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Hohmstem-EmMaler TageblallundAnseM Nr. 85 Mittwoch, den 11. April 1928 1. Beilage Briefe an uns Chemnitzer Brief Haushaltplanberatung — Der Millionenfehl betrag der Straßenbahn — Die Tarifpolitil des Elektrizitätswerkes — Der Spielplan der städti schen Theater erzieht nicht das Publikum zum wahren Kunstgenuß — Adolf Hitler in Chemnü In unserm Stadtparlament gab es in diesen Tagen ein gar niedliches Großreinemachen, bei deiy die Gesäuberten gar zu gerne den Stadt vätern gesagt hätten: „Das verstehst du nicht, mein Lieber!", wenn — es angegangen wäre. Der Haushaltplan für das neue Jahr beschäf tigte das Stadtparlament, und wenn man solche Beratungen nicht auch gerade treffend als Groß reinemachen bezeichnen kann, so doch mindestens als eine große Kopfwäsche, bei der man schadenfroh die Gelegenheit ergreift, Berech tigtes und Unberechtigtes hinauf zur Tribüne zu schleudern — sinnbildlich natürlich! Wir Chemnitzer sind doch so wohl erzogene Parla mentarier, daß wir so etwas praktisch nie tun würden! Wir wählen höchstens einmal au unserm stadtväterlichen Sorgenstuhl die Worte nicht allzu scharf und verstehen es dann nicht, wenn man uns vorwirft, wir hätten wider den Geist des seligen Knigge gesündigt! Aber eifrig wie die Hausfrauen beim großer Osterreinemachen waren die Stadtvüter ent schieden bei dieser Haushaltberatung! Was hat nicht allein alles unsere arme Straßenbahn verwaltung anhören müssen, der es gewiß von Anfang an etwas schwül zumute mar. Wenn ein Quartaner mit ein paar glänzenden Vieren vor seinenVater treten soll, so kann das nicht viel unangenehmer sein, als die Notwendigkeit für die Straßenbahnverwaltung, mit einem mit einer runden Million Verlust abschließenden Haushalt vor das Stadtparlamcnt zu treten. Zwar gab sich der Stadtverordnetenvorsteher redliche Mühe, die kalte Dusche dieser Verlust million etwas abzuschwächen und sie aus dem fortgesetzten Bau neuer Betriebsmittel und lei stungsfähiger Werkstätten zu erklären, aber die Straßenbahnverwaltung mußte cs sich doch ins Stammbuch schreiben lassen, daß sie das Schmer- zrnskind der Stadt und in ihrer Entwicklung auf dem Standpunkt von vor 25 Jahren stehen geblieben sei. Selbst der Straßenbahnausschuß mußte diesen Verlust als ihm „völlig unver ständlich" erklären und zugeben, daß diese Defi zitwirtschaft doch an irgend etwas liegen müsse. Man wird ja nun bald sehen, denn die unan genehme Verlustmillion hat zu dem Entschlusse geführt, daß man nun einmal „fremde Augen in den gesamten Betrieb hineinsehen" lasten will. Man wird jetzi einmal den ganzen Geschäftskreis der Straßcnbahnverwaltung von Außenstehen den nachprüfen lassen. Vielleicht, daß dann doch einmal ein Gewinnabschluß herauskommt, ohne daß man die bei uns gewiß nicht sonderlich billigen Fahrpreise zu erhöhen braucht! Auch die Tarifpolitik unseres Elektrizitäts werkes wurde einer sehr scharfen Kritik unter zogen, wobei man nicht verkannte, daß es von der Stadt zur Ausbalancierung der Haushall pläne so ziemlich ausgepowert wird. Selbstver ständlich haben weder Geschäfts-, noch Biirger- kreise Verständnis für die hohe Tarifpolitik und verstehen es nicht, daß man, da man mit den letzten großen Erweiterungsbauten, die Millio nen verschlungen haben, noch nicht zu Rande ist. schon wieder um die Zustimmung zu einem Prachtbau von Werkstattgcbäude vorstellig ge worden ist, das mehrere Millionen kosten soll. Man will ja nun diese Millionen aus eigenen Mitteln aufbringen, aber es ist doch ganz klar, daß diese Mittel nur dank der überspannten Tarife zur Verfügung stehen. Unter diesen Um ständen versteht man es auch, daß die Stadt väter immer mehr mit dem Gedanken lieb ¬ äugeln, die Selbständigkeit unseres Elektrizi tätswerkes