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^ 81, 8. April 1909. Nichtamtlicher Teil. «irsrnblatt f. l>. Dtschn. Buchhandel. 4319 Der Münchener Boccaccio. Seit dem verhängnisvollen Bibliothekbrande in Turin nament lich ist man in leitenden Kreisen immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß es mit der auch noch so vorsichtigen Bergung der kostbaren Handschriften-Schätze der alten und ältesten Literatur in den Bibliotheken noch nicht getan ist; zumal wenn es sich um Werke handelt, die vielleicht nur in einem einzigen Exemplar vor handen sind, oder die wegen ihres Bilderschmucks und aus sonstigen Gründen ihresgleichen nicht haben, bieten auch die besten Vorsichts maßregeln keine ausreichende Gewähr. Hatten wir doch in den letzten fünfundzwanzig Jahren etwa IS größere Bibliothekbrände zu beklagen. Und welch kostbare Geistesprodukte und Kunstschätze gingen dabei zu gründe! Als im Jahre 1883 der königliche Palast in Brüssel von einer Brandkatastrophe heimgesucht wurde, wurden 12S000 Bände vernichtet. Bei dem Brande der Osntrul ludrarz' in Manchester fielen etwa 10 000 Bände durch Feuer und Wasser dem Verderben anheim. Bei dem Brande der Universitäts- Bibliothek in Toronto wurde der Schaden auf 100 000 Dollars veranschlagt. Wie ohnmächtig steht aber erst alle menschliche Er findung und alle technische Vollendung Ereignissen gegenüber, wie sie in San Francisco und kürzlich in Messina eingetreten sind! Und was vermag man gegen ein Geschick, wie es die Bibliothek in Straßburg betroffen hat! Kann man aber auch solche Katastrophen nicht abwenden, so hat uns doch die moderne Technik ein Mittel an die Hand ge- gegeben, die das Unglück leichter verschmerzen läßt: eine möglichst getreue Vervielfältigung der kostbarsten Schätze. Es ist ja be kannt, welche Erfolge heutzutage das photomechanische Verfahren auf diesem Gebiete aufzuweisen hat. Ist aber einmal aus diese Weise ein großer Teil unserer besten Handschristenwerke in guten Reproduktionen in einer Reihe von Privat- und öffentlichen Bibliotheken aufgestellt, so kann nur ein xar«xU<xuäc s-rät-rvin völlige Vernichtung herbeisühren. Man hat denn auch bereits systematisch mit dieser Vervielfältigung begonnen. Ich erinnere nur an den Verlag A. W. Sijthoff in Leiden, der sich vor allem durch die Re produktion des Lrsviurium Oiiwuoi unvergeßliche Verdienste er worben hat, an die öibliotbses. Vs.tios.ua usw. Man darf aber nicht vergessen, daß solche Reproduktionen nicht bloß für die Fort dauer eines Werkes von großer Bedeutung sind, sondern auch zu Studienzwecken vortreffliche Dienste leisten, da die Originale doch nur den wenigsten zugänglich sind. Vor einigen Tagen ist nun wieder eine der prachtvollsten Bilderhandschriften, die es überhaupt gibt — genauer gesagt ihre Miniaturen — in meisterhafter Nachbildung erschienen: lls Lososos äs Naurod. Usproäuotiou äss 91 Niuisturss äu oslsbrs rusuusorit äs In Üibliotbsqus Kabuls äs Nuuiod. Ltaäs bistoriqus st eritigus et sxpliostiou ästsülss äse plsuodss pur ls Oomts Laut Oarrisa, Nswdrs äs 1'Iustitat äs Graues, Ooussrvstsur llouorsirs au Nusös äa I-oavrs. (Auch mit deutschem Titel: Der Münchener Boccaccio usw.) Fol. 130 Seiten französischer Text und 28 Tafeln. München 1909, Jacques Rosenthal. 300 Exemplare auf holländischem Büttenpapier, die Tafeln aus China. Preis 100 25 Exemplare auf japanischem Shizuoka-Bütten. Preis 240 Die Reproduktion gerade dieser Bilderfolge aber ist besonders bedeutsam und aus verschiedenen Gründen freudig zu begrüßen. Handelt es sich doch um eine der herrlichsten Miniaturhand schristen der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, die zu dem Schönsten dieser Art überhaupt gehört und deren Bilderschmuck nach den letzten Forschungen, zum Teil wenigstens, das Werk des berühmten französischen Miniatur-Malers Jean Foucquet ist. Wenn auch schon früher hin und wieder davon die Rede war, so ist sie doch erst durch diese Publikation gebührend gewürdigt worden. Es ist zwar nicht eine Wiedergabe der vollständigen Handschrift; es wurden nur die 91 reizenden Miniaturen repro duziert. Da von diesem Werke eine große Anzahl Handschriften und Drucke existieren, so konnte man leicht von einer Verviel fältigung des Textes absehen. Man mußte auch aus verschiedenen Gründen auf die Wiedergabe der Farben verzichten und die Ta;eln in schwarz Herstellen. Aber dennoch liegt hier in Ver bindung mit dem hochinteressanten Text aus der Feder des Grafen Paul Durrieu, gegenwärtig auf diesem Gebiete