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„Herr Malten!" rief sie freudig. „Sie haben sich vor hin nicht darüber freuen wollen, datz ich hierher zurück- gekehrt bin, jetzt aber fallen Sie sich freuen! Ich habe oor, meinen Vater zu bewegen, die bereits von meiner Mutter gebaute Schule endlich ihrem ursprünglichen Zwecke zuzu führen. Und diese Schule sollen Sie leiten Ich will Ihnen alles übergeben und in Ihre Hände legen. Da finden Sie endlich einen Ihrer würdigen Wirkungskreis, die Kinder hängen alle an Ihnen, und auch mir ist eine Sorge vom Herzen genommen, wenn ich die neue Schule in so guten und gewissenhaften Händen weiß." Maltens Antlitz überzog eine flammende Röte, seine Augen weiteten sich, und Strahlen der Hoffnung, der Be geisterung brachen daraus hervor. Im Nu war sein ganzes Wesen wie umgewandelt, der alte Idealist durchbrach mit sieghafter Kraft die Rinde der Melancholie und Trauer und er rief: „Eine Schule — eine Schule für die armen Kinder, daß sie den erbärmlichen, steinigen Weg nicht mehr gehen dürfen? Und ich soll diese Schule leiten — ich, ganz allein, nach meinem Kopf, nur zum Wohle oer Kinder?" Er brach in ein freudiges Lachen aus, das Elenas Ohren fast kindlich klang, und noch einmal wiederholte er seine Fragen und sie mutzte ihm aufs neue bestätigen, datz er recht gehört habe und datz er, er ganz allein mit der Leitung der Schule, mit der Wahl der Lehrer und dem Einkauf des Lehrmaterials betraut werden würde. „Mein Eott!" sagte er nach einer Weile mit einer liefen Andacht in seinen leuchtenden blauen Augen „Wer mir das heute morgen gesagt hätte, als ich verzweifelt ins Meer hinausfuhr und den Mut zu finden suchte, meinem Dasein ein Ende zu machen!" Er griff Elenas Hände und drückte sie, dabei blickte er in ihr Gesicht, das ihm jo froh, so hoffnungsfreudig anlächelte, und plötzlich war es wieder vorbei mit dem Leuchten in feinem Antlitz, ein schmerzvoller Seufzer entstieg seiner Brust, seine Äugen umflorten sich, und die tiefe Trauer lag wieder auf ihm. Langsam stand er auf und sagte: „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Fräulein Elena. Ich gehe jetzt heim und bringe meiner Mutter die freudige Botschaft, die arme Frau hat es nötig." „Und wollen Sie wirklich nicht in unser Haus ein- treten?" fragte Elena sanft. „Nein," erwiderte er, und seine sonst so weiche, leicht vibrierende Stimme klang hart. Dann sprang er in den Kahn, und seiner einstigen Schülerin nochmals zunickend, stieß er die Ruder gegen die Felsen, und alsbald schaukelte das kleine Schiff auf den leichtbewegten Wellen gegen San Giorgis zu, wo Hermann Malten mit seiner Mutter wohnte. Elena war auf der Marmorbank sitzen geblieben und blickte der immer kleiner werdenden Gestalt lange nach. Seltsame Empfindungen bewegten sie, ein wehmutsvolles Erinnern an ihre Kindheit, an ihre Mutter —. Ihre Mutter also hat diesen schönen, träumerischen Menschen veranlaßt, nach San Marina zu kommen und war so, ohne es zu wollen und zu wissen sein Unglück geworden —. Eben wollte sie diesen Gedanken weiterspinnen, als ihre Blicke in einiger Entfernung, am Strandweg, der unterhalb der Villa seinen Anfang nahm, einen alten Mann streiften, der in gebückter Haltung dort saß. Sie er innerte sich, ihn schon während ihres Gesprächs mit Her mann Malten dort sitzen gesehen zu haben, allein sie hatte nicht darauf geachtet, datz er so reglos, die Hände vor die Augen geschlagen, basatz. ein Bild stummer Verzweiflung Jetzt fiel er ihr wieder auf, sie beobachtete den Alten, und es währte nicht lange, so erkannte sie an den Umrissen der Gestalt Klaas, den Fischer. Weshalb saß er dort so traurig? Gab es denn hier nichts als Elend und Verzweiflung, Hader und Haß, wo hin sie auch blicken mochte? Die sonnige Pracht, die sie umgab, dieser strahlende Tag, die tiefe, schimmernde Bläue des Meeres, die leuch tenden Farben der Tausende von Blüten hatten etwas