelegt wurde, ent fesselte es einen Entrüstungssturm der Spinnereibesitzer, die das Ministerium beschuldigten, es wolle sie ganz verderben. Schließlich kam es zu einem Vergleich, man stimmte für eine zum Spott herausfordernde Abfassung, die man noch nicht einmal in Kraft setzte, und die Inspektion wurde niemals wirksam. Zwei Besonderheiten kennzeichnen die Organisa tion der japanischen Großindustrie: einerseits überwiegt die Nachtarbeit die Tagarbeit; die Arbeitgeber erklären, das Personal selbst gäbe die Veranlassung hierzu, da die Fabrik räume im Sommer frischer und im Winter wärmer als die Wohnungen wären. Andererseits l)at jede große Fabrik einen Schlafsaal und eine Speisewirtschaft für ihre Arbeiter. Freilich sind diese Betten äußerst primitiv und die Bekösti gung ist jämmerlich. Die Industriellen gewinnen bei diesem System doppelt, da sie auf die verkauften Nahrungsmittel eine Abgabe erl-eben, und da sie die Arbeitskräfte leichter zurückhalten, die ihnen sonst in irgend einein Augenblicke fehlen könnten. Bei Kanefngashi verlassen die Arbeiterin nen die Kaserne, in der sie eingesperrt sind, nur drei- oder viermal wöckxmtlich, bei Boseki sind sie nur von 0 bis 8 Uhr abends frei, und wehe denen, die einige Minuten zu spät kommen. — Gegen de» Führer der Anarcho-Sozialisten, Dr. Friedebcrg, gehen die Genossen schon vor. Ec hat am Mittwoch im 0. Berliner Wahlkreis gesprochen und dabei wurde ihm die Litulation „Genosse" versagt, auch in der Lersamm- lungsanzeige fand sich diese nicht. Genosse Ledebour war sein Korreferent, eine Diskussion konnte noch nicht statt finden. da die beiden Referate den ganzen Abend aussüllten. Rußland. — Uebec den PstriotismnS der russischen Jnbcn be- kommen wir eine eigene Anschauung, wenn wir nn Invalid Ruski lesen: „Während der Mobilisierung Rußlands im September, Oktober und Dezember 1904 wurden 5,9 269 Juden einberufen. Nur 21 !!7l oder 39,3 °/g konnten aber zu militärischen Dienstleistungen herangezogen werden, da der Nest zum Teile über die Grenze entsloh oder sich ro l der Dienstleistung durch Angabe von Krankheiten nnd durch andere Machinationen freizunrachen wußte. Im Bez'rki Chotiu, der förmlich von Inden strotzt, entfiel ans tausend einberufene Christen nur ein einziger Jude. Man kann sich nicht wundern, daß die Christen einen offenen Jnd n- haß zur Schau tragen, denn den Juden wurden seitens der Negiernngsbeainten die größten Vorteile gezeigt, der christliche Soldat aber mußte für sie bluten. Troß dieser treffenden Angaben finden wir noch tagtäglich in den Judenblättern himmelschreiende Artikel, die von einer Miß handlung der Inden schwätzen." Vermischtes. V V o n W i e n nachParis p o r 5) 0 Iahre n. Be zeichnend für die Fortschritte des Verkehrswesens in der zwei ten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ein Vergleich zwischen der Eisenhahnfahrt von Wien nach Paris heutzutage nnd im Jahre 185,5,, in welchem Jahre durch den Ban oder Ausbau einiger Linien erst eine nnnnterbrochene Bahnreise nach Paris möglich wurde. Tie Ankündigungen in Zeitungen nnd Zeitschriften besagten damals stolz, jetzt sei cs möglich. die Reise „ganz per Eisenbahn" zu machen, während man früher streckenweise immer sich noch dem Postwagen hatte anvertrauen müssen. Da die österreichische Westbahn damals noch nicht bestand, mußte die Reise nach Paris vom Nord- bahnhofe angetreten werden. Die „Norddeutsche Route" führte den Reisenden über Prag, Dresden, Leipzig, Mägde- bürg nach Hannover, Minden, Hamm, Köln und von da über Aachen und Lüttich, Namur und Valenciennes nach Paris. Wer Wien um 6^ Uhr früh verlassen hatte, ge langte am vierten Tage seiner Reise um 5 Uhr nach mittags nach Paris. Die Reise dauerte also ungefähr 83 Stunden — milinbegriffen die mitunter vielstündigen Auf enthalte in den Hauptstationen. — Die zweite, die „Süd deutsche Route", führte über Prag, Dresden, Leipzig