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Der Fehler ist gemacht worden, ein offenes Eingeständniß ist da besser als ein Dutzend officiöser und gewundener Bemäntelungen. Zum Gumbinner Mordprozesse wird der „Nat.- Ztg." gemeldet, daß sich der Sergeant Hickel, dessen Wiederverhaftung angekündigt worden war, auf freiem Fuße befindet; er hat bis zum 1. October Urlaub und zugleich das Recht erhalten, Civilkleidung zu tragen. Auch der alte Marten hat Urlaub bis zum I. October erhalten und ist nicht ins Manöver gegangen. Er ist nach dem Todesurtheil gegen den Sohn völlig apathisch geworden und sitzt den ganzen Tag über still in der Sophaecke. Mit den Maßregelungen einiger Zeugen im Gumbinner Prozeß, die zu Gunsten der Angeklagten ausgesagt hatten und mit denen auf Befehl des Gerichts herrn nun nicht capitulirt werden soll, obwohl die be treffenden Leute bereits im 10. oder 11. Dienstjahre stehen, sind auch die conservativen Organe nicht einver standen. Sollte sich diese Nachricht bestätigen, so lesen wir in einem derselben, dann wäre zu befürchten, daß sie die Autorität der Militärgerichte im höchsten Maße gefährdeten. Denn durch solche nachträglichen Maß regelungen würden die Zeugen beim Militärgericht unter den Druck der Furcht gestellt, in schwere Gewissens- eonflicte Hineingetrieben und dadurch ihre Glaubwürdig keit stark beeinträchtigt. Die Angeklagten oder ihre Vertheidiger würden dann Soldaten als Belastungszeugen als befangen wahrscheinlich allgemein zurückweisen. Und wer will es entkräften, wenn gesagt wird: Wenn die Unteroffiziere als Zeugen so behandelt werden, so ist anzunehmen, daß auch die Offiziere als Zeugen oder gar als Richter unter einem solchen Druck des General- commandos resp. des Gerichtsherrn stehen. Damit wäre aber der Autorität der Militärgerichte der Boden völlig entzogen und ihre ganze Existenz gefährdet. Auf der anderen Seite muß man freilich anerkennen, daß es sehr wohl zu begreifen ist, wenn die militärischen Vorgesetzten aus Rücksicht auf die Disciplin, welche die Seele der Armee ist, Bedenken tragen, Unteroffiziere, welche eben unter dem Verdacht resp. der Anklage wegen Offiziermordes oder Begünstigung desselben ge standen haben, in der Armee weiter dienen zu lassen. Von dem Vertheidiger Hickels, Rechtsanwalt Horn, sind der „Nat.-Ztg." diejenigen Aktenstücke zugesandt worden, welche darthun, daß die zweite Hickelsche Untersuchungs haft ungesetzlich war. Hickel selbst will dagegen nach seinem Austritt aus dem Militärstande Beschwerde er heben. Der verurtheilte Marten darf seine Eltern alle Mittwoch Nachmittag in Gegenwart eines Offiziers zu Besuch empfangen. Die Zuschriften aus dem Volke, die sämmtlich von großen Sympathien zeugen, sind dem Marten nur theilweise ausgehändigt worden. Für das Verfahren vor dem Reichsmilitärgericht wird ein her vorragender Berliner Anwalt herangezogen werden. Die Kosten dafür bringen Gumbinner Bürger durch eine Sammlung auf. Ein Berliner Detectivbureau setzt die Untersuchungen fort, die ergeben haben sollen, daß auch eine Civilperson den Mord begangen haben kann. Die Londoner Blätter behaupten neuerdings, daß für alle Maßregeln der Briten in Südafrika, die als Grau- Unterhaltungstheil. Im Berghause. Novelle von Bertha v. Suttner. Nachdruck verboten. „Bitt' Euer Gnaden, sie ist schon da." »Ja? — So führe sie herein." Der junge Bursche, der diese Meldung gemacht hatte, ging wieder (zur Thür hinaus, um nach einer Weile eine stattliche, ältliche Frau hereinzulassen. Dieselbe machte einen tiefen Knix und blieb beim Eingang stehen. »Treten