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Ernste Verwicklungen in Mittekamerika. 29. Dezember 1926 Der Bürgerkrieg in Nicaragua scheint bereits mehr geworden zu sein als die Fortsetzung eines seit Jahren andauernden innerpolitischen Prätenden tenkampfes. Sie scheinen sich zum Ausgangspunkt eines Kampfes zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko um die Vormachtstellung in Mittelamerika auszuwachsen. Der Präsident von Nicaragua, General Diaz, der an der Spitze einer konservativen Regierung steht, hat einen Nebenbuhler in dem Führer der Liberalen, Sacasa, gefunden. Die Regierung des Generals Diaz ist im November dieses Jahres von den Vereinig ten Staaten in aller Form anerkannt worden. Aber sofort, nachdem Sacasa seinen Anspruch auf die Präsi dentschaft geltend gemacht hatte, beeilte sich Calles, der Präsident von Mexiko, den Prätendenten sehr nachdrücklich anzuerkennen und, darüber hinaus, ihm auch mexikanische Waffen und Munition zur Ver fügung zu stellen. Die Vereinigten Staaten haben gleich nach dem Be kanntwerden der Ansprüche Sacasas eine Flotille unter dem Kommando des Vizeadmirals Latimer nach den nicaraguanischen Gewässern entsandt und ihn zunächst beauftragt, abzuwarten, wie die Dinge in Nicaragua sich entwickeln werden. Nachdem aber Calles öffentlich angekündigt hatte, er werde auch eine mexikanische Truppenmacht nach Nicaragua entsenden, hat Coo lidge sich veranlasst gefunden, den Hafen Pouer 1 a C a b e z a s, wo die Truppen Sacasas konzentriert sind, als neutrale Zone zu erklären, nach der weder ausländische Waffen noch Truppen entsandt werden dürfen; gleich darauf liess Admiral Latimer auf In struktion Washingtons auch Truppen auf nicaraguani schem Boden landen. Damit war selbstverständlich eine militärische Intervention Amerikas im völkerrechtlichen Sinne herbeigeführt. Offiziell wird dies in Washington noch nicht zugegeben. Es wird viel mehr der Standpunkt vertreten, dass diese Aktion nur den Schutz des amerikanischen Lebens und Eigentums in Nicaragua bezwecke. Die jetzige starke Spannung zwischen den Vereinig ten Staaten und Mexiko geht auf die Präsidentschaft Carranzas zurück, der im Jahre 1917 der mexikanischen Verfassung einen Artikel einverleiben liest, der sich mit den Eigentumsrechten der Ausländer an den mexikanischen Bodenschätzen, also hauptsächlich P e - troleum. befaßte und von den amerikanischen Eigen tümern mexikanischer Petroleumländereien als gerade zu „konfiskatorisch" bezeichnet wurde. Im Jahre 1923 erkaufte sich Präsident Obregon die Anerkennung der Vereinigten Staaten durch ein Kompromist in dieser Verfassungsfrage; der jetzige Präsident Calles hat da gegen eine neue Verfassungsbestimmung durchgesetzt, die die amerikanischen Eigentumsrechte erheblich ein schränkt, indem sie sie von stark einengenden Voraus setzungen abhängig macht. Ein Teil der amerikanischen Eigentümer von mexikanischem Petroleum- land zeigte sich geneigt, den Bestimmungen des neuen mexikanischen Gesetzes zu entsprechen; aber die grosse Mehrzahl, unterstützt von jener militaristischen Partei in den Vereinigten Staaten, die schon seit vielen Jahren auf einen Eroberungsfeldzug gegen Mexiko hinarbeitet, sucht unausgesetzt den Präsiden ten und seinen Staatssekretär zu einer kriegerischen Aktion gegen Mexiko zu veranlassen — in der kaum noch verhüllten Absicht, die B e s i tzv e r h ä l t n i f j e an mexikanischen Petroleumländereien einfürallemal im Sinne des amerikanischen Kapitals zu entscheiden. Das Meiste Haus zur Lage in Nicaragua. Nach einer Morgenblättermeldung aus Washing ton, gab am gestrigen Dienstag der Sprecher des Meisten Hauses eine Erklärung über die Lage in Nicaragua ab. Die Presse sei falsch unterrichtet. Die Revolution in Nicaragua bedeute Gefahr für das Leben und Eigen tum amerikanischer Bürger. In solchen Füllen sei es für Amerika fast immer notwendig gewesen, eine Aktion zu unternehmen. Dagegen nehme Amerika niemals Partei. Waffenstillstand in Nicaragua. Zwischen den beiden in Nicaragua kämpfenden Parteien ist ein Waffenstillstand abgeschlossen worden, um die während der letzten vier Tage Gefallenen be erdigen zu können. Die Dauer des Waffenstillstandes ist noch unbestimmt. MDW KMe WM in Frankreich. 