nach Hof, von da über Bamberg. Frankfurt a. M. und Kastel nach Mainz und von Mainz über Ludwigshafen nach Forbach an der französischen Grenze. Man erreichte Paris erst uni 9 Uhr 15 Minuten am vierten Reisetage; die ganze Reise dauerte 87 Stunden. Trotz diesen an Umwegen reichen und kostspieligen Fahrten mit ihren langen Aufenthalten und ihrem Mangel an Bequemlichkeit wurde vor 50 Jahren die Möglichkeit, ans diese Weise von Wien nach der französischen Hauptstadt zu kommen, begreiflicherweise als Triumph des modernen Verkehrswesens betrachtet. v Z u r F l e i s chu o t f r a g e schreibt der „Reichsanz.": Unkontrollierbare Statistiken haben uns veranlaßt, au der Hand der anitliclien Zahlen eine Aufstellung über die Auf triebe au acht der größten preußischen Schlachtviehmärkte für die verflossenen acht Monate, Januar bis einschließlich August, zu machen und zum Vergleich die Auftriebszahlen für den gleichen Zeitraum der Jahre 1903 und 1904 heran- znziehen. Der behauptete ungeheure Viehmangel erhält dann folgendes Aussehen: n.. kc. i. r. - - Jan./Äugust Jan./Äugust Jan./Slugusl 1003 1901 1905 Berlin: Rinder 114 044 149 702 159 547 Kälver 18t 146 137 087 142 238 Schafe 896 626 383 075 305 718 Schweine 683 730 792 886 790 792 Stettin: Rinder 8 842 8 619 l'i 151 Kälber 8 862 8 823 10 123 Schafe 18 577 17 956 18 472 Schweine 45 454 50 426 48«'18 Posen: Rinder 2 233 2 384 2 571 Kälber 8 150 8 451 0 634 Schafe 3 222 2 378 3 472 Schweine 21 837 22 546 21 843 Breslau: Rinder 30 527 32 860 34 308 Kälber 36 101 37 912 43 827 Schafe 10 200 18 86 t 10 077 Schweine 00 682 96 503 9l 641 Magdeburg: Rinder 8 370 9 023 10 540 Kälber 12 565 12 562 13 691 Schafe 5 563 10 084 10 853 Schweine 62 265 59 602 63 965 Hannover: Rinder 10 263 10 048 11 00!« Kälber 11734 11 067 12 175 Schafe 0 042 0 062 16 116 Schweine 46 752 55 110 55 311 Köln a. Rh.: Rinder 40 593 40151 30 023 Kälber 37 034 34 418 37 858 Schafe 17 608 18 040 16 983 Schweine 118 682 143 240 135 784 Frankfurt Rinder 45 150 43 214 46 402 a. M.: Kälber 51 137 40 743 52 493 Schafe 10 852 1 l 528 11 768 Schweine 08 053 110 630 115 323 An sechs von diesen acht Märkten ist im laufenden Jahre , allerdings ein Rückgang des Schweineaustriebes zu ver zeichnen; er beträgt aber im ganzen für alle acht Monate zusammen nur 21 849 Stück oder 1,78 Prozent des Auf- triebes von 1904, und gegenüber dem Jahre 1903 ist noch eine Steigerung des Auftriebes auch an diesen Märkten um 144 063 Schweine zu verzeichnen. Zwei Märkte, Mägde- bürg und Hannover, weisen sogar auch im Jahre 1905 eine weitere Steigerung gegen das Vorjahr auf. Ein noch ganz anderes Bild würde man erhalten, wenn man auch die Äuf- triebszahlen aus dem Jahre 1902 zum Vergleich heranziehen würde, doch wollen wir uns mit dem Hinweis dar- auf begnügen, daß in dem „Fleischnotjahr" 1902 der Berliner Markt in den ersten acht Monaten nur mit 584 258 Schweinen beschickt war, daß also im Jahre 1905 allein auf dem Berliner Markt 206 534 Schweine mehr auf getrieben worden sind. Was nun die Preise betrifft, so kosteten nach den Nachweisen des Kaiserlichen Statistischen Amtes über den auswärtigen Handel des deutschen Zollge bietes — also einer gewiß unanfechtbaren Quelle — im Januar—März 1900 die Schweine im Durchschnitt pro Dop pelzentner 90 Mark und 1905 schon 117 Mark. Seitdem sind die Preise in den letzten Monaten bis auf 130 Mark gestiegen. Ochsen wurden 1898 im Januar—März mit 100,9 Mark bezahlt, 1905 kosteten sie schon 122 Mark im Januar und 137,60 Mark im Juli dieses Jahres. Es sind dies immer nur Durchschnittspreise. Kälber kosteten 1898 im Januar —März 133,6 Mark, in derselben Zeit 1905 schon 163,1 Mark und im Juli—August 1905 bereits mitt lere Kälber 170 Mark. Mastlämmer stellten sich auf 109 Mark im Jahre 1898, 1905 scl)on auf 135 Mark. Die Preis steigerungen sind also sehr bedeutend und erstrecken sich nach