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Rr. 271. UM // k Z Deutjchea Leiche zahlen für jedes Luemplar 30 Mark bez. 3 des Dör-jenvereins die viergejpaltene 1)etitzeile oder deren 2*36 MarS jährlich. Hach dem Ausland erfolgt Lieferung Z!-Raum 15'Pf-»'/«6.13.50 M..'/»S. 26 M.. >/, 6.50 M.-. für Nicht- über L^pzig oder Kreuzband, an Nichtmit^lieder in j Mitglieder 40 >pf.. 32 2N.. 60 M.. 100 M. — Deilagcn werden R LÄAMüMÄMrsederÄM'er'SMlW^ Leipzig, Montag den 23. November 1914. 81. Jahrgang. Redaktioneller Teil. Wiener Briefe. v. liv siehe Nr. tW.l Bier Monate nach der erste» Kriegserklärung. »Das Leben geht wieder seinen alltäglichen Gang.« Dieser sinnlosen Phrase begegnen wir jetzt in zahlreichen Zeitungsarti keln und Feuilletons (ich bitte um Entschuldigung, daß ich noch immer den aus dem Französischen stammenden Ausdruck, der sich im Sprachgebrauch längst eingebürgert hat, verwende und mich an das zum Ersatz vorgeschlagene »Kunterbunt« nicht gewöhnen kann; das Wort scheint mir den Begriff viel zu wenig zu decken und somit untauglich zu sein; die Sprachgelehrtcn und Zeitungs praktiker werden Wohl auf eine passendere Benennung bedacht sein müssen). In Wirklichkeit ist das derzeitige Gesicht des Lebens durchaus nicht alltäglich, sondern es ist der Fall eingetreten, daß wir uns an das Außerordentliche gewöhnt haben. Wir sind ab- gestumpft geworden gegen das uns anfänglich so traurig klin gende, schrille Signal der Kraftwagen, die Verwundete ins Spital befördern; wir haben uns daran gewöhnt, in den meisten Straßen an zahlreichen öffentlichen und privaten Gebäuden die Fahne des »Roten Kreuzes« flattern zu sehen, und wir sind nicht mehr schmerzlich überrascht, beim Abcndspaziergang bleichwangigen Of fizieren und Soldaten zu begegnen, die, mit Kopf- und Ärmver- bänden versehen oder auf Krückstöcke gestützt, frische Luft schöpfen. Leute, die beim geringsten körperlichen Unbehagen, das sie befällt, die berühmtesten Professoren der Medizin zu Rate ziehen, lesen und erzählen mit Gleichmut von Schlachten, bei denen Hunderte oder gar tausende blühende junge Leute ihr Leben lassen muß ten. So sehr stumpft die Gewohnheit ab. Richten wir unsere Blicke auf das Ganze, so gewinnen wir freilich die Überzeugung, daß der Krieg auch viele gute Geister weckt und schöne sittliche Empfindungen und Taten aus den Men schen herausholt. Regelmäßig und reichlich fließ! der Strom der Spenden und Liebesgaben für die mannigfachsten Kriegsfürsorge- zweckc, für die Unterstützung der Familien der Eingcrücklen, für die Versorgung der im Felde stehenden Soldaten mit Winter wäsche, mit Zigarren, mit Lesestoff, für die Unterkunft und Ver pflegung galizischer Flüchtlinge usw.; ehrliche Bewunderung ver dienen die Frauen und Mädchen aller Stände, die sich mit Eifer als Pflegerinnen in den Lazaretten, als Helferinnen beim Labe- dienst, bei der Ausspeisung und bei den verschiedenartigsten Wohl tätigkeits-Vereinigungen betätigen. Und endlich muß alz das Wichtigste die kriegerische Begeisterung der Jugend erwähnt wer den; diese halberwachsenen Abiturienten drängen sich zum frei willigen Dienst, zur militärischen Ausbildung mit einem Bater- landsgefühl, das durch die Schule, durch die antiken Klassiker her vorgerufen oder doch mindestens genährt wurde. In den Schaufenstern der Buchhandlungen spiegeln sich die Strömungen des Tages und das literarische Interesse des Publi kums Wider; vor vier Monaten, zu Beginn des Krieges, haben die Kriegskarten