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I Wilsdruffer Tagebla« I I 2. Blatt Nr. 226 / Mittwoch, den 27. September 1933 I Sinnspruch. Wer nichts verdient, und nicht verdient, daß er nichts ver- oient, dem sollte man geben recht reichlich zum Leben. Wer verdient, und nicht verdient, daß er verdient, der ist ein Schaf, dem's der Herr gab im Schlaf. Wer'verdient, und verdient, daß er verdient, der hat den Preis für feinen Fleiß. Ser overschlesische Kanal wird gebaut. Die Inangriffnahme der Bauarbeiten am Ober schlesischen Kanal (von der Oder nach dem J-rdustriegebict- ist vom Reichskabinett aus Anreguug des Reichsverkehrs- miniftcrs beschlossen morde«. Zunächst sind drei Millionen Mark für diesen Zweck bewilligt worden. Das oberschlesische Industriegebiet hat durch die neue Grenzziehung einen großen Tick seines Absatzgebietes ver loren. Infolge seiner ungünstigen Lage im südöstlichen Teil des Reiches ist es auf billige Frachten be sonders angewiesen, um in dem ihm verbliebenen Absatz gebiet innerhalb des Reiches, besonders in dem Schnitt punkt Berlin, wettbewerbsfähig und damit lebensfähig zu bleiben. Bei der Beförderung von Massengütern spielt der Wasserweg eine wichtige Rolle. Dieses große Bauvorhaben, mit dessen Ausführung umgehend begonnen werden soll, wird sowohl unmittel bar durch die Bauarbeiten in den nächsten Jahren als auch mittelbar durch die Verbesserung der Absatzmöglich keiten eine wesentliche Verminderung der Arbeitslosigkeit im oberschlesischen Industrie gebiet bringen. Aus dem Arbeitsbeschafsungsprogramm der Reichsregierung hat der Kreditausschuß der Deutschen Nentcndankkreditanstalt in der vergangenen Woche Darlehen im Gesamtbetrag von rund fünf Mil lionen Mark für Flußregülierungen und Meliora tionen zur Verfügung gestellt. „Stellvertreter -es Führers". Der Führer erläßt, wie der PPD. mitteilt, fol gende Anordnung: Pg. Rudolf Heß legt die Titel eines Ncichsleiters und eines Obergruppenführers ab und fuhrt nur noch künftig den Titel „Stellver treter des Führers". Er behält das Recht, den Dienstanzug eines SS.-Obergruppensührers zu tragen. Keine Bittgesuche von Schulkindern an den Reichskanzler. Bei der Reichskanzlei gehen, wie amtlich mitgeteilt wird, täglich an den Reichskanzler gerichtete Briefe von Schulkindern ein. Die Briefe ent halten Gesuche an den Reichskanzler um Gewährung von Unterstützungen oder Geschenken an die Kinder selbst oder an ihre Eltern. Abgesehen davon, daß dem Reichskanzler Mittel zur Erfüllung aller dieser Wünsche nicht zur Ver fügung stehen, ist es nicht angebracht und fast immer ungehörig, daß schon Kinder in jugend lichen Atter sich mit Bittschriften an den Reichs kanzler wenden. Die Ettern werden deshalb ersucht, auf ibre Kinder einzuwirken, daß sie die Absendung von Bittgesuchen an den Reichskanzler unterlassen. Vorverlegung des katholischen Erntedankfestes. Tie katholische Kirche in Deutschland hat bisher stets das Erntedankfest amdritten Sonntag im Oktober be gangen. Nunmehr hat das bischöfliche Ordinariat-Berlin das Erntedankfest für dieses Jahr auf Sonntag, dem l. Oktober, verlegt unter ausdrücklichem Hinweis aus den Tag des deutschen B a u e r n, den die Reichs- rcgierung veranlaßt hat. Die bischöfliche Behörde in Berlin fordert den Klerus auf, den Wünschen auf eine be sonders feierliche Ausgestaltung des Erntedankfestes zu entsprechen. Wie Nur erfahren, sind ähnliche Erlasse auch in den anderen Diözesen Deutschlands inzwischen erfolgt. Grotze Naturverherungen. Mexikos größte KatMopye. Wirbelsturm vernichtet Stadt und Land. Tausende von Toten und Verletzten. Der furchtbare W i r b e l st u r m, der über Mexiko tobte, erweist sich nach den neuesten Meldungen als die