den Angaben des kaiserlichen Statistischen Amtes nicht nur auf Berlin, sondern, soweit die Berichte vorliegen, ans Min- chen, Danzig, Köln, Hannover, Magdeburg, Frankfurt a. M., Leipzig, Dresden, Chemnitz i. S. v Mandschurische Kaufleute weilen zur Zeit in größerer Zahl in Berlin, um Chardin und andere Mittel punkte des russischen Heerlagers für die Wintersaison mit Waren zu versehen. Die Wahrscheinlichkeit des bevorstehen den Friedensschlusses ziehen sie bei ihren Geschäften nickt in Rechnung, da es selbst im günstigsten Falle noch Monate dauern dürfte, bis der größte Teil des russischen Militärs die Mandschurei verlassen haben wird. Die Einkäufer, nicht un gebildete Leute, welche russisch und französisch sprechen, be suchen in Begleitung hiesiger Agenten die größten Firmen der verschiedensten Branchen. Sie kaufen hauptsächlich Woll- nnd Trikotwaren, Tnchstoffe, Wäsche, aber auch Handschuhe, Passeinenteriewaren, feine Licmenre und Konserven. Selbst für billige Galanteriewaren, Ein- nnd Treimarkartikel schei nen sie in Cbarbin Verwendung zu haben. Als Kundschaft sind sie gern gesehen, da sie nicht lange wählen, keine Aus stellungen wachen nnd gut und bar zahlen. v Ein Dieb i in Vatikan. Wahrend Leo Xlll. seinen Soinmeranfenthalt in die vatikanischen Gärten zu ver legen Pflegte, zog Pins X. es vor, im vatikanischen Palast den ganzen Sommer hindurch zu bleiben und befahl, alle Kunstwerke nnd Möbel wieder in den Vatikan zurückzu bringen. Aber man führte den Befehl des Pontifex nicht nur nicht ans, sondern ließ das Kasino aus len Tagen ss L- — 6 — „Um so ehrenwerter, daß sie cs in verbältni-inäßig kurzer Zeit zu einer respektablen Position gebracht." „Ja. wer auch einen solchen Sohn besitzt, wie den Gerhard, den Pracht menschen, der kein anderes Interesse kennt, als seine Familie." Und jetzt widersprach niemand. In bezug ans den Bankier Gerhard Kirchner gab es nur eine Stimme: er war das höchste Kleinod seiner Familie, ihm hatte die Mutter einen leichten, sorgenlosen Lebensabend, die Schwester eine srendenreiche, glückliche Jugend zu danken. Ja, ans einen solchen Solm nnd Bruder konnte inan schon stolz sein. Freilich, der Fainilienanbang brachte ihn um jeden Vorteil, das lag ans der Hand. Das Heiraten schien Kirchner verschworen zu haben. Ein Mann in seinem Alter — er batte die Mitte der Dreißig fast erreicht — der hatte doch wobl längst eine junge Fron heiniführen müssen! Aber das gestatteten seine Angehörigen wobl einfach nicht. — Die nützten ihn natürlich ans, die Alleinherrschaft ist viel zu angenehm. Das würde einen erbitterten Kainpf geben, wenn der Herr Bankier seiner Mutter znnintete, einer jungen Frau zu weichen. Wo er ein so guter Sohn ist. wird er längst still resigniert auf alle eigenen Wünsche verzichtet haben, selche Verhältnisse kennt inan. „Mit seinem Reichtum muß es doch eine eigene Bewandtnis haben," sagte jemand, „so ans dem Nichts heraus avanciert man in zehn Jahren nicht vom Bettler znm Bankier." „Kirchner ist ein kaufmännisches Genie!" rief eine junge Frau, „mein Man» schwört ans ihn. Er arbeitet für drei und besitzt Scliarfblick für eben so viele. Dolchen Menschen, sagt mein Mann, gelingt es immer, sich aus eige ner Kraft emporznringen." Diese letzte Bemerkung fand sehr viel Beifall. Besonders die heirats fähigen jungen Mädchen trollten Kirchners klares Bild durch keilten Schatten verdunkelt ieben. Mit den Angriffen ans die Familie nahm man es so ge nau nicht. Es gab böse Jungen genug, die der Betätigung bedurften, mochten sie sich an den beiden, nur durch die Gnade ihres Verwandten existierenden Frauen sckvidlos halten, ihn selbst aber sollte keilt Vorwurf treffen. In dem buntslntenden Strom der medisierenden und flirtenden Gesell schaft befand sich auch eilte durch Scklönheit nnd Eleganz auffallende junge Dame, welche sich mit keinem Worte an der Unterhaltung beteiligte. Nur