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238, 12. Oktober 1SI8. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d. Dlschn. Buchhandel. Der französische Buchhandel und seine Zukunft. Von Louis Diinier. (Übersetzung aus »l/^ction kranxaise« sPariss vom 16. September 1916.) Einer unserer Berufsgenossen, Herr Francois Lebon, verlangt eine Diktatur für Bücher, um dem anarchischen Zustande ein Ende zu machen, der mit Ausbruch des Krieges den französischen Verlagsbuch handel zu Boden geworfen hat. Im Gegensatz dazu bliche der deutsche Buchhandel. Um ein Beispiel für die Minderwertigkeit des unsrigen anzu- siihren, schreibt Herr Lebon: »Man blättere im Katalog des Hauses Boulevard Saint-Ger- main, einem Spezialkatalog philosophischen Verlages, der von ihm ausgegeben wurde. Man werfe einen Blick auf die ,6o1lection des Zrruids püilosopkes; Periode moderne' und suche dort nach einem vollständigen Descartes, einem vollständigen Condillac, einem voll ständigen Berkeley, einem vollständigen Hume usw. usw. Zum Ersatz unzählige Bände von Kommentaren, deren Mehrzahl auf Kosten der Verfasser herausgebracht wurde und dem Verleger ein bißchen Geld eingetragen hat, dazu aber auch ein reichliches Stück Mißkredit.« Mit dem letzten Wort ist zu viel gesagt; aber der Vorwurf ist be rechtigt. Man könnte ihn vervielfachen. Auch abgesehen von der Philosophie leiden die Veröffentlichungen unserer Verleger an nicht geringeren Mängeln. Zum Beispiel gibt es im Handel tatsächlich keine Ausgabe von Amyot, von Bourdaloue, von Nonsart (außer der ungenügenden kleinen Auswahl Sainte- Bcuves), um hier nur diese Autoren zu nennen. Ich spreche von ernst zu nehmenden Ausgaben, welcher Art sie auch immer sein mögen. Wenn wir zu den billigen Ausgaben kommen, so finden wir es da noch schlimmer. Die Hälfte der Autoren ist für bescheidene Börsen nicht vorhanden, und was mau diesen bietet, ist ein fehlerhafter Text, ein unleserlicher Drnck auf schlechtestem Papier. Dazu kommt noch das Unwürdige der Auswahl in den wohlfeilen Sammlungen, die man seit vierzig Jahren auf die Leser losgelassen hat. Der französische Buchhandel versagt also in seiner Pflichterfüllung, und zwar ebenso für Biblio- theksausgaben wie für volkstümliche Drucke. Herr Lebon hat recht, wenn er sagt, daß das in Deutschland anders sei. Das komme daher, daß dort der Vertrieb von nützlichen Büchern jeder Art durch eine mächtige Organisation des Kommissionsbuchhan dels gesichert sei. Diese Sicherheit des Verkaufs gebe dem Verleger Mut zu seinen Veröffentlichungen. Die Deutschen haben wohlunterrichtete Buchhändler, die ihrer Aufgabe ständig gewachsen sind; alle ihre Gehilfen haben besonderen Fachunterricht genossen. Auch haben die Deutschen bewundernswerte buchhändlerische Kommissionshäuser. Ein großer Leipziger Kom missionär — welch' eine Macht! Er ist der Vermittler, der die Ver breitung von Büchern leicht macht, zentraler Sammler der Bestel lungen, sogar der Bankier der Kleinhändler. Es gibt in Leipzig hnndertundfünfzig Persönlichkeiten mit so weit umfassender Gc- schäftsbetätigung. Ein Volckmar ist König im Reiche des Buches. Dreißig Millionen Bände lagern bei ihm. Alljährlich verbreitet er kostenlos einen Katalog von dreizehnhundert Seiten an vierzig tausend Buchhändler. Ein regelmäßig alle Jahre erscheinendes Adreßbuch des deutschen Buchhandels, das beständig auf dem laufenden gehalten wird, unter stützt diese Organisation aufs wirksamste. »Deutschland«, so sagt Herr Lebon, »veröffentlicht jedes Jahr einen erschreckend großen Bottin, den berühmten Hinrichs«. Dazu tritt der starke körperschaftliche Zusammenhalt dieser Orga nisation, deren Mittelpunkt Leipzig ist: . Der Buchhändler (und zwar jeder Buchhändler im Reich) in täglicher Verbindung mit seinem Kommissionär in Leipzig, Bestell- zettclbörse, jährliche allgemeine Zusammenkunft zur Messe in Leipzig und vor allem eine zentrale Leitung in Leipzig, der Börsenverein, — gemeinsamer Gedanke und Wille, der denkende Kopf des deut schen Buchhandels! Eine Vereinigung von achtzehntausend Buch händlern! Große Versammlung, zugleich Gerichtshof! Kurz, wie man sie genannt hat, ein Wohlfahrtsausschuß! Alles das ist richtig, und wir finden: cs war gut, daß es gesagt wurde. Herr Lebon bekundet zugleich seine Unzufriedenheit mit der französischen Organisation. Wenn er über den Zauber der deut schen Erfolge spricht, so erhält seine Rede eine fast epische Färbung. Wir machen ihm daraus keinen Vorwurf; denn nach allem erfüllt ihn berechtigter Verdruß wahrer Vaterlandsliebe, und sein Ziel ist nützliche Besserung. Rur scheint uns Herr Lebon einige Ursachen zu übersehen, und das macht ihn ungerecht gegen die Personen. Das ganze Gewicht der Anklage gegen die Verleger oder gegen den Oerels de la Idkrairie schleudern, heißt vergessen, daß diese Verleger und dieser Cerele nichts anderes