Volltext Seite (XML)
Ich unterschätze also gewiss nicht die Bedeutung des Turnens. In Be zug auf das aber, was Dr. Angerstein vorher äusserte, muss ich sagen: Wir unterschätzen seitens der Schule das Turnen weder, noch dressieren wir oder richten ab. Dass allerdings in Berlin das Turnen zuweilen ein seitig betrieben wird und dass es dadurch, dass wir fast nur auf Sälen turnen, manches an natürlichem Betrieb vermissen lässt, gebe ich zu; aber anderswo liegen die Verhältnisse nicht so schlimm. Ich bin einiger massen in Deutschland herumgekommen und habe gesehen, wie die Sache betrieben wird, und muss darnach glauben, Dr. Angerstein hat schwärzer gesehen, als nötig ist. Wo wird denn hauptsächlich die Künstelei be trieben? In Schulen oder Vereinen? Auf der Schule ist man doch dazu gekommen, veranlasst durch die geringe Zeit, die zur Verfügung steht, vorwiegend einfache Dinge zu üben. Die eigentliche Brutstätte der Künsteleien, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, sind die Knaben turnvereine, soweit ich über Berlin ein Urteil fällen kann. Man führt die Schüler dort häufig zu schweren Übungen, ohne die leichteren vor her genügend geübt zu haben. Dass auch wir auf der Schule nicht immer nur das Einfache üben, ist wahr, kann aber auch nicht anders sein, denn sonst würde uns die Jugend davonlaufen, weil sie ja nach An regung und Abwechselung verlangt. Freilich wird andrerseits auch in Schulen mit Reigenschreiten und mit einseitigen, langweiligen militärischen Übungen eine Masse Zeit verloren. Indessen ist man doch dahin ge kommen, dass man allgemein anerkennt, wie wichtig das Turnspiel und das eigentliche turnerische Leben ist. Mein (früherer) Direktor Kern, ein anerkannter Pädagoge, der gleichfalls zum Ortsausschuss gehört, hält für die Hauptsache beim Turnen die pädagogische Einwirkung, welche aus dem Zusammenleben der Schüler hervorgeht. Früher allerdings war das anders. Vor 10 bis 15 Jahren hatten wir Mangel an Turn lehrern. Wer eine Masse einigermassen zu handhaben wusste, wurde für einen tüchtigen Turnlehrer angesehen, und solche Leute machten häufig Missgriffe. Jetzt aber haben wir wenige Turnlehrer, die nicht selbst persönlich in ihrer Jugend das Turnen durchgemacht hätten; und wer da weiss, was die Jugend will, und im Stande ist, mit ihr zu empfinden, der wird auch wissen auszuwählen, was für die .Tugend das Angemessene ist. Wenn wir uns prüfen, was denn eigentlich unsere Ideen sind, so werden wir sagen: Wir wollen das Turnen nicht nach einem bestimmten System betreiben, sondern vor allem so, dass wir die Jugend packen und anregen und eine frische, charakterfeste Jugend heranziehn. Wenn wir aber alle diesen Wunsch haben, sollten wir nicht im Stande sein, ihn auch durchzusetzen? Freilich, der Mangel an Zeit tritt uns