unstreitig der ersten Autorität, ein Werk vor, für das man dem Herausgeber, der keine Kosten und Mühe gescheut und sich mehr von seinen bibliophilen Neigungen als von der Aussicht auf materiellen Erfolg hat leiten lassen, sicher den verdienten Dank zollen wird. Betrachten wir nun die Originalhandschrift, ihre Geschichte und ihren reichen Schmuck etwas näher; wir folgen dabei den Ausführungen des Grafen Paul Durrieu, die über diesen kostbaren Schatz in mannigfacher Hinsicht neues Licht ver breitet haben. Der Ooä. Kall. 369 der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, um den es sich hier handelt (er ist im Cimelien- aal ausgestellt und so jedem Besucher der bayerischen Hauptstadt leicht zugänglich), enthält eine von Laurent de Premiersait an- gefertigte und vielfach erweiterte Übersetzung von Boccaccio's Werk: Os ossibus viroruiu illustrium, das in der französischen Literatur den Titel trägt: vss oss äss nobles dowiuss st tsruiues. Es ist ein ergreifender, hochdramatischer Stoff, den der Verfasser des Decameron hier behandelt, wenn auch die Form der Dar- tellung hinter manchem seiner übrigen Werke zurücksteht. Boccaccio führt hier an unserem geistigen Auge eine Anzahl von hochgestellten Persönlichkeiten vorüber, angefangen von Adam und Eva bis hinauf auf seine Zeit, denen das Schicksal hart mit gespielt hatte und deren Unglück die Leser von der Unbeständig keit des irdischen Glückes überzeugen und Mut und Gelassenheit in den Wechselsällen dieses Lebens einflößen sollte. Dazu sollten die moralischen Erwägungen dienen, die Boccaccio aus den histo rischen Tatsachen folgerte. Premiersait hatte seine Übersetzung im Aufträge des be rühmten Duc de Berry gemacht, des Bruders des Königs Karl V., dessen kunstsinnigen und bibliophilen Neigungen so viele Prachtwerke der französischen Jlluminierkunst ihre Entstehung zu verdanken haben. Nach der Schlußschrift des Münchener Codex wurde diese Übersetzung am 15. April 1409 vollendet. Nun hat aber dieses Manuskript, und das ist besonders wertvoll, noch eine zweite Schlußschrift, aus der wir erfahren, daß der Ab schreiber Pierre Faure oder Favre war, Pfarrer zu Aubervilliers bei Paris, der seine Arbeit am 26. November 1458 zum Abschluß brachte. Uber den Auftraggeber hat erst Graf Durrieu durch an Ort und Stelle vorgenommene Untersuchungen Wahres er mittelt und mit der bisherigen Legende gründlich aufgeräumt. Da gerade die drei Zeilen der zweiten Schlußschrift die Namen und Titel des Bestellers enthielten, durch eine gründliche Rasur fast völlig unleserlich gemacht waren,*) so dachte man zumeist an Etienne Chevalier, für den jenes prachtvolle lavrs ä'llsarss angefertigt worden war, dessen Bruchstücke von dem Duc d'Aumale 1892 aus Brentano - Laroche'schem Familien besitz in Frankfurt erworben wurden, die sich jetzt im Nusss Oouäs befinden. Denn der Meister dieser Miniaturen ist ebenfalls Jean Foucquet. Ferner zeigen 9 Miniaturen des Münchener Boccaccio die Devise: »11110 V H'rl. ULO^UI), und eine ähnliche (llisu sur I, u's rsZsr) las man in einem Palais in Paris, das ehemals der Familie Chevalier gehörte. Aber der unermüdlichen Geduld des Grafen Durrieu (Os äsobillrswsut, rspris ä äivsrs joars, tsutöt 1s mstiu, tsutöt 1s soir, tsutöt s ls olsrts äu solsil, csutöt s ls lusur ä'uns Isurps slsotriqus . . .) und seinem Scharf sinn ist es gelungen, die Schlußschrift so zu ergänzen, daß man endlich den wirklichen Besteller kennen gelernt hat: Osursus o^rsrä, uotsirs et ssorstsirs äu ro)' uostrs sirs st ooutrollsur äs 1s rsostts Zsusrsls äs sss üusuoss. Da seit 1453 ein Laurens Gyrard tatsächlich dieses Amt bekleidete, so war bei der Ent zifferung der fast verschwundenen Schrist wenigstens ein Finger zeig gegeben; außerdem befindet sich in zwei Initialen das Mono gramm 1- 0, das dem Grasen Durrieu von Anfang an die Über zeugung ausgedrängt hatte, daß wir hier die Anfangsbuchstaben des Bestellers vor uns haben. Ein Stoff wie der von Boccaccio in seinem Werk gegebene mußte naturgemäß dazu reizen, ihn durch reichen Bilderschmuck noch interessanter zu machen. Und da diese Schrist in vornehmen s°) Es ist ja gar nichts Seltenes, daß man in Schlußschriften von Manuskripten den Namen des früheren Besitzers, ein etwa vorhandenes Wappen usw. ausradiert findet, sei es daß ein späterer Eigentümer Grund hatte, nicht wissen zu lassen, von wem er die Handschrift »erworben«, oder daß er, zu stolz und eisersüchtig aus seinen Schatz, anderen nichts von seinem Ruhm gönnen wollte. 561*