sind als Mitleidende oder auch Mitschuldige einer allge meinen Lage, die sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen läßt: 1. die Herrschaft der Parteien, 2. der Mangel einer tonangebenden Leitung auf dem Gebiete der Intelligenz^ dessen, was man mit Mäzenatentum bezeichnet, 3. das geringe Ansehen der gelehrten Körperschaften in der Öffent lichkeit. Was zunächst die Parteiherrschaft anbetrifft, so verschuldet diese die lächerliche sogenannte »Libliotüeyue Autiouale« zu fünf Sous, die als wohlfeile Sammlung unserer Autoren an die Öffentlichkeit kam. Man konnte da zwar »OriZine de torw le8 0ulte8« von Dupuis finden, »les Uulues« von Volney, auch die »>l6moires« der Madame Ro land, aber nichts von Bossuets ».Sermons« oder dessen »Hiskoire des Vgriat>ioQ8«, keinen »Lsprit des I^ois« von Montesquieu, und von den Werken Buffons, der Madame de Sevigne usw. nichts als durch weg erbärmliche Auszüge. Die Partei ist es, die ihren Einfluß wirken läßt auf irgc»rd ein großes Verlagshaus, das ich nicht nennen will, durch ihre Organe, die Zeitungen, die ich nennen könnte, und die es nach und nach den gro ßen Autorensammlungen (auf die sie verzichtet hat) abgeneigt macht und es gewaltsam zur Veröffentlichung frivoler, vorgeblich malerischer Schilderungen treibt oder zu unheilvollen freimaurerischen Gebräucn, die für den Gebrauch im Volksschulunterricht zurechtgemacht sind. Welchen Schaden der Mangel irgendwelcher materiellen Förde rung durch verständnisvolle und kapitalkräftige Gönner bringt, ist augenfällig. Die in sich nicht einheitliche Akademie, unsicher und ängst lich, ist zn machtlos, um Gönnerschaft zu üben. Der Staat glänzt durch Abwesenheit. Die Gesellschaft der vornehmen Welt, durch ihr Vielerlei beansprucht und verwirrt, von den öffentlichen Gewalten abgedrängt, übrigens auch nur mittelmäßig unterrichtet, führt ein in dieser Hinsicht unnützes Leben, ungeachtet des Aufsehens, das die weniger löblichen ihrer Elemente in den Zeitungen machen zu müssen glauben. Bei diesem Versagen der herkömmlichen Autoritäten herrscht die Presse unumschränkt. Aber die Presse hat, trotz einzelner bisweilen unendlich überragender Persönlichkeitswerte, weder Zusammenhang, noch gesicherte Däner ihrer Herrlichkeit. Die Dummköpfe machen da ebensoviel Lärm wie Männer von Geist, und die Unwissenden wie wohlunterrichtete Leute. Ein Beispiel: Herr Paul Adam verfügt über ein Publikum. Es gibt Leute, die daran glauben, was er schreibt. Man hat es neulich in unserer Wochenübersicht der Presse gelesen. Stelle man sich nun vor, er hätte bei Veröffentlichung einer Sammlung großer französischer Autoren ein Wort mitzurcden. Man kennt sein Pantheon. »H Iropdes« von Hercöia und »8alamml)o« würden den Kern dieser Serie bilden. Die »lentation de 8a!nt-^.ntoine« würde dem »I'ansx« vorgezogen, die Autoren des siebzehnten Jahrhunderts, als seiner Meinung nach wert los, weggelasscn werden. Kein einziger, der etwa daran dächte, sich zu beklagen (wie Herr Lebon es tut), daß man weder Descartes, noch Hume neu auflegt. Die »Lne^elopedie« genügt allen. Da sicht man, was für Leute während dieses Interregnums, bas wir erdulden, ein Stückchen geistiger Machtvollkommenheit auf die All gemeinheit ausüben. Es ist lächerlich und erregt zugleich Mitleid. Kommen wir zum dritten Grunde, dem geringen Glauben des öffentlichen Lebens an unsre gelehrten Körperschaften. Die ^cademie des Sciences morales, die ^cademie des Inscripti'ons, die ^eademis des Sciences sind kaum bekannt. Das Publikum weiß nicht einmal, wen man dort ernennt. Da die Mitglieder dieser Körperschaften als solche keine Einkünfte haben, so ziehen sie die Folgerung, sich auch nicht zu Pflichten zu bekennen, ich meine unmittelbare Pflichten einer Mitarbeit. Ein Professor an der Sorbonne machte mich einmal darauf aufmerk sam, daß es Aufgabe der ^csd4mie des Inscriptlons gewesen wäre, nns eine Sammlung von Autoren des Altertums vom Range der Teubnerschen zu geben. Das stimmt. Aber wer würde das von der ^cademie des Inscriptions erwarten? Niemand. Es gibt keine Ne gierung, die sie darum bitten könnte; es gibt auch kein Publikum mehr, das den Wunsch hätte, daß sic sich dieser Arbeit widmen möchte, nichts, was ihr Geschmack an dieser Aufgabe beibringen und sie in Be wegung setzen könnte. Daher ihre Regungslosigkeit. Im jetzigen Kriege hat man einige Mitglieder dieser gelehrten Körperschaften schreiben sehen. Es geschah aus Vaterlandsliebe, ohne daß sie in der Öffentlichkeit im mindesten auf Würdigung ihrer wissen schaftlichen Erhabenheit rechnen konnten. Ein Mann wie Emile Picard, der trotz einem Kant mit beruflicher Überlegenheit zu schreiben pflegt und sich in Physik und Mathematik verirrt hatte, konnte von einem Berichterstatter des »Demps«, Herrn Paul Souday, widerlegt und zurechtgewiesen werden, ohne daß sich die Leser des »Demps« 1295