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Genetik G. Haase-Bessell Vervielfältigung der Chromosomensätze, ihre Wirkung und Vorteile und eine neue Methode, sie zu erreichen Gertrud Haase-Bessell Gelegentlich dringen in die Tageszeitungen Nachrichten über neu gefundene Methoden der Ertragssteigerung der Nutz pflanzen oder ganz allgemein Steigerung ihrer gärtnerischen oder landwirtschaftlichen Brauchbarkeit mit dem Ziel, den Nahrungsspielraum des Volkes auf autarker Grundlage zu erweitern. Insbesondere ist es die Rolle der Polyploidie, der Vielsätzigkeit der Chromosomensätze in den Zellkernen, die dabei in Betracht gezogen wird. Polyploidie ist in der freien Natur durchaus kein unbekann tes Prinzip. Die genetische Zellkunde hat vielmehr festge stellt, daß sich die Natur dieses Mittels in überraschend großem Ausmaß bedient, um insbesondre das Pflanzenkleid der Erde den verschiedenen Bedingungen klimatischer Zonen gleichzuschalten. Polyploidie spielt dementsprechend bei der Artenbildung der Pflanzen eine ganz große Rolle, ja bietet vielmehr erst die Möglichkeit, daß ganze Pflanzengesellschaften die Umweltbedingungen des Anorganischen auf der Erde meistern. Wenn der Mensch also heute versucht, die Bedingungen in die Hand zu bekommen, die zu den Verdoppelungen der Gen- Sätze führen, so folgt er nur der alten Lehrmeisterin Natur auf Pfaden, die diese schon lange begangen hat. I. Zunächst: Was ist Polyploidie? Wenn uns heute die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge in der Pflanzenwelt nicht mehr ganz so einfach und geradlinig erscheinen wie viel leicht der Generation um Ernst Heckel, so ist doch die Forschung davon überzeugt, daß im Ver lauf der verschiedenen Erdperioden die Lebewelt nicht eine Sukzession, sondern eine Evolution aus sich heraus verbindet, schon allein aus dem Grund des gemeinsamen Chromosomenmechanis mus bei der Zellkernteilung, die allen Organismen gemeinsam eigentümlich ist. Ja mehr, wir finden heute die Grenzsteine nicht mehr, die Lebendiges von Nichtlebendigem trennen sollten, und das Ge füge der „lebendigen Substanz“, oder des Proto- plasmas, erscheint uns zwar als eine Möglichkeit, das „Leben“ zu steigern, aber grundsätzlich nicht vom „Anorganischen“ verschieden. Ob sich die Entwicklung dieses Gefüges einmal zu einer glücklichen Erdenstunde plötzlich ergeben hat oder aber, ob — erdgeschichtlich gesehen — lange Zeiträume dazu nötig waren, wissen wir nicht. Aber eines können wir sagen, daß die Ab läufe in diesem Gefüge zunächst unendlich lang sam vor sich gegangen sind, in rethorischer Über treibung im Jahrhunderttempo. Daß höhere Or ganismen, zuletzt der Mensch, entstehen konnten, mußte etwas hinzukommen, was diese Abläufe auf höhere Touren brachte. Dieses Etwas sind un zweifelhaft die Gene, stoffliche Einheiten in den Chromosomen, den Kernschleifen der Zellkerne, die sich bei der Kernteilung dem bewaffneten Auge verdeutlichen. Sie sind heute als Träger der Vererbung Jedem Schuljungen eine Realität geworden, ihm tausendmal im Bild vorgeführt, so daß das Schema der Chromosomenteilungen und der sich daraus ergebende Mendelismus als be kannt vorauszusetzen ist. Sicherlich muß ein Gen ein stoffliches Gefüge besonderer Eigenart darstellen, vor allem zwei Eigenschaften besitzen: einmal die der Repro duktionsfähigkeit, dann die eines Katalysators. Das Prinzip der Katalyse verwendet der Mensch in der Technik sehr ausgiebig. Man braucht dort vielfach stoffliche Umsetzungen, die sich nicht ohne weiteres ergeben. Soll der gewünschte Vorgang in Gang gebracht werden, braucht man — wenn schon in kleinen Mengen — einen Hilfsstoff, der die Eigentümlichkeit besitzt, sich bei den Reaktionen selbst nicht zu verbrauchen, sondern in seiner alten Eigenart wieder herauszuwickeln. Erfüllt er diese Bedingungen, so nennt man ihn eben einen „Katalysator“. Heute ist, wie gesagt, die Anwen dung der Katalyse in der Technik so verbreitet, daß es nur wenige chemische Reaktionen gibt, wo nicht ein oder mehrere Katalysatoren beteiligt sind. Die Katalysatoren der lebendigen Substanz zeichnen sich durch besonders hohe Aktivität aus. Zu ihnen gehören vor allem die Gene, die durch einen Schutzstoff (das Chromatin) vor Verände rungen in ihrem Bau geschützt, umweltstabil sind, d. h. ihren Bau und damit ihre Funktion erbtreu weitergeben können. Kein Genetiker zweifelt heute daran, daß die Gene an ihren Oberflächen „Wirkstoffe“ bilden, die in verschiedenster Weise in die Entwicklung und Formung des Organismus eingreifen. Damit sind sie die Beherrscher der Entwicklungsabläufe, die Geburt, Leben und Tod eines jeden Organismus meistern. Daraus ergibt sich ein Zweites. Wenn man jedes Gen unter dem Bild eines Zeitraffers (im Sinne des bekannten Filmapparates) betrachtet, so ist es klar, daß nicht jedes Gen sozusagen „demo kratisch“ drehen kann. Der Erfolg einer solchen „Freiheit“ könnte ja niemals ein lebenstüchtiger Organismus sein, sondern notwendig ein Chaos, ein Nichts. Die Gene müssen, damit sich ein Or ganismus entwickeln kann, genau aufeinander ein gespielt sein. Ihre Aktivierung im Nacheinander, in gegenseitiger Abhängigkeit, hat die Auslese im Verlauf von Millionen von Jahren ganz scharf kontrolliert. Die vorhandenen Gene in den Chro mosomen bilden das genau ausgewogene Erb system der Art, dessen Unantastbarkeit ins Auge springt, wenn man sich vergegenwärtigt, wie kata strophal eine einzige Lücke im Ineinandergreifen des Entwicklungsgeschehens sein muß. Die Stabilität der Genstoffe ist nicht 100pro- zentig gegeben. Unter gewissen Umständen ver sagen die Schutzmaßnahmen, und der komplizierte Bau der Genstoffe fällt in ein einfacheres Gleich gewicht zurück. Besonders bei den Pflanzen muß im Gensystem die Zusammenarbeit streng „autark ‘ geregelt sein. Bei den Tieren ist mancher