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Dienstag den 14. Juni 1921 »>41»,q, »«ri», Stegerwald zur Neqierunasttmbildung in Preuszen Einem Schreiben des preußischen Ministerpräsidenten an die Frks. Ztg. entnehmen wir folgendes: Ich habe am Abend des 10. Mai mit Herrn Abgeordneten Wels im Reichstage »nd am Vormittag des 11. Mai mit den Her ren Abgeordneten Wels, Siering und Krüger über die aus der politischen Umgruppierung im Reiche sich ergebenden Folgerungen für Preußen gesprochen. Ter Zweck der Besprechung war die Frage, ob nicht vor Psingsie» die preußische Regierungsumbildung durchgeführt wer den lönne. Weil aber die sozialdemokratischen Vertreter während der Besprechung einsahen, daß dies ohne die Neuwahl des Mi nisterpräsidenten nicht möglich sei, haben sie nunmehr nicht weiter auf die sofortige Regierungsumbildung eingewirkt. Ebenso sagte ich den sozialistischen Vertretern, daß noch gar nicht feststehe, ob ich persönlich in der Regierungsum bildung eine aktive Rolle spiele. In der amtlichen Ver öffentlichung, die am Nachmittage des 11. Mai erfolgte, steht zudeni mit keinem Wort, daß ich persönlich „kurz nach Pfingsten" die Initiative zur preußischen Regierungsumbildung ergreisen würde. Mein Verhalten in der Frage der preußischen Regierungs umbildung ist vom 8. April, als die Ministerpräsidentfchaft an mich herantrat, bis zum heutigen Tage durchaus klar und eindeutig. Was ich ablehne, ist lediglich, zu einem Zeitpunkte zurück zutreten, an dem noch keinerlei Vorkehrung über das, was werden soll, ersolgt ist. Einmal, und zwar vom 9. März bis zum 21. April hatte Preußen lediglich eine geschäftsführende Negierung mit dem Ergebnis, daß der Staatswagen auf mehreren Gleisen zum Stillstand kann In der gegenwärtigen Situation kann ich es nicht verantworteik, die preußische Stantsführuug durch ein Gc- schäftsministerium erneut derselben Gefahr auszusehen. Im übrigen ist es für mich selbstverständlich, alle vorbereiten den Schritte, die geeignet sind, die Regierungsumbildung in Fluß zu bringen, soweit es an mir liegt, zu unterstützen. Die Schulreform Vierte Tagung des ReichsschulausschusseS Die vierte Tagung des ReichsschulauSschusses, der als be hördliche Einrichtung zur sachverständigen Beratung von An gelegenheiten des Schul- und Bildungswesens unter Leitung des Reichsministeriums des Innern ans Vertretern der Un terrichtsverwaltungen der Länder und der drei größten ge meindlichen Verbände besteht, wurde von dem Reichsminister des Innern Dr. Gr a d n a u e r mit einer Ansprache eröffnet. Zu Beginn der Beratungen machte Staatssekretär Schulz als Verhandlungsleiter Mitteilungen über die Vorarbeiten für die Wiederaufnahme reichsschulstatistischer Erhebungen sowie über die Beeinflussung der Neuregelung des Berufs sch ul- und Lehrer bildu n g sw escns durch die allgemeine finanzielle Notlage. In der Frage der Zielbestimmung und inneren Ge staltung der G r unds chu l e einigte man sich über allgemeine Richtlinie», ferner wurde das Einverständnis darüber herbeige führt, daß an der vierjährigen Dauer der Grundschule unbedingt feftzuhalten ist. Eingehend wurde über die Versicherung der Bundesregierun gen über oie gegenseitige Anerkennung des Reifezeugnis ses vom 22. Oktober 1909 verhandelt, da die fortschreitende Entwicklung des höheren Schulwesens eine Reihe Abänderungen not wendig macht. Es handelt