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^0 46. Wöchcn,!!ch c!»- Rnm^lcr. Leipzig, 17. August 1870. B!crIcljLhnich 1S Sgr. I. Jahrgang. FamiiiciihiuU für Lündtr- und ildlkcrknndt. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- u. Auslandes sowie Postämter. Rodigirt von vr. Otto Delitsch, Privut-Doccnt und Nealschul-Oberlehrer. Der Jahrgang (82 Nummern oder 12 Monatshefte) läuft von Oktober zu Oktober. Deutschland und der Ozean. Von Kommerzienrath Adolph von Karnap. Die Geographie als Wissenschaft der materiell erfüllten Ranmverhältnisse der Erde oder des plastisch verkörperten Ge dankenlebens unseres Planeten steht im innigsten Zusammenhang mit der Geschichte, als der Form des Geschehens in der Zeit; eine jede dieser beiden Wissenschaften kann erst in der andern zur vollen Geltung und Wahrheit gelangen; beide bedingen sich, wie Leib und Seele sich im Menschen bedingen. Seit Ritter dieses Verhältniß zur allgemeinen Anerkennung gebracht hat, sind wir erst auf den rechten nationalen Standpunkt gelangt. Ein in seinen geographischen Verhältnissen zersplittertes Volk lauft Gefahr, auch seinen historischen Zusammenhang zu verlieren, bleibt in seiner Geschichte gefährdet, und unser Volk darf sich dem nach nicht mehr ein Stück Landes nach dem andern entreißen, keinen Fuß breit deutschen Bodens vom gemeinschaftlichen Vater lande absonderu lassen. Die örtliche Lage Deutschlands mitten zwischen Slaven und Romanen bedingt einen Mittelpunkt in Bezug auf die Kultur überhaupt. Das germanische Element überkam mit diesem ört lichen Stand die natürliche Vermittlung zwischen dem slavischen und romanischen Element, ja es scheint dazu berufen, in alle Well zu gehen, alle Völkerfamilieu mit seiner wohlthäügen Eigenthüm- lichkeit zu durchdringen. Es ist für den Entwicklungsgang des Menschengeschlechts ans Erden, was der alles durchdringende Sauerstoff für die Materie der Erdoberfläche. Nicht umsonst sollte Deutschland der Mittelpunkt des europäischen Kontinents, das Herz Europa's sein, das, weil es voll ist, ewig übcrfließen muß. Aber dieser Saft guillt nur allzu reichlich, durchätzt nur zu verschwenderisch den Boden weit und breit und entzieht der Mutter pflanze selbst einen Theil der nöthigen Nahrung. Mit dieser idealen Auffassung der Mission Deutschlands ist uns indeß an sich allein nicht gedient; — es kann nur als eine Ironie ans die Weltstellung unseres deutschen Vaterlandes gemeint sein, wenn wir, wie Jean Paul, dem Engländer das Meer, dem Franzosen das Land und dem Deutschen die Luft als das Gebiet der nationalen Kraft und Bestrebungen anweiscn wollten. Jene Rolle der Vermittlung und Befruchtung setzt vor allen Dingen, außer der inneren Einheit unseres Vaterlandes, auch den Zutritt zum Meere voraus. Deutschland würde sich verbluten, seine besten Kräste zersplittern müssen, wenn es nicht in seine alten Rechte auf der See wieder eingesetzt würde. Dieser nun wieder geschärfte, auf das Meer gerichtete Blick der Demschcu ist das beste, was wir in der jüngsten Zeit nach den wichtigen Errungen schaften von 1866 gewonnen und erlebt haben. Wie Griechen lands Verfassung, Kunst und Wissenschaft einst mit der Thalassa (dem Meere) im innigsten Zusammenhänge standen, so wird auch der deutsche Fuß mit jedem neuen Schritte ans dem Ozean er starken und den eigenen Schwerpunkt wiederfindeu. Was aber hat man uns in Bezug aus den Ozean nicht an gedichtet ! Wir hätten, weil wir nnr ein ackerbautreibendes Volk seien, nichts auf der See zu schaffen! Ein Blick aber auf die Landkarte zeigt deutlich, daß wir den Beruf haben, uns nicht vom Meere zurückzuzichen. Es ist wahr, cs sind Jahrhunderte ver gangen, in denen Deutschland keine Kriegsflotte anSgesendet hat; aber die Zeit wird kommen nud ist schon gekommen, in der Deutschland auf dem Ozcan für Aufrcchthaltung der Weltdisziplin mit sorgen Hilst, aber ohne daß das Blut unterjochter Völker an seiner Hand klebt; rein und ohne Unrecht steht Deutschland vor den Völkerfamilien da. Der deutsche Gewerbefleiß hat längst die Anziehungs kraft des Meeres empfunden. Das flüssige Element lockt von Gebirgen nnd den Hochebenen die Menschen herab nnd macht sich dieselben dienstbar, wie es wiederum ihnen dient. Die moderne Industrie hat sich ganz dem Zauber des Wassers hin gegeben ; längs unserer Bäche, Flüsse nnd Ströme hämmert und pocht, siedet und braust es, schwingt und dreht sich's laut und lustig. Au des Ufers Rand hat sich ein Leben und Treiben ent faltet, von dem vormals die Bewohner jener wasserscheuen Bnrgcu auf Kuppen nnd Felsenhöheu keine Ahnung hatten. Die Natur geht ihren Gang. Individuen wie ganze Völker widersetzen sich ihr ans die Länge vergeblich, natürlich aber ist es, daß die deutsche Industrie, die bereits den Rand der Ströme nnd Flüsse eingenommen hat, nun auch zum Meere, und daß das Meer auch zu ihr gelangt.