Jauchzendes, alle im Menschen schlummernde Lust Wecken des, Ausreizendes — und so elend, jo bar jeder Freude krochen die Menschen hin? Sie schüttelte den Kopf. In den wenigen Tagen, da sie hier weilte, hatte sie so viel Unzufriedenheit, so viel Leid, zerschellte Hoffnungen, apathisches Verzichtleisten ge sehen — das Leben hatte sich vor ihr aufgetan mit ab gründigen Tiefen, aber noch schauerte sie nicht zurück, noch blickte sie mit halb erschrockenen, teilnahmsvollen, halb neugierigen Augen in die Schlunde, in denen es von so Furchtbarem wimmelte. Sie stand auf, kletterte über die Felsen, über die hinüber sie den Strandweg erreichen konnte, und schritt dann aus den alten Klaas zu. Tie mußte wissen, was es mit dem Alten war, und so zögerte sie auch nicht, ihn aus seiner Versunkenheit zu wecken. Er satz auf einem Steinhausen, die Augen noch immer mit seinen braunen Händen bedeckt, und hatte Elenas Näherkommen nicht bemerkt. „Klaas — guten Tag, Vater Klaas!" rief sie ihn an, aber er rührte sich nicht. „Vater Klaas — ich bin es, Elena Pallestrazzi. Wollen Sie mir nicht guten Tag sagen?" Langsam hob er den greisen Kopf, die faltigen Hände fielen von den Augen, dann hob er sie wieder an dieselben, rieb sich die Lider, und dann blickte er Elena an — mit wässerigen, geröteten, stumpfsinnigen Augen, ohne ein Zeichen der Freude, ja nur des Erkennens zu geben. „Was haben Sie?" rief Elena. „Haben Sie geschlafen?" Er glotzte sie an und schwieg — er erkannte sie gar nicht. „Mein Eott, der Alte ist betrunken!" dachte Elena, aber trotzdem ergriff sie Mitleid, sie faßte ihn am Arme und sagte: „Sie sollen hier nicht so sitzen, Klaas, die Sonne brennt, und wenn die Jungen hier vorüberkommen so —" Sie vollendete ihren Satz nicht, es tat ihr wehe, den alten Mann dem Spott der Dorfjugend preisgegeben zu sehen. Ein scharfer Branntweingeruch ging von ihm aus, der sie anwiderte, aber sie bezwang sich, versuchte ihn empor zuziehen und sagte wieder: „Kommen Sie, Vater Klaas, wir wollen zu Ihrer Frau, zur Trude." Da verschwamm sein glotzender Blick, die geröteten Augen verschleierten sich, und langsam perlte Träne um Träne aus den alten brechenden Äugen. Die bläulichen Lippen begannen zu zittern, zu beben, und mit lallender Zunge stammelte der Greis: „Zur Trude, — ja, zur Trude — da will ich ja — will — ich — ja —" „Also kommen Sie, ich führe Sie." Ein kurzes heiseres Lachen, das Elena erschrecken ließ, denn es klang wie das Krächzen eines Raubvogels, schlug aus dem bebenden Munde des Alten, dann glotzte er sie wieder an und dann, nach einer Weile, ächzte er in kläg lichem Tone: „Die Trude ist tot — ganz — ganz tot —" Elena fuhr zurück. „Ganz tot — rührt sich gar nicht mehr — Habe die ganze Nacht gewartet, datz sie ein einziges Wort zu mir sagen würde — aber sie rührt sich nicht — sie will nicht — und nicht ein Wörtchen hat sie zu mir gesagt — nicht eins — wäre ja mit ihr gegangen." „Wie geschah es denn? Ich habe sie ja gestern abend noch auf den Kirchstufen sitzen sehen?" „Ja, ja — gestern abend — auf den Kirchstufen. Und nachher geschah es. Auf den Kirchstufen, da saß sie so gern, weil sie von dort nach Norden blicken konnte. Da saß ie immer und blickte immer nach der Wasserstraße, von wo wir da eingefahren waren. Das war ihre fixe Idee. Und ich habe gespart und gedarbt und ihr immer versprochen, daß wir wieder ins Holsteinische zurückkehren werden, und sie hat an mich geglaubt und alles mit mir getragen in diesem Glauben — ja, sie war ein treues, ein liebes Weib — ach, meine Trude —." Er schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus. Die Geister des Alkohols, mit denen er sich zu betäuben versucht hatte, schienen ver flogen, und lam stöhnend siel er mit dem Kopf gegen den Steinhaufen und rauste sich in wilder Verzweiflung die langen, gelbgrauen Haare, die ihm in straffen Strähnen bis an die Schultern reichten. (Fortsetzung folgtZ ober