sich dabei besonders um die Einbe ziehung der Ausbauschule und der deutschen Oberschule — letztere mit einer der beiden modernen Fremdsprachen als Pflichtfach — in die Vereinbarung, ferner um die allgemeine Zulassung des wahlfreien Unterrichts in den obersten Klassen, um die Frage der acht- oder neunjährigen Dauer der höheren Schulen und um die Herabsetzung der wöchentlichen Stundenzahl an den höheren Lehranstalten. An der neunjährigen Dauer des Lehr gangs ist nach Ansicht des Ncichsschulausschusses bis auf wei teres grundsätzlich feftzuhalten, da noch keine Erfahr ungen mit der vierjährigen Grundschule vorliegen. Doch sollen Versuche mit der achtjährigen Dauer an besonders ge eigneten Schulen, ferner eine Abkürzung des Lehrgan ges für einzelne begabte Schüler zugelassen sein. Ein Bedürfnis für die Abhaltung der Verbandsprüfung des NcichSver- bandes deutscher freier höherer Knabenschulen und Vorbereitungs- anstalten wird vom Reichsschulausschuß nicht anerkannt. Die grundsätzlich wünschenswerte Neuordnung der Rechtschreibung hält der Reichsschulausschuß mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Verhältnisse nicht für angezeigt, er behält sich vor, auf daS von den Sachverständigen in dankenswerter Weise ausgearbeitete Material zu gegebener Zeit' zuritckzukommen. Der Frage der einheitlichen Bezeichnung der Lehrer, Schulen und Klassen soll erst näher getreten werden, wenn di« Umge staltungen im Schulwesen einen gewissen Abschluß erreicht haben. Dagegen wurde über die Gesamtdauer der Ferien eine Verein barung erzielt. Da die Beschlüsse des Reichs,chullisschusses gut achtlichen Charakter trage», bedürfen sie, bevor sie in Kraft tre ten, der Genehmigung durch die Landesregierung. Tie näch steTagung des ReichsschulauSschusses, die gegen Ende dieses oder zu Beginn des nächsten Jahres stattfindet, wird > sich voraussichtlich mit de» mittleren Schulwesen, ferner mit den Ergänzung-Prüfungen und mit der Frage beschäftigen, ob und in wie weit die spanische Sprache »nd andere lebende Sprachen, die bisher an den höheren Schulen nicht oder nur vereinzelt und unverbindlich gelehrt werde», au» pädagogischen und wirtschaft lichen Gründen mehr Berücksichtigung al» bisher verdienen. Loucheur «nd Rathenau Berlin, 1». Juni. Der Reich-minister für Wiederaufbau, Dr. Rathen au, hat sich nach Wiesbaden begeben, um mit dem französischen Minister für die befreiten Gebiete, Louchrur» zu zweiiägigen Besprechungen zusammenzutreffe». Gestern wurden die Kragen der internationalen Wirtschaftslage im Zusammenhang mit dem Reparation-Problem in fünfstündiger persönlicher Aussprache der beide« Minister erörtert LS lamen dabei die Fragen der Sachleistung. Arbeitsleistung und Finanzierung zur Sprache. Heute soll eine Reihe von Einzelfragen erörtert werden, lieberem- stimurung herrsche in dem Bestreben, die Aufgabe de» Wiederauf baues der zerstörten Häuser in großem Ausmaße und in verschärften Tempo zu fördern. Der »Petit Parisien" und der „!i>.tin" bringen bereits Kommentare über die Ministerzusainmenkunft. Diese erhält eine besondere Note dadurch, daß sich zum ersten Male nach dem Kriege ein deutscher und ein französischer Minister zu einer vcr- sönlichen Besprechung zusammengefunden haben. Es ist ebenso bezeichnend für die verschiedene Auffassung, wie auch bedauer lich für die Lösung einer der wichtigsten Fragen selbst, daß von