aufzugeben und den Anschluß an die Sächsischen Werke erwägen, von dem man sich be achtliche Vorteile verspricht. Nach ausgestellten Berechnungen soll sich der Strom dann wesentlich billiger stellen als bei der Selbsterzeugung und der Stadt eine erheblich größere Betriebssicher heit gewährleistet werden. Gerade das Letztere dürfte auf weite Kreise, die den Aerger über die ewigen Lichtstörungen im vergangenen Winter noch nicht überwunden haben, besonders be stechend wirken. Schließlich wird auch die Generalintendanz unserer städtischen Theater nicht gerade erbaur gewesen sein über das Führungs- und Leistungs zeugnis, das ihr die Stadtväter bei dieser Ge legenheit ausgestellt haben. Die Osterzenjur, die Meister Tauber samt seinen Ratgebern erhielt, ist etwas kläglich ausgefallen, und wenn im Kollegium auch die kommunistische Note „kann nicht versetzt werden" in Form einer glatten Ablehnung des Theaterhaushaltes keine Zu stimmung fand, so unterschied sich doch die Note, zu der man sich in heißem Wortgefecht entschloß, nicht viel von einem kläglichen „kann gerade noch mit Mühe und Not versetzt werden". Die Frage, ob die Leistungen unseres Theaters noch den von ihm verschlungenen Aufwand in Höhe einer dreiviertel Million wert seien, fand nur noch anstandshalber ein verschnupftes „Ja", und die Feststellung, daß sich unser Theater nach einen Ankündigungen zu schließen immer furcht bar viel vornimmt, um es dann unter allerlei fadenscheinigen Vorwänden nicht zu halten, nußte für die Theatergewaltigen eine ebenso bittere Pille sein, wie der Vorwurf, daß in Chemnitz die klassische Literatur auf der Bühne nicht die Pflege findet, die ihr ein Kultur theater schuldig ist. Es war immerhin ein star kes Stück, daß die Chemnitzer Bühnen Goethe während des ganzen Winters nicht haben zu Worte kommen lassen. Eine künstlerische Un- Möglichkeit, die sich wohl bisher noch kein anderes deutsches Eroßstadttheater geleistet hat. Die Abrechnung im Stadtverordnetensaale sprach es klipp und klar aus, daß das Chemnitzer Theater seine größte und schönste Aufgabe, das Publikum zum wahren Kunstgenuß zu erziehen, schwer vernachlässigt hat. Es wurden bei dieser Mohrenwäsche im Stadtparlament noch gar manch andere erboste Philippika gehalten. Aber auch draußen in dem von der Polizei förmlich kriegsmäßig gesicherten Marmorpalast, vor dem Tausende unverrichteter Sache hatten wieder umkehren müssen, wurde am Montag abend eine Philippika gehalten, die dem gesamten deutschen Volke einmal bitter notwendig ins Stammbuch geschrieben werden mußte. Dort sprach Adolf Hitler. Man fühlt es ganz unwillkürlich, daß hier ein Mann spricht, in dem sich eine Idee verkörpert, gleich- zültig nun, ob man sie für richtig oder falsch an erkennen will. Auf jeden Fall aber tut es wohl, einmal einen Mann zu hören, der nach dem ewigen Phrasentum des Parteigezänks unerschrocken der breiten Masse einmal auch das zu sagen wagt, was sie nicht gern hört. Oder wer von den Parteigewaltigen hat es bisher ge wagt, den Massen so offen und schonungslos zu lagen, daß Einkommen niemals gleichbedeutend mit Auskommen ist und daß man nach den ewigen ungeschriebenen Wirtjchaftsgesetzen der Masse zwar ein größeres Einkommen, niemals aber dadurch ein besseres Auskommen geben könne. Wer hat bisher von all den Volksred nern den breiten Masten so überzeugend vor Augen geführt, daß wir alle auf Gedeih und Verderb zu einer deutschen Volksgemeinschaft zu- ammengeschlossen sind, daß zwar der eine sich vorübergehend zu bereichern vermag auf Kosten des andern, daß wir aber alle, ob früher oder später, dem Untergange geweiht sind, wenn oic deutsche Volksgemeinschaft zu Stunde geht. !Wenn Adolf Hitler in seinen fast dreistündigen j Ausführungen der Masse nichts weiter eing?