29. Dezember 1926 Wie der Temps mitteilt, wurde gegen einen Vivin Stranders, den Vertreter verschiedener Flugzeug fabriken, eine Untersuchung wegen Spionage eingeleitet. Stranders, der am 21. Dezember nach längerer Ueber- wachung verhaftet wurde, soll im Dienst der deutschen Spionage gestanden haben. Ein gewisser Dr. Weber, der dem Temps zufolge einer der Führer der deutschen Spionage sein soll, habe ihm den Auftrag erteilt, über die französischen Flugzeugzentren Auskünfte zu liefern. In Ausführung seines Äuftrages habe Stranders be sonders die Internationale Flugzeugausstellung in Paris besucht. Stranders soll, wie die Abendmesse mit teilt, Anfang 1925 als Spezialist in die Dienste des Dr. Weber getreten sein und seit dieser Zeit in Frank reich Auskünfte über die jüngsten Erfindungen auf dem Gebiete der Militärluftfahrt eingezogen haben. Seit mehr als einem Jahre soll Stranders polizeilich über wacht worden sein. Er war früher englischer Haupt mann. Die Deutschen-Ausweisungen aus Memel. 29. Dezember 1926 Unbefriedigende Erklärung Woldemaras. Der neue litauische Ministerpräsident Wolde maras ist am Dienstag in Memel eingetroffen, um u. a. auch die Ausweisung reichsdeutscher Schriftleiter ! zu untersuchen. Woldemaras empfing am gestrigen Dienstag zunächst eine unter Führung des Landtags- i Präsidenten Kraus stehende Abordnung des Landtages, wobei die das politische und wirtschaftliche Leben des Gebietes berührenden Fragen besprochen wurden. Im ' Laufe des Nachmittags empfing der Ministerpräsident die Vertreter der Presse. Zu der Ausweisung reichs deutscher Redakteure aus dem Memelgebiet erklärte er, - dast die Frage noch offen sei und er vorläufig ' noch nichts sagen könne. Die Frage, ob diese An gelegenheit Einflust aus die deutsch-litauischen Verhand lungen haben würde, verneinte Woldemaras. Es be stehe aber in Litauen zurzeit Kriegszustand und die Kommandanten hätten den strikten Befehl, für die Sicherheit und Ruhe des Staates zu sorgen. Um 5.30 Uhr fand im Gouvernement ein Essen statt, zu dem Einladungen an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens des Memelgebietes ergangen waren. Der Achtstundentag. t:9. Dezember 1926 Deutschland will das Washingtoner Abkommen ratifizieren. Wie der Reichsdienst der deutschen Presse hört, hat die Reichsregierung dem Internationalen Arbeitsamt durch dessen Direkter Thomas mitteilen ! lassen, dast sie in der Frage des Arbeitszeitabkommens ! bereit sei. die Washingtoner Vereinbarungen sofort nach der Verabschiedung des deutschen Arbeitsschutz- gesetzes, das inhaltlich den Bestimmungen des Ab kommens entspreche, zu ratifizieren. Die Reichs regierung rechnet damit, dast der Reichswirtschaftsra: den Gesetzentwurf Ende April oder Anfang Mai dem Reichsrat zuleiten wird, so dast sich der Reichstag noch vor Beginn der Sommerferien mit dem Gesetz beschäfti gen könnte. Englische und französische Sorgen. 