seiten LoucheurS eine Aussprache über Oberschlesien abgclehnt wurde. Wir wollen dabei daS wirtschaftliche Moment in den Vordergrund gestellt wissen. Frankreich betont den politischen Charakter. Zu einer Ilebereinstimmung in der Anffa'sung führten nach den bisher vorliegenden Berichten die grundsätz lichen Erörterungen darüber, daß der Wiederaufbau der zerstör ten Gebiete in großem Ausmaße und in verstärktem Tempo ge fördert werden müsse. Man sprach weiter über die Lbprozeutige Ausfuhrabgabe. Dabei betonte Rathcuau, daß diese Ab.vabe dem künftigen deutschen Budget zu schwer zur Last fallen würde. Er machte den Vorschlag, das System der Schuldver schreibungen durch ein anderes zu ersehen, nämlich dadurch, daß Deutschland selbst Anleihen auf dem Weltmärkte ausgeben dürfe. Man sprach ferner über die Wiederherstellung in natura. Debet betonte Loucheur, man beschuldig; Frankreich zu Unrecht, daß es sich den deutschen Lieferungen ans Sorge »m seine eige- nen industriellen Interessen widersehe. Er betonte nachdrücklich die Notwendigkeit, die Zabliingei, für die deutschen Lieferungen zu organisieren »nd sie für mehrere Jabre abzustnfen. Schließ lich sprach man noch, über die Lieferung der deutschen Holzhäuser, die Preise dafür müsse Deutschland unbedingt herabschen. Van besonderem Interesse sind die Mitteilungen, die Loucheur nach Schluß seiner Unterredung dem Sonderberichterstatter des ..Ma tin" selbst gemacht bat. Darin saat er: „Wir haben nur all- gemeine Fragen erörtert und werden erst Montag besondere Punkte besprechen. Ich kann zur Stunde nur sagen, daß ich Herrn Rathenau, den ich zum ersten Male gesehen habe, als einen Mann kennen lernte, der von den besten Absichten beseelt ist und den ehrlichen Willen kmidflegeben har. die Unterschrift Deutschlands zu respektieren und als einen GeschäkkSmann der steht, ehrlich zum Ziele zu gelangen." Weiterh.n erklärte Lou- cheur diese Unterhaltungen seien sebr nützlich, ja man könne sogar sagen, unbedingt notwendig, ehe man irgend etwas be ginne. Der Großhandels aus^chuß u"d der Jndustrieausschust des besetzten Gebiete» für die Aufhebung der Sankrtioneu Köln, 18. Juni. Der Großhande^SauSlchuß de- besetzten Gebietes bat sich mit einer Eingabe an den Reich? kommiffar für da« besetzte rbeinische Gebiet gewandt, in der er bittet, sich mit allen zur Verfügung siebenden Mitteln für die Aushebung der Sanktionen einzusetzen. In dieser Eingabe betont er, daß die rbeinische Wirtschaftslage nur noch Infolge rer allgemein berrfchenden Erwartung ans baldiäe Ausbebung der Zwangsmaßnahmen ein Scheindasein fristet, daß dieses Schelmnesen aber mit dieser Hoffnung steh« und falle. Die Unabwendbarkeit eines völligen Zusammenbruche« de- rheinischen Wirtschaftsleben« beim Fortbe stand der Sanktionen nicht sehen heißt, ste nicht sehen wollen. Auch der Jndustrieaiisschnß hat an den Reichskommissar eine Ein gabe über die Wirkungen der Rbeinzollinie gerichtet. E» heißt darin, daß die fortwährenden mit der Errichtung der Brückenzoll» grenze zusammenhängenden Störungen des Verkehr-, die durch da« Genehmigungsversabren und die Verzollung hetbeigrführten Verzögerungen in der Lieferung zu gewaltigen Absatzstockungen geführt hätten. So wurde au- der Kölner Maschtnenindustri« mitgeteilt, daß der Fakturenwert de- versande« im Monat Mai gegenüber dem Monat April 1921 um 80 bi- 40 Prozent zurückgegangen