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PAPIER-ZEITUNG. 889 No. 35. Buchgewerbe. Druckindustrie, Buchbinderei, Buchhandel. Sachliche Mittheilungen finden kostenfreie Aufnahme; Mitarbeiterund Berichterstatter erhalten angemessene Bezahlung. Eingesandte Werke finden Besprechung. Allerlei Zettel. Das allgemeine Mittheilungsbedürfniss ist in stetem Wachsthum begriffen. Mündlicher Verkehr wird vielfach durch schriftlichen, schriftlicher durch druckschriftlichen ersetzt, auch da, wo der per sönlichen Verständigung räumliche Schranken nicht im Wege stehen. Klingel und Stimme des Ausrufers sind längst durch ein wohlaus gebildetes Anschlagwesen und durch still ihres Amtes waltende Zettelvertheiler verdrängt: an die Stelle des oft zur Unzeit erscheinen den Reisenden tritt vielfach die Anzeige: und wo früher ein persön licher, feierlicher Besuch des Geschäftsinhabers unerlässlich schien, genügt heute eine geschriebene, oft schon eine gedruckte Mittheilung. Es giebt nicht wenig Geschäftsleute, die es sogar gewaltig übel -nehmen, wenn eine schriftliche Anfrage in anderer als schriftlicher Form beantwortet wird, und man kann es ihnen, namentlich wenn es sich um Angelegenheiten alltäglicher Art handelt, auch garnicht verdenken, denn wo sollten sie die Zeit hernehmen, wenn jeder Lieferant, der eine Preisanfrage erhielt, persönlich erscheinen oder seinen Vertreter senden wollte? Seine bedeutsamste Ausbildung erhielt der Verkehr durch be- schriebene und gedruckte Zettel naturgemäss im Getriebe der Grossstadt, wo mehr als anderswo Zeit gleichbedeutend mit Geld ist; und wer es sich zur Aufgabe machen will, die verschiedenen Erscheinungsformen des Zettels zu studiren, wird dazu auf dem Boden unserer Reichshauptstadt die beste Gelegenheit finden. Dem Berliner Strassen Wanderer fallen zunächst diejenigen Zettel Beschränkungen unterworfen. Man hat die Wahl unter 5 Hoch formaten: 18 : 24, 24 : 36, 36 : 48, 48 : 72, 72 : 96 cm. Die Anschläge werden täglich erneuert, auch wenn ihr Inhalt unverändert bleibt; nur solche grössten Formats können auf Grund besonderer Verein barung mehrere Tage lang ihren Platz behalten. Druck und ein malige Veröffentlichung eines Anschlags von 36 : 48 cm kostet z. Z. bei Schwarzdruck 20 M., bei farbigem Druck 22 M., bei zweifarbigem Druck 24 Mark. Bei öfterem Erscheinen sowie Benutzung von weniger als 400 Säulen tritt Preisermässigung ein. Knallrothes Papier (Karmin-Zinnober) ist behördlichen Ankün digungen und den Abänderungszetteln der königlichen Theater Vor behalten, und weisses Papier wird, allerdings ohne Zwang, nur von den bessern Theatern verwendet. Die übrigen Ankündigungen schillern in allen möglichen Farben; sie sind oft farbig gestreift, oft auch mit flott gezeichneten bunten Bildern geschmückt, und eine solche Berliner Litfasssäule, wie die nachstehende Abbildung sie zeigt, ist wohl imstande, einen aus ver schiedensten Gesellschaftsklassen bestehenden Leserkreis um sich zu versammeln. »Unsere« Litfasssäule steht vor dem »rothen Schloss«, einem stattlichen Industriegebäude nahe der Schlossfreiheit, das den Berlinern besonders dadurch bekannt ist, dass es zwei sich heftig befehdende Schneider-Akademieen in seinen Mauern birgt. Von der Seite her, auf welcher der Standort des Beschauers gedacht ist, kann man links auf, die sich an den weitesten und allgemeinsten Leserkreis wenden: die Anschlagzettel. Sie kleben an dickbäuchigen hohlen Säulen, die nach ihrem ersten Erbauer, dem Buchdrucker Litfass, Litfasssäulen heissen. Gegenwärtig sind 400 solcher Säulen, meist an Strassen- Kreuzungen aufgestellt, doch soll diese Zahl bis auf 600 vermehrt werden. Jedes Theilchen derselben ist von einem Anschlagzettel oder Plakat« in Anspruch genommen, und die Art. wie dies geschieht, ohne dass irgendwo eine Lücke bleibt, oder ein Zettel über den andern greift, zeugt von Sinn für Geometrie und Flächenfüllung. Das Berliner Anschlagwesen wird von der Stadt an einen Unter nehmer verpachtet und bildet eine ergiebige Einnahmequelle für beide vertragschliessende Theile. Um welche Summen es sich dabei handelt, geht aus der in Nr. 24, Seite 611 enthaltenen Nachricht hervor, dass Nauck & Hartmann, die bisherigen Pächter, den Zuschlag für die nächsten zehn Jahre gegen 250 000 Mark wieder erhalten haben. Bisher hatten sie nur den fünften Theil, 50000 Mark, ge zahlt, wurden aber durch starken Mitbewerb in die Enge getrieben und erhöhten ihr Anfangsgebot von 100 000 Mark endlich auf die angegebene riesige Summe. Für Anschläge an den Litfasssäulen bestehen bestimmte Vor schriften. Eine gewisse Gattung von Ankündigungen, die z. B. im Anzeigentheil von Zeitungen nicht beanstandet wird, ist polizeilich ausgeschlossen; für die zulässigen Anzeigen besteht ein fester Tarif und auch Format und Farbe der Anschlagzettel sind bestimmten den westlichen Theil des königlichen Schlosses überblicken. Der zier liche Bau davor ist das Helms’sche Wirthshaus, das zugleich mit den Häusern der Schlossfreiheit fallen muss und schon mit Rücksicht auf seinen voraussichtlich kurzen Bestand in leichter Bauart auf geführt wurde. Flächen zum Ankleben von Zetteln, die in andern Grossstädten als Anschlagstellen eine bedeutsame Rolle spielen, giebt es in Berlin nicht. Nur Bauzäune bieten vorübergehend Gelegenheit zur Auf nahme von Ankündigungen, die merkwürdigerweise meist von Schön- schrei blehrern ausgehen. Die verglasten Empfehlungen derselben spielen überhaupt in Berlin eine grosse Rolle. Sie begegnen dem Strassen wanderer allenthalben an den spärlichen, von Photographenkästen noch nicht eingenommenen Wandflächen und zeigen meist vergleichende Nebeneinanderstellungen der Schrift vor und nach dem Unterricht, auch wohl Proben der verschiedenen Schriftarten, die man für so und so viel Mark in so und so viel Stunden erlernen kann. Als Darstellungs-