größte Unwetterkatastrophe, ja das größte Unglück, von dem Mexiko je in seiner Geschichte betroffen wurde? Die Zahl der Toten und Verletzten wird vom Innenministerium auf 5000 geschätzt. Die Stadt Tampico gleicht einem Trümmerhaufen. In einem amtlichen Bericht wird hervorgehoben, daß die erste Verbindung mit der zerstörten Stadt durch den im Hafen liegenden deutschen Dampfer „Kiel" ermöglicht wurde. Der Kapitän des Dampfers meldete: „Tampico von schrecklichster Tragödie heimgesucht, deren Ausdehnung unmöglich vorzustellen. Stadtteile, die Sturmzerstörung entkamen, drei bis fünf Meter überschwemm t." Die Flüsse Tamesi und Panuco sind infolge der Wolkenbrüche aus den Ufern getreten und haben alles mit sich fortgerissen. Die Eisenbahndämme sind meilenweit überschwemmt. Mehrere Eisenbahnzüge werden noch vermißt. Die Ingenieure rechnen damit, daß alle Verbindungs mittel im Umkreis von huudertzwanzig Kilometer zer stört sind und daß mit Flugzeugen nicht vor vierund zwanzig Stunden und mit der Eisenbahn nicht vor acht Tagen Hilfe gebracht werden kann. Auch die Städte Ciudad Victoria und Ciudad Valles haben durch den Sturm und Überschwemmungen schweren Schaden erlitten. Die Regierung hat das Rote Kreuz und Militär zu Hilfe entsandt. Der Staatspräsident hat einen Aufruf erlassen, in dem die Bevölkerung zu Spenden aufgefordert wird, um die Not der betrof fenen Gebiete zu lindern. Der Zyklon hat nahezu drei Viertel der Stadt Tampico zerstört. Sämtliche Holzbauten sind niedergerissen und zahllose Steinbauten schwer beschädigt worden. Gleichzeitig trat eine Niesen- überschwemmung ein. Die Truppen haben bereits helfend eingegriffen. Der Zyklon wütete eine halb« Stunde lang ununterbrochen. Die Flutwelle in Slowenien ebbt ab. Die Flutwelle aus Slowenien ebbt in der kroatischen Ebene allmählich ab. In Agram be gann die Salve wieder rasch zu fallen. Der Fluß hat in Kroatien an vier Stellen die Dämme durchbrochen und große Gebiete überschwemmt. Aber das Wasser stieg nicht so überraschend wie in Slowenien, so daß man recht zeitig Vorbeugungsmaßnahmen treffen konnte, über die Überschwemmungskatastrophe im Dorfe Struga wird noch berichtet: Das Wasser im Talkessel steigt weiter und Hal schon eine Höhe von fünfunddreitzig Meter erreicht. Aus diesem See sieht nur der Kirchturm hervor. Die Kirche selbst ist auf einem sechzehn Meter hohen Hügel ausgebaut. Der Pfarrer war überzeugt, daß das Wasser nicht bis zur Kirche Vordringen würde und hatte sich geweigert, das Dorf zu verlassen. Schließlich mußte er nach verzweifelten Hilferufen vom Turm herab mit Kähnen gerettet werden. Auf der Ober fläche des Wassers schwimmen zahlreiche Kadaver er trunkener Haustiere. Tampico eine Ruinenstadi. Zahlreiche Dampfer beschädigt. Die vom gewaltigen Wirbelsturm zum großen Teil zerstörte mexikanische Hafenstadt Tampico bietet den Anblick einer überschwemmten Ruinenstadt. Die Hafenanlagen sind teilweise vernichtet. Ein deutscher und ein norwegischer Dampfer sollen schwer be schädigt sein. Zahlreiche kleinere Dampfer und Schlepper wurden auf die offene See abgetrieben oder an Land geschwemmt. Die nichtzerstörten Gebäude, Kirchen und Hotels sind mit Verletzten überfüllt. Ein vollbesetztes Krankenhaus und ein Kraftwerk sind eingestürzt. Zahlreiche Häuser sorigeschwemmi. Unwetter an der italienischen Riviera» Die italienische Riviera wurde von einem von Hagelschlag und Gewittern begleiteten furcht baren Unwetter hcimgesucht, das mehrere Stunden andauertc. Besonders stark wütete das Unwetter in der Um gebung von Savona. Die Gewalt der anstürmenden Wassermassen riß ganze Stücke aus dem Erdreich, über schwemmte Mauern und Hindernisse und ergoß sich reißend in die tiefergelegenen Gebiete, wobei riesiger Schaden angerichtet wurde. In Borgio Verezzi rissen Sturm und Wasser ein Haus ein. Drei Personen sandendenTod. In Pietra Ligure waren die Ein wohner an verschiedenen Stellen vom Wasser gänzlich eingeschlossen. Zahlreiche Häuser wurden buchstäblich weggeschwemmt. 