sei. Ferner wird au< der Textilindustrie berichtet, daß seit Inkrafttreten der Rheinzoll- lini« der Absatz der Fabrikate nach dem rechtsrpeintschen Deutschland unterbunden worden sei. Aehnliche Mitteilungen lägen au» allen Industriezweigen und aus allen Teilen der besetzten Gebiete vor. Der JndustrieauS'chuß des besetzten Gevietcs richtet daher an den Neichskommissar die dringende Bitte, die interalliierte Rheinlandrkommiision von der schweren Gefahr der Industrie der Nr. 134, Seile » besetzten Gebiet» raschesten« In Kenntnis zu setzen und mit allem Nachdruck auf möglichst beschleunigte Aufhebung der Rheinzolllnie und de« Genehmigungsverfahren hinzuwirken. Neue polnische Angriffe Oppeln, iS. Juni. Amtlich wird gemeldet: Im Nord» abschnttt griff der Gegner verschiedentlich mit starken Kräfte,, an, ohne sich an da- von seiten des Selbstschutzes in vollem Umfange befolgte Abkommen über die beiderseitigen Linien zu halten. Das von General Henneker zugetagt« Eingreifen englischer Trug- pen bei polnischen Offensiomaßnahmea ist trotz mehrmaliger Be. nachrlchtigung durch den Selbstschutz von derartigen Aktionen noch nicht erfolgt. Die Polen besetzten nach Kampf mit der Apa Wyisoka. Nachdem pestern zwischen W:chow und Wockow tz m t starken polnischen Kräften ein Angriff gescheitert war, räumten heute dt« Abteilungen de- Selbstschutzes Dachowitz vereinbar»»',?, gcmätz und gingen aus Wachow zurück, während die Insurgenten sich, entgegen dem Abkommen, in Wachowitz festsetzten. Gestern scheiterte ein heftiger polnischer Angriff auf Leskna. das im Gegen, stoß vom Selbstschutz bebauvtet wurde. Nach heftigen polnischen Vorstößen zwttchen Zembowiß und Pruskau, die abaewtesm wurden, besetzten die Insurgenten die vereinbarungsgemäß von ihnen ge. räumten Ortschaften Skemrowttz, Freipipa und Fretkadlub wieder und hoben Schützengräben aus. Skewromttz ist durch die wieder- aalten Kämpfe schwer beschädigt Nördlich Groß-Ktrehlitz sind erneut starke Insurgenlenkräfte festgestellt, die sich in keiner Weise an das getroffene Abkommen halten. Neben fe einem Zag» Engländer und Franzosen bcfinscn sich in Birwa zwei Kompanien Polen Nachdem gestern in der Nacht und heute im ganzen Ab- schnitt Ratibor lebhaft geschaffen worden war, gingen heute abcnd auf ein Ultimatum deSGeneralSGratter di» Insurgenten gegenüber Ratibor zurück. Die Rückzugsbedingungen de« Selbstschutz«» Berlin, 18. Juni. Wie der Lok.» Anz. aus unterrichteter Quelle erfährt, soll der Zwö ferauSlchnß folgenden Beschluß gefaßt habe»: Eine Zurückziehung deS deutschen Selbstschutz»- ist erst dann wögl ch, wenn eine tatsächliche Entwaffnung der polnitchen Iniurueitten erfolgt ist, wenn olle au» Polen gelangten Banden aus Overschleffen enlfernt sind, wenn ein« vollständig« Sper« rung der polnischen Grenze erfolgt ist, wenn gegen alle an dem Aufuand Schuldigen ein Strafverfahren eingeleitet worden ist. wenn alle von den Insurgenten eingesetzten Behörden aufgelöst sind und wenn eine Verhinderung der Fortsetzung der Bewegung in Form v.n Gemeinde, oder Orlswehren gesichert ist. Der Zwölferausschuß besteht darauf, daß nicht nur gegen all» an dem Aufstand Beschuldigten strafrechtlich vorgegangen werde, sondern daß diese» Vorgehen auch nicht nachträglich durch «in, Amnestie wieder aufgehoben werde. Drangsalierung der deutschen Bevölkerung Beuthen, 18 Juni. Auf der Deutschland. Grube