29. Dezember 1926 Das englische Schatzamt hat die Kohlenkrise der vergangenen Monate noch nicht überwinden können, und man rechnet in London mit größeren Schwierigkeiten bei der Aufstellung des Etats. Es liegt der Regierung fern, durch die Erhöhung der Steuern den Ausfall der Einnahmen wieder aufzuholen. Jede Verbitterung der Steuerzahler soll solange vermieden werden, als sich noch Möglichkeiten für eine anderweitige Kapitalbeschaffung ergeben. Es ist bekannt, daß die Kriegsschulden Englands an Amerika zu einem großen Teil bereits abgetragen sind, und es sind sicher hierfür die Gründe maßgebend gewesen, sich frei von jeder Abhängigkeit von der amerikanischen Hochfinanz zu halten. Gegenwärtig erfolgen in den Staaten, die sich während des Krieges von England finanziell haben stützen lassen, Mahnungen von feiten des Londoner Schatz amtes, die geschuldeten Summen möglichst schnell zu rückzubezahlen. Churchill hat bei seinem kürzlichen Pariser Aufent halt mit Poincare über die baldige Ratifikation des französisch-englischen 'Schuldenabkommens von 1925 ge sprochen und gleichzeitig erfolgten ähnliche Schritte bei der jugoslawischen, der griechischen und der portugie sischen Regierung. Der französischen Finanzwirtschaft kann jetzt nichts ungelegener kommen, als diese eng lische Mahnung. An der F rankenk rise krankt das französische Wirtschaftsleben. Trotz wieder holter Ankündigungen konnte infolge der Unsicherheit der Währung das Zollgesetz, das als Unterlage für den endgültigen Abschluß eines deutsch-französischen Wirt schaftsvertrages dienen soll, noch immer nicht fertiggestellt und verabschiedet werden. Erne Weltzeituhr. Zehn Weltzeiten aus einem Zifferblatt. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin ist kürzlich eine neuzeitliche Weltzeituhr ausgestellt worden. Sie zeigt gleich zeitig und fortlaufend die Zeiten in der ganzen Welt an. Auf ihrem Tag und Nacht erleuchteten Zifferblatt sind zehn Zeiger angebracht, die die Namen der Städte, nach denen sich die Zeiten richten, tragen und zwar: Greenwich, Berlin, Helsingfors, Java. Tokio, Sidney, Honolulu, Frisko. Neuyork und Buenos Aires. Die Uhr hat ihren Platz auf dem Bahnhof Friedrichstraße ge funden, da sich hier der internationale Durchgangsverkehr ab- fpielt. Unser Bild zeigt de Weiltzeituhr auf dem Bahnhof Frie drichstraße in Berlin. Mit vieler Mühe ist es Poincare gelungen, den Kurs des Franken wieder zu heben. Von einer St a- bilisation ist dabei nicht die Rede, aber die Erscheinungen der Deflationskrise machen sich dennoch Itark bemerkbar. Ueberall fehlt es der Industrie am flüssigen Kapital. Die Arbeiter müssen zu einem großen Teil aus den Betrieben entlassen werden, da die Periode der Stillegungen von Tag zu Tag sich stärker bemerkbar macht, lieber die weiteren Absichten Poin- cares zur Stabilisierung der Währung und zur Ueber- windung der empfindlichen Absatzkrise ist auch in Frank reich nichts bekannt. Die internationale Finanzwelt be obachtet alle Maßnahmen Poincares mit Interesse, und besonders in Amerika scheint man sich vorläufig noch ab wartend verhalten zu wollen, um im geeigneten Augen blick wieder mit dem Verlangen der Ratifizierung des Schuldenabkommens hervorzütreten. Bisher ist nichts darüber bekannt, daß Amerika Frankreich ein Entgegen kommen zeigen will. Anders ist es mit England. Es verlangt von Frankreich anderweitige Zugeständnisse, falls es aus Zurückzahlung der Schulden im Augenblick nicht besteht. Es läßt sich beispielsweise freie Hand in der Kriegsmaterialfrage gegenüber Deutschland geben und Hilst damit der er^lischen Wirtschaft stärker^ als wenn die Ratifikation des Schuldenabkommens mit Frank reich auf ein spätes Datum erfolgt. Wie sehr die eng lische Regierung bemüht ist, ihre politische Machtstellung in den Dienst der Wirtschaft zu stellen, geht auch aus den Verhandlungen über die Hergabe eines Kred ites an Rußland hervor, die in letzter Zeit mit der Moskauer Regierung angeknüpft worden sind. Die starke Investierung amerikanischen Geldes in Rußland läßt alle politischen Bedenken Englands schweigen und ver anlaßt es, ebenfalls möglichst viele Eisen in Rußland im Feuer zu haben, um aus dem dortigen Wirtschafts kampf der auswärtigen Mächte siegreich hervorgehen zu können. * Erfolge der Aufständischen in