den Hauptbestandteil der Auslagen gebildet; seither ist eine Fülle, vielleicht eine überfülle an Kriegsliteratur zutage getreten, die nun die Schaufenster beinahe vollständig in Anspruch Nimmt. Die Medizin, die Jurisprudenz, die Theologie, Geo graphie, Statistik — alle Wissenschaften sind in den Dienst des Krieges getreten und haben den Büchermarkt mit Werken, die in einer oder der anderen Weife auf den Krieg Bezug haben, be reichert; was man »schöne Literatur« nennt, ist in den Hinter grund getreten, doch beteiligt sich selbstverständlich auch die Poesie an dem Interesse für den Krieg. Wenn auch der Ernst und die Not der Zeit dem BUchcrkaufen eben nicht günstig sind, so kann man doch feststellen, daß das Publikum nicht mehr bloß für Kriegs karten und ähnliche Erzeugnisse Interesse hat. Daß im allgemei nen Umsatz und Absatz gegen das Vorjahr Zurückbleiben, läßt sich Wohl mit der größten Wahrscheinlichkeit onnehmen, aber ich halte cs für groteske Übertreibung, wenn erzählt wird, daß in einem hiesigen Sortiment das ganze Personal vor Erstaunen zusammen lief, als ein Kunde die Absicht äußerte, ein größeres philosophi sches Werk anzuschaffcn. Jene Firmen, die hauptsächlich Hoch- schlller zu Kunden haben, dürsten allerdings über das Kriegsjahr klagen; beträgt doch die Zahl der bis zum 1. November einge schriebenen Universitätshörer nur 2000 gegen 19 000 im Vorjahre. Die fehlenden 8000 sind Wohl zum Teil Ausländer, die jetzt nicht in Wien studieren dürfen oder können, wahrend die überwiegende Mehrzahl Österreicher sind, die im Felde stehen. Zum Kapitel Schaufenster noch eine Bemerkung; Es war knapp nach der ersten Kriegserklärung, als in einem hiesigen Schaufenster ein Buch auftauchte; »Der Krieg der Welten«. In diesem vor einem Dezennium erschienenen naturwissenschaftlichen Zukunftsroman wird eine Invasion der Erde durch Marsbe wohner geschildert; es ist also klar, daß das Buch nichts mit den gegenwärtigen Kriegswirren zu tun hat. Die Polizeibehörde for derte auf, das Buch aus dem Schaufenster zu entfernen. Begrün dung; es wird nicht gewünscht, daß das Wort »Weltkrieg« in den täglichen Sprachgebrauch gelangt. Seither sind, wenn ich nicht irre, fünfzehn Kriegserklärungen erfolgt, und die Sicher heitsbehörde hat es nicht hindern können, daß der Ausdruck »Weltkrieg« täglich unzählige Male in Wort und Schrift gebraucht wird. Jin Börsenblatt Nr. 243 vom 19. Oktober hat eine kleine An zahl Wiener Firmen ein Eingesandt unter der Spitzmarke »Va- luta-Schwierigkeiten« veröffentlicht, das sich gegen die Mark berechnung von hiesigen Auslieferungslagern reichsdeutscher Ver lagsbuchhandlungen wendet. Ich bin von zuständiger Seite er sucht worden, auf diese Beschwerde zu antworten, und tue es gern, weil oder vielleicht, obwohl ich beruflich einige ansehnliche Aus lieferungen zu leiten und zu überwachen habe. Die Angelegen heit ist viel klarer und einfacher, als sie nach den Worten des Herrn Hugo Heller aussieht. Seit dem Beginn des Krieges sind die meisten, oder vielleicht alle Börsen der Welt, selbstverständlich auch die Wiener Börse, ge schlossen. Es gibt ja genug Gegner der Börse, aber diese mögen jetzt versuchen, Effekten, ich will gar nicht sagen Aktien von Jn- dustricunternehmungen, sondern Staatsrenten in einer Wechsel stube zu verkaufen, und sic werden ihr Wunder sehen, welches Angebot man ihnen mangels eines offiziellen Kurses macht. (Die Belehnung von Renten erfolgt allerdings durch die Ssterr.-llnga- 1681