spöttisch nnd mit unendlicher Verachtung blickte sie drein, so oft inan Kirchners Loblied sang. Mehrmals schien es auch, als wolle sie lebhaft, vielleicht sogar heftig Einspruch erheben, aber sie wußte über ein ungewöhnliches Maß von Selbst beherrschung verfügen, denn io drohend cs auch in den großen, feurigen Augen aufblitzte, blieben die Lippen doch fest geschlossen, ja, die gesunden, wie Perlen schimmernden Zählte gruben sich tief in die Unterlippe, um nur ja jeden Laut zurückzuzwingen. Ihr Begleiter, ein hochgelvachscncr, blonder Mann, dem man leicht den Künstler ansah, betrachtete sic forschend, zuletzt mit einem schalkhaften Lächeln. „Nun, Wanda," fragte er endlich mit einer sonoren Stimme, „welches geheime Interesse nimmt du eigentlich an dein jungen Kirchner, dein Mienen- spiel läßt die verschiedensten Deutungen zu." Ter jungen Dame kam die Erkenntnis, daß sie beobachtet worden lvar, so ganz unerwartet, daß eine echt mädchenhafte Verwirrung ihr das Blut ins Gesicht trieb. Doch schon war die Ueberraschnng überwunden und das Spott- lächeln umspielte von nenem die vollen Pnrpnrlippcn. „Deine Menschenkenntnis treibt seltsame Blüten, Harold, die im Lichte einer kühnen Phantasie gedeihen." „So? Bist du wirklich davon überzeugt? Warum bliebst du denn stumm bei dem Lobhymnns auf den Bankier? Mißfällt dir der Beifall, den man seinem Streben, seiner Pietät zollt, so sehr?" „Durchaus nicht, er läßt mich vollständig gleichgültig. Nur setzt cs mich in Erstaunen, wie leicht die Welt bereit ist, dem Scheine zu huldigen." Der Herr sah wieder mit großen fragenden Augen auf seine Begleiterin, in deren Züge ein harter, fast finsterere Ausdruck getreten war, der fremd, fast unheimlich in dem idealen schönen Gesicht anmntete. „Deine Worte bedeuten eine schwere Anschuldigung, Wanda, bist du dir dessen bewußt?" „Eine Anschuldigung — ein geheimes Interesse — tvas quälst du mich nur? Was geht jener Mensch mich an! Nichts, nicht das allergeringste! Es wäre walirlmftig zu viel Ehre für ihn, wollte ich auch nur seinen Namen in den Mund nehmen!" „Wanda, das ist ein böses, vernichtendes Wort!" Ihr blaues Auge, das so seelenvoll blicken konnte, hatte sich tief gesenkt, wie dunkle Schatten lagen die langen, dichten Wimpern auf den blühenden Wangen. Harold betrachtete seine Schwester mit einer wachsenden Unruhe. „Also doch ein geheimes Interesse," sein Ton klang jetzt freilich ernst genug, „ich dachte es mir wohl." „Nun ja denn, tvenn du es so willst, ein Geheimnis," brach es da stür misch von Wandos bebenden Lippen, „ein Geheimnis, das mir die Jugend, den Glauben zerstört hat, um das ich jenen Menschen hasse und verachte ans tiefster Seele! Bewahre das, n>as du mir wider meinen Willen entrissen hast, gut, komme nie wieder auf dieses Thema zurück, ich bitte dich." Harold hatte ihr niit tiefstem Ernst zugehört. Jetzt legte er, sic dicht zu sich kreranziehend, den Arm um Wandas herrlich modellierte Taille, die unter dem großen Pelzkragen noch graziöser als sonst erschien. „Es bedurfte deiner Bitte nicht, Schwesterherz," sagte er weich, „und hätte ich eine Ahnung gehabt, an einen tieferen Konflikt zu rühren —" „Aber du hörst doch —" unterbrach sie ihn heftig, fast leidenschaftlich. „Also kein Interesse, kein Konflikt — verzeihe! Nur eine Frage beant worte mir noch, Wanda, ich muß sie stellen als dein natürlicher Beschützer." Sic sah ihn bestürzt und dann verstehend an. Die Farbe kam und ging auf ihren Wangen. „O — du glaubst, ich bin beleidigt worden, aber nichts dergleichen ist geschehen, mein Lieber. Kirchner weiß nicht einmal, daß er mir Anlaß zu Haß und Verachtung gab, er kennt mein Geheimnis ebensowenig wie du. Bist du nun zufrieden?" Sie hatte in einem gequälten Tone, doch hastig, die Worte überstürzend, gesprochen. Nun sah sie scheu zu .Harold auf. Er zuckte die Achsel. „Ich muß mich wohl bescheiden," sagte er zögernd.