in Schwientochlowitz sollte gestern auk Verlangen der Insurgent n den Arbeitern je eine der im letzten Monat verfahrenen lieber« schichten vom Lohne abgezogen werden. Da die Arbeiter» schaft uneinig war und sich eine Mehrheit für da« Verlangen u-cht ergab, verfügte der Ortskommandant kurzer Hand den Abzug der einen Schickt. JnBi»marckhütte ist e>ne Bekanntmachung des Ortskommandanten angeschlagen, nach der jedes Fenster, das zur Straße hinyeht, zum feierlichen Empfange der Kommission mit Flaggen rn den polnitchen Farben und mit polni chen Abzeichen, Wappen usw. geschmückt werden muß. Schwere Stritten werden jedem angedroht, der gegen die Anordnung verstößt Heute fiüh wurden zwischen der Gleiwitzer Straße und der Noseugnsse von Franzosen Haussuchungen abgehalten. Ein HiliSwachtmeii'ter und etwa acht bi- zehn Deutsche wurden verhaftet, lieber den Grund der Verhaftungen ist zurzeit noch Nicht« bekannt. Gras Sforza und sein Vermittlungsvorschlag über Oderschlesien Wien, 18 Juni. Der Senator Clrmonni veröffentlicht in der „Neuen Freien Presse" eine Uitterrediina, die er Mit dem G r af e» S ko rza hatte. Graf Sforza erklärte, er dätle niemals daran gciacht, zu kuftimmen, welche» in Oberscklcsien die Grenzen zwischen Dkittlchland und Polen sein müßte». Er hälte nur versucht, eine mittlere Lösung de- überaus schwierigen Problem» herbei- zuführen. Nach seinen Vorschlägen müßte» die kleinen Gemeiner» dem Schicksal der benachbarte» großen Gemeinden folgen. Nach Annahme seine« Vorschläge« im Obersten Rat würden wahrscheinlich die einen oder anderen dagegen protestieren. Aber nach einiger Zeit wülde» ste sich beruhigen und untereinander vertragen, um jo mehr, al- e» den Pole» n>emal» gelingen würde, die Bergwerke ohne ein« starke Mitarbeit der Deutschen auszunützen. Da« Piobiem von Oder- schlesicn sei allerdings durch die Meinungsverschiedenheiten England» und Frankreich« »och schwieriger geworden. Polnische» Wtderftnud gegen di« Entwaffnung Pari«, 18. Juni. Der Sonderberichterstatter der „Eh-rago Tribun«" im Hauptquartier meldet, daß böher« und niedere O,sichre ttoria, ty» vor dem Oberkommando, die Uederzeugung ausgesprochen Hütten, daß jeder Versuch, ihre Leute zu entwaffnen, bei der schlechten Stimmung, die unter ihnen herrsche, zum Unheil aus- j ch i agen müsse. Ein Regiment habe eine Abordnung mit der Er. llärung gesandt, daß die Leute nach Hause girier» und am ihm» Wege alle- zerstören würden, wenn die politischen Leiter mit ouo> länoischen Kapitalisten intrigier teil. Sächsische Volkszeitung — Nr. 134 — 14. Juni 1921 Der Gänsebub Fränkischer Dorsroman von Dina Ernstberger (33. Fortsetzung.) Manchmal überraschte Joseph seine Mutter, wenn iie so gedankenverloren auf ihrem Zimmer saß und in Sehnsucht dec fernen Heimat dachte. Da geschah es dann oft, daß er an» spannen ließ und mit ihr durch die Straßen fuhr und ihr >ue Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigte. Die alte Flickschusterin hatte aber für all diese Herrlichkeiten wenig Interesse. Nur die Kirchen hatten eS ihr angetan. Dort konnte sie stundenlang sitzen und beten. Erst ließ Joseph seine Mutter immer rn Wagen zur Kirche fahren und dort abholen; nach und nach aber lernte sie die Scheu vor den Leuten auf der Straße überwinden und ging zu Fuß hin. Diese Kirchengänge boten ihr viel Zer streuung. Sie gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, bei