Sie nur näher, Frau Müller," sagte Herr von Bolton, der seinen Sitz am Schreibtisch nicht ver lassen hatte. „Ich erwartete Sie schon gestern . . . Wie kommt es, daß Ihre Ankunft sich verzögert hat?" „Ich bitte um Entschuldigung — ich habe vorgestern abends den Zug versäumt ..." „Nun, das thut nichts — einen Tag mehr oder weniger ohne Haushälterin, das macht keinen Unter schied, — Ihr Dienst hier wird kein schwerer sein . . . Nur die Oberaufsicht: ich habe eine ziemlich geschickte Köchin, eine Magd und einen Gärtnerburschen, diese verrichten alle Hausarbeit, Sie brauchen nur ..." „Ich weiß, gnädiger Herr, das ist mir alles im Wiener Vermittlungsbureau mitgetheilt worden." „Ganz richtig — auch ich kenne von dorther Ihre Bedingungen — Ihre Fähigkeiten u. s. w. Ich hoffe, wir werden gegenseitig zufrieden sein. Sie werden nach und nach meine kleinen Eigenheiten und Gewohnheiten kennen lernen und mir meine Haushaltung behaglich machen. Ich habe hier zur größeren Bequemlichkeit" — er nahm ein beschriebenes Blatt Papier aus seiner Mappe und überreichte es der Frau — „eine Art Liste meiner verschiedenen Wünsche aufgesetzt. Studiren Sie das durch: Sie finden da die Hausordnung — Mahl zeitstunden — Lieblingsgerichte — die Höhe des Be- !samkeiten gebrandmarkt werden, Präcedenzfälle in den Maßregeln der deutschen Militärbehörden im Kriege gegn Frankreich von 1870/71 zu finden seien. Diese Gelegenheit ist zu verlockend, so schreibt die „Kreuz-Ztg.", um nicht zu fragen: Wo sind 1870 bis 71 die Lager der französischen gefangenen Frauen und Kinder in Frankreich gewesen? Wo sind damals ganze Landstriche verwüstet worden? Wo sind die fried lichen, wehrlosen Bewohner, selbst die Missionare und deren Angehörige in Massen festgenommen worden? Welcher deutsche Offizier hat täglich durch Aufzählung der Anzahl der erbeuteten Pferde, Rinder, Schafe und Patronen sich gerühmt? Wo sind die Deutschen durch eine Minderzahl von Gegnern, die nicht einmal Soldaten waren, derartig abgeschmiert worden, wie die Engländer am Tugela- und Modderfluß? Wo sind die Comman- deure, die sich vor Ablauf des Krieges nach Hause rufen und decoriren ließen? Wo sind die deutschen Soldaten, die sich fast wöchentlich gefangen nehmen ließen und nachher wieder laufen gelassen wurden? Wo sind die deutschen Artilleristen, deren Gespanne zum Feinde durchgingen? Wo sind die deutschen berittenen Truppen, die nicht reiten und nicht schießen konnten? Wo die deutschen Führer, die den Feldzug von vorn herein verkehrt einleiteten? Wo die deutschen Berichte, die von Siegen sprechen, aus denen in Wirklichkeit die elendesten Niederlagen wurden? Wo die deutschen Truppen, die sich auf freiem Felde in Masse ergaben? Dieses Dutzend Fragen, die sich leicht noch um ein paar weitere Dutzend vermehren ließen, enthüllt gleichzeitig eine Kritik des englischen Kriegsverfahrens, wie sie schärfer garnicht gedacht werden kann. Ein Vergleich der englischen Truppen mit deutschen schneidet für die ersteren eben beschämend ab. Der kleine Kreuzer „Wacht" ist in der Nähe von Arkona nach einer Collision mit dem Schiff „Sachsen" gesunken. Verluste an Menschenleben sind, soweit dies bisher zu übersehen, wahrscheinlich nicht zu beklagen. Frankreich. Das Programm für den Besuch des Zaren ist in zwei Ministerrathssitzungen endgiltig festgestellt wor den. Der türkische Botschafter in Paris, Munir Bey, hat seinen Posten nun gleichfalls verlassen und ist nach Konstantinopel zurückgekehrt. Nach der Abreise des Zaren soll eine französische Flottendemonstration in den türkischen Gewässern