- hämmert hätte als dies — man müßte ihm dank bar dafür sein, denn gerade diese Erkenntnis ist es, die uns allen fehlt und wenn sie erst einmal wieder Allgemeingut des deutschen Volkes wird, dann kann der Auferstehungstag auch für unser deutsches Vaterland nicht mehr fern sein. Egon. * Berliner Brief Mein altes Berlin Jeder hats gelesen, es ging durch die Presse: Von Wannsee, dem tteblichen, wasserreichen Ausflugsort der Berliner, dem Dorado junger Liebespärchen und friedlich, zurückgezogen leben der Rentiers, dem Orte der Villen und des Wassersports, fuhr eine Droschke, die letzte Droschke Wannjees hinaus in die Welt. Der ulte Hartmann, wie es früher einmal ausge schrieben war, mit dem alten Blechzylinder auf dem Kopfe, saß bekränzt auf seinem Kutscher bock und winkte« Hü... Hü... Und sein Röß lein lief, vielleicht den letzten Weg, der nach Paris gehen soll. Ob Pferdchen, Wagen ode- Kutscher jemals Paris erreichen, weiß man noch nicht. Hartmann glaubts unds Pferdchen ist nicht gefragt worden. Der Wagen, der so lange über das Berliner Pflaster rollte, der zwischen Wannsee und Berlin pendelte und ab und zu einmal in die Wälder von Wannsee fuhr, wird noch beweisen müssen, ob er Landstraßen ver tragen kann. Es war jedenfalls ein Tag für den Wannsee-Verliner: Sie jubelten. Die Berliner, die sonst die einsame Droschke, dieses Ueberbleib- sel aus alten Tagen nur verstohlen und spöttisch von der Seite ansahen, waren stolzer wie Hart- mann, der Droschkenkutscher mit tom kühne» Entschluß. Vielleicht, weil sie hier einen Rekord witterten. Denn wenn etwas nach Rekord riecht, Io ist der Berliner nicht zu halten. Jede Spitzenleistung wird bewundert. Man bewun dert schon den, der eine Spitzenleistung erzielen möchte. Mit lachenden: Gesicht ist er in du Welt gezogen. Die Sonne lachte und die Men schen lachten und freuten sich. Nur das Müttt.>r- hen, die Frau Hartmann, weinte daheim, daß ihr Alter sich eine Raupe in den Kopf gesetzt Hai. Wenn diese Droschke wirklich Paris erreicht, wird Hartmann ein großer Mann sein, da die Pariser ja just so eingestellt sind wie die Ber liner und für Rekordleistungen schwärmen. Und wenn Hartmann wirklich gepmd sein Pferd nach Berlin bringen sollte, dann wird er Ur kurze Zeit wenigstens der Mann des Tages ein. Sein Wagen wird von Altertumssamm lern gekauft, sein Pferd ausgestellt und Hart man im Bilde lange zu sehen jein. Ein Stück altes Berlin wird in diesen Tagen lebendig und wahrscheinlich für immer begraben. Sicher werden die Kabarett- und Schlager- änger ein Liedchen von dem wackeren Alten :rfinden und der Berliner wird zuhören und innig nicken, wenn es endet. . Du mein Ber lin! Ja, es greift ans Herze, wenn man so et was vom alten Berlin hört, sieht, erfährt. Heißt es doch, es soll so schön gewesen sein, ehemals, damals, als... Man sucht heute, um ein Zipfelchen dieses alten Berlins zu erhaschen, nach alten Originalen. Sie sind zumeist ausge- storben. Man sucht nach alten Winkeln und Lcken. Sie sind nur noch verschwindend wenig vorhanden und können so recht das alte Berlin nicht mehr vortäuschen. Man beschaut alte Bil der und ergötzt sich an alten Lustspielen, die das alte Berlin verherrlichen. Freilich hört man von einer naseweisen Jugend, jetzt sei es in Berlin auch sehr schön. Jedoch der alte, waschechte Ber liner ist anderer Meinung: Das alte Berlin kehrt nicht wieder. Man könnte das von jeder Stadt sagen, da jede ihre Erinnerungen hat, an Menschen, Sitten, Zeiten. Freilich viel Origi- ne^es hat Berlin schon gehabt. Und es stach wesentlich ab von der Beschaulichkeit anderer Städte. Immerhin war es Berlin: die Mitte, die Zentrale, wo sich das Leben schon immer drängte, wo sich Menschen und Handlungen ver einigten zu Spitzenleistungen. Die alte Zeit kannte aber trotzdem die