Joseph zu bleiben, und als sie dann gar noch die Wege zu den Friedhöfen kannte, verschwanden mehr und mehr die Bilder der Heimat »nd mit ihnen das heiße Sehnen nach dem stillen Dorfe. Freilich kanien noch Stunden, wo sie die Heimatsehnsucht aufs neue im Herzen brennen fühlte; wo ein gewaltige» Ceh. neu sie überkam nach ihrer stillen) fernen Welt, aber sie fand jetzt Kraft genug, gegen dieses große Weh anzukämpfen. I» solch trüben Stunden weilte sie mehr denn sonst betend in de» Kirchen. Wo sie dann bedrängte, kampfeemüde Seelen weinend vor den Altären knien sah, da ging sie hin und sucht« mit mildem Wort das Weh jener Kummervollen zu erfahren und sie zu trösten. Manchmal genügte der Inhalt ihrer Geld» börse, uin ein abgehärmte», müde» Angesicht in froher Dank barkeit freudig erstrahlen zu kaffen. Manch heiße« Segen-wort nahm sie auf ihren stillen Wegen mit fick heim. — Und wo sie fühlte, daß noch bitteres Leid al» nur di« Sorg um- Brot im Herzen wüblte, da schenkte sie ihr innig Mitgefühl und warm« Liebe. Die tiefen Furchen und die herben Züge ihre« >nge- fichtes erzählten, daß auch sie de« Leben» Schmerz erfahren; vertrauend öffnete sich ihrem Trosteswort manch wunde«, arme« Menschenlserz. Froh und heiter kehrte sie dann immer von solchen Ausgängen zurück. Joseph war eS schon verschiedene Male ausgefallen, daß seine Mutter so verändert beimkam; er konnte sich gar nicht deuten, was so vorteilhaft auf de» seelischen Zustand seiner Mutter wirkte. Noch mehr fiel eS ihm aus, daß sic nicht mehr seine Gelder, die er ihr geben wollte, abwehrend zurückwies; im GegenteilI Ihre Geldbörse schien immer leer zu sein. Als sie wieder einmal sorlging, beschloß er, ihr nachzu- gehen. Ihr Weg führte sie in eine der nächsten Kirchen. Schon in der Nähe hatten sich ihr einige ganz notdürftig gekleidete Frauen angeschlvssen; er sah, wie seine Mutter den Inhalt ihrer Börse in die abgezehrten Hände dieser Armen schüttete. Jetzt begriff er plötzlich, welchem Umstand er die plötzliche Verände rung seiner Mutter zu verdanken hatte. Er beschloß, ihr Ta schengeld künftig zu verdoppeln. So kam es, daß der Wohl- i tätigkeitssinn der alten Frau inimer mehr und mehr in den I Kreisen der Armen bekannt wurde. Oft kanien sie jetzt bis vor das Hotel, um ihre Wohltäterin zu erwarten. Das ausfallende Benehmen dieser Leute seiner Mutter gegenüber wurde Joseph jetzt aber peinlich, zudem er schon einige Male sehr zweifelhafte Gestalten darunter bemerkt hatte. Er konnte nicht umhin, seine Mutter zu bitten, diese Besuche etwas niehr einzuschränken. Um sie ein wenig davon abzulenken und ihr anderweitig Zerstreuung zu bieten, bat er sie, im Hotel hie und da einmal nach dem Rechten zu sehen. Damit war Joseph aber vom Regen in die Traufe gekommen. Die großen Vorräte in der Speise kammer, die feine reichliche Kost des Personals, die hohen Löhne und die verhältnismäßig wenig schwere Arbeit der Dienst- boten — da» alle» flößte ihr Angst und Grauen ein. Sie bildete sich fest ein, Joseph mühte dabei finanziell unzweifelhaft zugrunde gehen. So oft sie mit ihm zusammen kam, jammerte und klagte sie, daß er so um seine ganze Habe kommen müsse. „Joseph! VerkaufI Verkauf!" warnte sie Ihn ständig. »DaS ist ganz unmöglich, daß du auskommst, wenn du so viel teure Sachen haben mußt. Laß dich warnen, bevor r« zu spät i». Ich bin alt