erfolgen. Bis dahin wird der schlimme Zwischenfall aber durch die Nachgiebigkeit des Sultans hoffentlich beigelegt sein. Holland. Tas erwartete frohe Ereigniß im Hause der Königin Wilhelmina zieht schon jetzt die Aufmerksam keit von ganz Holland auf sich. Jede Frau in Holland sieht dem Ereigniß mit ebenso großer Theilnahme ent gegen, als wenn es im Hause ihrer eigenen Schwester oder Tochter vor sich gehen sollte. Die Frauen Amster dams werden als Taufgeschenk ein Leinenmützchen über reichen, das mit Perlen und Diamanten besetzt wird. Eins der hübschesten Geschenke ist das Kissen, das die Frauen der Minister Herstellen. Sofort nach der Geburt wird das Kind auf dieses Kissen gelegt, und die träges, den ich für das Küchenbudget aussetze, und der gleichen mehr. Damit möchte ich gern ein- für allemal der weiteren Sorgen von Anordnungen und Eintheilungen und namentlich Speisezettel-Abfassungen enthoben sein. Eben weil ich mich mit diesen Dingen nicht befassen will, habe ich Sie engagirt — denn eigentlich würden meine Leute vollkommen ausreichen, mein kleines Haus zu bestellen; ich bin allein und habe nur wenig Bedürf nisse — aber ich mag das Rechnen und Anbefehlen nicht." „Ich verstehe, gnädiger Herr." „Hier, dieses," und er überreichte ihr ein zweites Blatt, „enthält das Jnventarium des Silberzeuges, der Hauswäsche und der sonstigen Einrichtung, die Ihrer Verantwortung übergeben wird. Das alles können wir morgen verificiren; — für heute machen Sie sich's be haglich. ... Ter Bursche wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen . . . Packen Sie Ihre Koffer aus — sehen Sie sich im Hause um . . . hoffentlich wird es Ihnen hier gefallen." „O, ganz gewiß." „Sie haben schon ähnliche Posten ausgefüllt — wie mir berichtet wurde . . . ?" „Ja, gnädiger Herr ..." „So? Nun, dann werden Sie Ihre Sache wohl verstehen. An Umgang — falls Sie gesellig sind — wird es Ihnen nicht fehlen. In der nächsten Nachbar schaft befinden sich zwei Schlösser, in welchen auch Haus hälterinnen schalten; dann sind auch einige Verwalters- und Förstersfrauen Ihres Alters in der Gegend . . . Wie alt sind Sie eigentlich?" „Fünfzig ..." „Sonderbar! . . . Sie sehen viel jünger aus. Wären die grauen Haare und die starke Gestalt nicht — man gäbe Ihnen kaum mehr als dreißig . . . Und was noch sonderbarer ist: ich wollte wetten, daß ich Ihr Gesicht schon irgendwo gesehen, Ihre Stimme irgendwann ge hört . . . kann mich aber nicht erinnern, wo und wann Minister müssen sein Geschlecht bezeugen. Ein schönes Taufkleid ist das Geschenk der Frauen im Haag; es wird von weißer Seide sein und Diamantknöpfe haben. Die Damen des holländischen Adels schenken eine silberne Wiege. Afrika. Die Buren sehen sich jetzt endlich zur strengen Wider vergeltung der englischen Kriegsgebräuche entschlossen. Ein Burencommandant hat eine Proclamation erlassen, die erklärt, daß alle Kap Holländer, die gegen die Buren thätig sind, wenn sie ergriffen werden, stand rechtlich erschossen werden sollen. Dewet erließ eine Proclamation, wonach alle englischen Gefangenen, die nach den 15. September im Oranjefreistaat gemacht wer den, ohne Weiteres niedergeschossen werden sollen. Im Kaplande haben die Buren, genau wie es die Engländer in den beiden Republiken zuvor gethan haben, nun auch Farmen niedergebrannt und englische Kundschafter kalt blütig erschossen. Darob natürlich furchtbare Entrüstung in ganz England. Jeder Unbefangene muß hier aber sagen: Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Die Buren haben im Grunde genommen viel zu lange gezögert, ehe