Beschaulichkeit. Es gab nicht das Hasten und Jagen nach dem Mammon, obwohl der Gott Mammon damals auch in Ber lin lebte. Die Alten hatten mehr Sinn für das Intime und haßten das Weite, Große. So sind die Stimmungen entstanden, die in Berlin eben das Berliner Gepräge tragen. Und die beschei denen Menschen haben der damaligen Zeit den Stempel aufgedrückt. Liest man vom alten Berlin, so liest man von ihnen und bewundert sie und bekommt Sehnsucht eigentlich nicht nach dem alten Berlin, sonder» diesen alte» Menschen. Heute könnten sie in vieler Vescheidenyeil und Beschaulichkeit gar nicht leben. Sie wür den, wie der alte Berliner sagt, unter den Schlitten kommen. Sie haben sich gewandelt mit der Zeit. Der Ur-Berliner hat wenig von )em alten Berliner, der Zugewanderte aber, er lucht Berliner zu sein und in dieser oder jener Hinsicht ein Stück Alt-Berlin zu retten. Gehen wir hübsch der Reihe nach. Was haben wir vom alten Berlin noch? Ich sagte schon, einige Winkel und Ecken, die nicht gar lange mehr sein werden, da das neue Leben sie beseitigen wird. Einige Schlößer und Kirchen, einige Lokale. Ach, aber diese Lokale sind nur dem Namen nach alt. Sie versuchen den alten Geist zu bannen, Neu-Berlin aber füllt sie und wenn Stuhl, Tisch, Wände mit Bildern, Krüge alt zu sein scheinen, so ist schon das Drum und Dran ganz modern. Wie der Kellner erscheint und wie er serviert, das ist neu, und die Stimmung von Anno dazumal, sie lebt nicht in den Räumen Und selbst, wenn in diesen Lokalen ein Stim mungssänger immer wieder sänge: Du, mein altes Berlin ... Das alte Berlin wäre es nicht. Der Droschkenkutscher, der uns verlassen hat, das war noch ein sichtbares Stück alter Roman tik, der alten Gemütlichkeit. Und dort und hier steht noch eine Droschke. Woche für Woche wer den sie weniger. Niemand fährt mit ihnen, einige alte ängstliche Damen vielleicht, von denen aber, da auch sie arm geworden sind, die alten Weißbärte nicht leben können. Das Auto regiert, beherrscht die Straßen, den großen Ver kehr, das ist das neue Berlin. Und Tag für Tag wächst der Verkehr, Tag ein, Tag aus wächst die Stadt, der enge Kreis des alten Berlins ist lange schon gesprengt, die Grenzen liegen Mei lenweit, dort, wo früher einmal beschauliche Ausflugsorte waren, ist jetzt Neu-Berlin. Doch das ist schon so oft gesagt worden. Das weiß der Fremde auch, denn er kommt ja nach Berlin, nicht um Alt-Berlin, sondern um Neu-Berlin, das große Berlin, kennen zu lernen. Auch er ieht nicht einmal die einsame Droschke, die noch n vier, fünf Stellen in der Stadt zu finden si, er hat nur Augen für das rollende Leben, em jetzt die letzte Droschke Wannsees entwichen si. Sie brachte einmal wieder den Berlinern hr altes Berlin zum Bewußtsein. Mancher Alte wird still zuriickgedacht haben, just in dem Augenblick, als der Junge an den Wagemut des alten Hartmann dachte und sich diese Rekord leistung ausmalte und daran dachte, ob er auch einmal den Berlinern mit einem Rekorde impo nieren könne. Das ist das Streben des Neu- Berliners: Durch eine Tat in den Vordergrund zu treten. Da es nur wenig Gelegenheiten zur Tat gibt, und die Tat, wenn sie aus dem Groß- stadtgewimmel hervorragen soll, schon etwas Helgen muß, muß sie originell jein, eine Lei stung, die nur wenige mit einfachen Mitteln, wie der alte Hartmann, vollbringen. Predi. Europa und England Von Otto Corb ach Wen wollte der britische Außenminister Chamberlain täuschen, als er neulich erklärte, ein Krieg zwischen England und den Vereinig ten Staaten sei unmöglich? Gewiß nicht die öffentliche Meinung seines Landes; denn die weiß zu gut darüber Bescheid, daß sowohl John Bull als auch Onkel Sani auf ihre Vetternschaft pfeifen, wenn es geschäftliche Gründe erheischen, übereinander herzufallen. Am wenigsten würde