Brasilien. London, 29. Dez. Nach hier vorliegenden Mel dungen sollen bei einem Zusammenstoß zwischen 3000 Aufständischen und 2000 . brasilianischen Regierungs truppen bei Jaguarao 60 Personen getötet und etwa 200 verwundet worden sein. Die Aufständischen hätten sich schließlich behaupten können. Eine inMMsnlc WWHW Jede PvMik der Unterdrückung richtet sich-eines Tages gegen die Urheber selbst. Das gilt nicht nur ans rein politischem Gebiet, sondern auch atzf dem wirtschaft lichen. Das D äwes a b k 0 m m e n wurde abgeschlos sen. um gewisse Härten des Versailler Friedensvertrages zu beseitigen und um die Jahreszahlungen Deutschlands festzulegen. In Deutschland war ein Teil der Wirt schaftsführer gegen die Annahme der Dawesgesetze, da sie befürchteten, dast die Last der Ratenzahlungen die deutsche Wirtschaft nicht nur in ihrem Wiederaufbau behindern, sondern sogar zerstören würde. Politische Gründe führten dazu, dast die Verpflich tungen übernommen wurden, da hierdurch die Lage wenigstens etwas geklärter wurde und die Führer hoff ten, die internationale Verständigungspolitik zu för dern. Vom ersten Tage an, nachdem der Reichstag Lem Gesetz zustimmte, ist jedoch der Revisions gedanke aufgelebt, und anfänglich schien es so, als ob nach einer gewissen Frist von Deutschland der Vor schlag gemacht werden würde, eine neue Festsetzung internationaler Finanzverpflichtungen vorzunehmen. Bisher ist jede Zahlung an den Reparationsagenten Gilbert pünktlich erfolgt, was jedoch nur durch eine erhöhte Anziehung der Steuern ermöglicht wurde. Das Reichskabinett ist dem Gedanken des Re visionsvorschlages bisher nicht näher getreten, da dte Kenntnis der internationalen Finanzsachlage die Wahr scheinlichkeit offenlegt, dast besonders Amerika ein Interesse an der Erörterung des Schulden- und Repa rationsproblems hat. Der Gedanke der Wirtschaftsverständigung in Eu ropa schreitet fort. Die Bildung des Internationalen Stahltrustes ist ein Zeichen dafür, dast die Völker unter einander gewillt sind, der großen Krise des Absatz- Mangels und der Arbeitslosigkeit durch Vertrage abzu- helsen. Dem Stahltrust werden andere internationale Zusammenschlüsse in Europa folgen, und es kann nicht ausbleiben, daß auch eines Tages das Finanzprcblem und eine stärkere internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiete zur Erörterung gelangt. Bei der Aus sprache Stresemanns mit Briand in Thoiry wurde zum ersten Mal der Gedanke geprüft, durch finanzielle Unter stützung der einen Seite politische Zugeständnisse des anderen Teiles zu erlangen. Die Verwirklichung des Planes scheiterte.-bisher an den deutschen Finanzverhält- nisscn, wird jedoch in dem Augenblick angenommen werden, in dem genügend flüssiges Kapital sich ange sammelt hat. „ v Am e r i k a hat es bisher vorgezogew, -als stiller Beobachtet die Entwicklung in Europa'^zü. verfolgen. Alle Anzeichen der europäischen Selbsthilfe sprechen für die Tatsache, daß man diesseits des Ozeans beginnt, ohne den amerikanischen Kapitalmarkt auszukommen. Aus diesem Grunde mehren sich in Amerika die Stim men, die für ein E n tgegenk 0 m m en im Schul den- und Neparationsproblem gegenüber Deutschland und den anderen Staaten, die finanz politisch mit Amerika verknüpft sind — und das find alle großen Länder, ohne Ausnahme — cintreten. Finanzleute, Wirtschaftspolitiker und Professoren schließen sich zusammen, um den Gedanken einer Schul den- und Reparationskonferenz vorzubereiten, an der alle Staaten der Welt teilnehmen sollen. In Deutsch land rechnet man nicht damit, daß der Gedanke sich auch in den maßgebenden Kreisen Amerikas schnell durch setzen wird. Immerhin besteht aber die Aussicht, daß die Fesseln, die Deutschland bedrücken und lähmen, eines Tages von denselben Staaten wieder abgenommen wer den, die sie ihm auferlegt haben.