sie von den Rechte der Wiedervergeltung Gebrauch machten. Amerika. Mit dem nordamerikanischcn Stahlarbeiter-Aus stand geht's rasch zu Ende. Die Zahl der Streiken den nimmt nach einer Meldung aus Newyork täglich ab, die Arbeiter kehren in Schaaren in die Werke zurück. Der Stahlring ist also Sieger geblieben, jedoch der Sieg -ist schwer errungen; auch dem Ring hat der Aus stand Millionen von Mark gekostet. Tie Regierung der Vereinigten Staaten hat die däni schen Antillen angeblich um einen Kaufpreis von 16 Millionen Kronen erworben. Daß Dänemark die Inseln losschlagen wollte, ist längst bekannt. Daß der Handel mit den Vereinigten Staaten nun auch wirklich abge schlossen ist, bedarf allerdings noch der Bestätigung. Aus dem Muldenthale. "Waldenburg, 5. September. Anläßlich seines 30- jährigen Bestehens feierte gestern der Pädagogische Verein Waldenburg in solenner Weise sein Stiftungs fest. Tie Feier wurde eröffnet durch eine musikalische Aufführung in der Aula des hiesigen Seminars, welche dem Verein zu Ehren vom Seminar dargeboten wurde. Das außerordentlich mannigfaltige Programm bot Vokal- und Jnstrumentalwerke in schönem Wechsel. Nach einer herzlichen Begrüßung seitens des Herrn Seminardirectors Ino. Steude und des Vereinsvorsitzenden Herrn Ober lehrer Or. Günther sang der Chor aus Elias von Mendelssohn einen 8stimmigen Chor, die Lieder „Abend wird es wieder", „Wer hat dich, du schöner Wald" und „Das Wandern ist des Müllers Lust", sowie die Concert- stücke „Frühlingsbotschaft" von Gade und „Waldmorgen" von Reinh. Becker. Einige Sologesänge brachte Frl. Günther zu Gehör. An Instrumentalmusik wurde dar geboten eine Fuge für Orgel von Rob. Schumann, Jm- provisate über ein französisches Volkslied aus dem 17. Jahrhundert für 2 Klaviere (vierhändig) von K. Reinecke . . . ich quäle mich schon die ganze Zeit, diese Aehn- lichkeit ausfindig zu machen, und es will mir nicht ge lingen." Eine Röthe überflog das Gesicht der Frau — sie gab aber keine Antwort. Bolton klingelte, crtheilte dem hereintretenden Johann den Befehl, Frau Müller auf ihr Zimmer zu führen, und damit war die Dienstantritts-Audienz zu Ende. Allein geblieben, versuchte er nochmals, sein Ge- dächtniß anzustrengen, um zu ergründen, an wen die Züge der neuen Haushälterin ihn mahnten .... die gleichzeitig mit diesem schattenhaft wahrgenommenen Erinnerungsbilde noch wesenloser aufsteigenden Bilder stellten einen hellerleuchteten Ballsaal vor .... oder nein: einen Damensalon zu traulicher Nachmittagsstunde . . . Plüschportieren . . . Aergerlich schüttelte er den Kopf; die Erinnerung an die Erinnerung war so flüchtig, so spinnwebendünn, daß er nicht imstande war, sie drei Sekunden lang festzu halten. Jedenfalls, wenn er eine Frau gekannt hatte, die mit Frau Müller Aehnlichkeit gehabt, so war dieS eine ganz oberflächliche Bekanntschaft gewesen. * * * Wenn Alexander von Bolton hätte fortfahren wollen, an seinem inneren Auge alle Erinnerungen vorbeiziehen zu lassen, welche er in dem reichen Leben gesammelt hatte, daS hinter ihm lag, so wäre er den ganzen Tag in seinen Träumen versunken geblieben. Denn was er in seiner bewegten Laufbahn gesehen und erlebt, das hätte genügt, zehn andere Menschenexistenzen zu füllen. Er hatte Glanz und Armuth kennen gelernt. In reichen und vornehme» Verhältnissen aufgewachsen, wurde er, durch einen Vermögcnsverlust, der sein Haus getroffen, in der Jugend darauf angewiesen, sich durch die Welt zu schlagen. Lectionen geben, Zeitungsartikel schreiben, so führte er eine Zeit lang das Leben der Kostows. (Fortsetzung folgt.)