man sich in London daran kehren. Hat man es, als die Stammväter des Volkes der Vereinigten Staaten um ihre Unabhängigkeit kämpften, nicht fertig gebracht, einen Preis von acht Dollars für jeden von diesen erbeuteten Skalp auszu- sctzen? „Indianer und Tories", heißt es darüber bei Friedr. Kapp, „suchten jetzt so viele Skalps wie möglich beizubringen und töteten, bloß um die versprochenen acht Dollars zu gewinnen, Kinder, Mütter und Greise". Und wurde man nicht ausschließlich durch die Abhängigkeit von Weizenzufuhren aus den Nordstaaten der Union daran gehindert, zugunsten der Sklavenstaaten aktiv in den Sezessionskrieg einzugreifen? Offenbar war Chamberlains Erklärung nur für kontinentaleuropäische Zaungäste bestimmt, die naiv genug sind, sic für bare Münze zu nehmen. Auf dem Kontinent soll man glauben, das bri tisch-amerikanisch.! Wettrüsten sei ein harmloses Spiel, das nie Ernst werden könnte. Denn es gilt nun, den britisch-amerikanischen Gegensatz mit allen Mitteln moderner politischer Propa ganda in einen europäisch-amerikanischen umzu wandeln, und dazu braucht man ein vertrauens seliges Kontinental-Europa. In der „Fortnightly Review" beginnt „Augur" einen Werbeseldzug zu Gunsten einer europäischen Einheitsfront gegen Amerika unter Führung Englands. Man könne es sich doch nicht gefallen laßen, daß zwei Amerikaner die mächtigsten Persönlichkeiten in Europa sind, nämlich Strong, der Präsident der Federal Reserve Bank in Neuyork, und Parker Gilbert, der General-Agent für Reparationen in Berlin: „Der eine beherrscht die ganze finanzielle Lage, der andere behandelt eine Großmacht in Europa, als ob er ihresgleichen wäre. Das Uebergewichl dieser beiden Männer ist der handgreifliche Aus druck für den Einfluß, den die Vereinigten Staa ten auf die Angelegenheiten unseres Kontinents gewonnen haben." Es ist gewiß richtig, daß die Völker Europas auf die Dauer nur durch einen einheitlichen Machtwillen weltpolitische Geltung gegenüber asiatischen und überseeischen Eroßstaaten behaup ten können, aber vorläufig sind kontinentaleuro päische Interessen eher mit dem amerikanischen als dem britischen Imperialismus in Einklang zu bringen. Für England, nicht für Amerika, bedeutet die Fortdauer der Uneinigkeit und Un fertigkeit Kontinentaleuropas eine Lebensfrage, es ist England und nicht Amerika, das Kontinen, taleuropa von der Erschließung überseeischer Länder in großem Umfange auszuschalten wußte und weiß; England, und nicht Amerika, ver hängt in allen Erdteilen über vorwärts drän gende Kräfte eine Art Belagerungszustand, weil sein überlebtes Herrschaftssystem sich ihnen nicht mehr anzupaßen vermag. Kontinentaleuropa schleppt die britische Vormundschaft, die ihm nichts mehr nutzen kann, mit sich fort, wie Nietzsches Zarathustra den Leichnam des gestürzten Seil tänzers. Augur ist ein verkappter russischer Emigrant, und ihm fehlen Furchtinstinkte des echten britischen Imperialisten, der sich hütet, die volle Wahrheit über den Umschwung in den Machtverhältnissen zur See zu bekennen. Er macht daher kein Hehl daraus, daß die Fachleute Recht haben, die in Eroßkampfschissen nur mehr „schwimmende Särge" sehen und er bezeichnet das Mittelmeer in Kriegszeiten als eine „Falle", in die sich kein britisches Kriegsschiff hinein wagen dürste. Daß der Kanal für die moderne Kriegführung kein Hindernis mehr bedeutet, hat sich nachgerade auch auf dem europäischen Konti nent genügend herumgesprochen. Kein Winkel der britischen Insel wäre heute gegen Luftan griffe vom Festlande aus gesichert. Weder Japan noch di« Vereinigten Staaten haben vorläufig damit zu rechnen, aus ihrer Nachbarschaft im Kriegsfälle durch Unterseeboote und Flugzeuge angegriffen zu werden. Beide Mächte haben im großen und ganzen nur dicht zusammcnlicgende