und versteh da« bester wke du. verkauf und geh mit mir Helm in« Dorf. Heirat die BürgerineisterS-Kundl und mach an ehrlichen Bauern, da iS immer noch Zeit dazu. D'« Geschicht da gefällt mir net. Man hört ket Gebetläuten und kei Tischgebet; vom Kirchengeh i« gleich gar kezi Red — wo soll da Glück und Segen Herkommen." Lächelnd versucht« e« Joseph, dies« Bedenken und An- sichten seiner Mutter auSzureden. Al« ihm die« aber absolut nicht gelingen wollt«, machte ihn da« ständige Jammern und Unheilverkünden nervös. Er sah e» jetzt «in. daß sich seine Mutier nie in die Verhältnisse seine« Hause- fügen und denken konnte, baß eS bester gewesen wäre, die alte Frau dem gewohn ten heimatlichen Leben nicht zu entreißen. Zudem stellte sie sich auf viel zu vertraulichen Fuß in, Verkehr mit dem Dienst personal. Mit jedem unterhielt sie sich; allen wollte sie bei der Arbeit helfen und ersuchke sie Joseph, dem Personal gegenübu doch etwas zurückhaltender zu sein, so fragte sie ihn klagend, ob er denn vergessen hätte, daß auch er einst der arme Flick schuster-Joseph war und ob denn das Geld alle guten Eigen schaften im Herzen ihres Kindes erstickt hätte. „Hochmut kommt vorm Fall. Du wirstS sehen, Joseph," warnte sie dann. , ">er sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, heißts schon i» der Bibel. Bei unserem Herrgott gilt ein Mensch wie der andere. Dein Hochmut bringt keinen Segen." l Das Verhältnis zwischen Herrn und Dienstboten konnte I sie nicht begreifen. Sie mußte da immer denken» wie daheim im Dorfe die Dienstboten mit den Bauern an einem Tisch aßen und sich unterhielten. So glaubte sie, müßte dies auch bei Jo seph sein. Als die Mutter bei Tisch wieder in Joseph drang, zu ver kaufen und mit ihr heimzuziehen, ging er scheinbar auf ihren Vorschlag ein. Seine Finanzen hatten sich so vermehrt, daß er sich getrost in das Privatleben zurückziehen konnte. Er stand ihr nicht mehr ablehnend gegenüber. AIS er dies seiner Mutter sagte, strahlte ihr sonst so besorgtes, ängstliches Gesicht vor Freude. Wenn er auch zunächst noch nicht in das Dörfchen mit zurückzukehren versprach, wenn er nur mal erst das Geschäft verkauft hatte! Daß er dann, trotz seines Geldes mit ihr das AuSnahmesiübchcn im FlickschusterhäuSchen bezog und um sein Glück voll zu machen, die Bürgermeister-Kundl heiratete, säßen ihr unzweifelhaft. Heftig wehrte sie ab, als er davon sprach, ein villenartiges Wohnhaus für sie in der Heimat bauen zi lassen. „Joseph, werd net wieder stolz, daß du dein Glück verschcr« zest," mahnte sie ernst. „Zu was Hab ich denn mein AuSnahnie- stübl«; des i« groß genug für dich und mich. Menntt't Glück haben sollst und die Kundl nimmt dich, unberufen l (dabei klopfte ste mit dem Finger kräftig auf den Tisch, dadurch sollt« da« Wort «unberufen" «ine verstärkt« Wirkung haben) dann kommst ja so zum Bürgermeister nunter, denn di« Kundl kriegt amal ihr' War'!" Joseph antwortet« nicht. «S schien ihm verkorene Müh, seine Mutter in ihren Ansichten bekehren zu wollen. Gerade ihr Heiratsobjekt, an dem sie so hartnäckig hing, bewies ihm, wie wenig Verständnis sie für ihn und seine V-rhältnisir halt«. Ohne sie davon etwa» wißen zu lasten, beauftragte er einen Architekten mit dem Ban einer schönen, modernen Villa in seiner Heimat. Der Name des Bauherrn sollte aber auch dert Dörflern gegenüber unbekannt bleiben. (Fortsetzung folgt,f