15 Todesopfer des Erdbebens. Wenn nicht noch aus abgelegenen Orten ungünstiger» Meldungen eintreffen sollten, kann man die Folgen des» schweren Erdstoßes in den Abruzzen noch alK glimpflich bezeichnen. Nach den bisher vorliegenden Nachrichten scheint die Zahl der T o ten 15, die der Ver letzten 120 nicht zu überschreiten. Der Umfang des Schadens läßt sich noch nicht überblicken. Schwere stnwette'r über Frankreich. Drei Arbeiter tödlich verunglückt. Die schweren Unwetter, die seit einigen Tagen über ganz Frankreich niedergehen, haben nicht nur großen Schaden angerichtet, sondern auch Menschenleben geforderte Auf der Landstraße zwischen Sete und Montpellier schlug der Blitz in eine Baubude ein, in der sich mehrere Sack Sprengstoff für Steinbrucharbeiten besanden. Drei! Arbeiter, die in der Baracke Schutz vor dem Unwetter gesucht hatten, wurden buchstäblich in Stücke gerissen. In der Gegend von Toulon wechseln wolkenbruchartige Regenfälls mit Hagelschlägen seit 48 Stunden ununter brochen ab. Dis Braque ist aus den Ufern getreten, auch! die Gegend von Avignon wird von einem Dauerregen! hcimgesucht. Kurze politische Nachrichten. Der frühere Neichsin nenmini st er und Oberbürgermeister a. D. Dr. Franz Bracht ist an den Folgen eines schweren Darmleidens in seiner Privat- wohnung gestorben. Nach dem Ausweis der Reichsbank vom 23. September 1933 hat sich in der verflossenen Bank woche die gesamte Kapitalanlage der Bank in Wechseln und Schecks, Lombards und Efsekteu um 120,9 Milliouen auf 3348,7 Millionen Mark verringert. An Reichs banknoten und Rentenbänkscheinen zu sammen sind 80,6 Millionen Mark in' die Kassen der Neichsbank zurückgeflossen. Die Bestände an Gold und deckungsfähigen Devisen haben sich um 5,0 Millionen auf 402 Millionen Mark erhöht. Die Decknng der Noten betrug am 23. September 12,2 Prozent gegen 11,7 Prozent am 15. September d. I. * Deutscher Dampfer rettet amerika nische Soldaten. Der Tankdampfer „Franz Klasen" rettete aus einem treibenden Boot zwei amerikanische Soldaten im Golf von Mexiko. Die beiden Soldaten wurden in St. Thomas gelandet. Es ist dies bereits die zweite Rettungstat dieses Schiffes, das erst im vorigen Jahre in Dienst gestellt wurde. -r- Der bekannte Rennstallbesitzer Konsul M. I. Oppenheimer in Frankfurt a. M. ist unter Anschuldigung des Betruges und desKonkurs- vergehens, die nach Angabe der Staatsanwaltschaft Millionenbeträge ausmachen, in Untersuchungshaft ge nommen worden. * Aus Einladung Mussolinis fährt Staatssekretär Feder Anfang nächster Woche nach Rom. 81. Fortsetzung Nachdruck verboten Die Gläubiger wüteten und tobten, denn sie hatten er fahren, daß in den letzten beiden Jahren die Feuervsrsiche- rungsprämien nicht eingelöst worden waren, so daß nun die Hypothekengelder auch ein Opfer der Katastrophe wurden. Mit Erschrecken erkannte Elga, daß auch ihr Darlehen verloren war. Nur wenige Habseligkeiten, darunter die An denken an ihre Mutter, waren gerettet worden. Während Elga mit dem Ortsvorsteher und Pfarrer über ihre Zukunftspläne sprach, traf aus dem Sanatorium die Nachricht ein, daß sich Lutz von Sagan über den Tod seiner Mutter und das Brandunglück sehr erregt und einen schwe ren Blutsturz erlitten habe, an dessen Folgen er verschie den sei. Wieder trennte sich Elga-von einem ihrer wenigen Schmuckstücke, einem kostbaren Anhänger aus schwerem Gold mit Brillanten und Rubinen besetzt, um mit diesem Erlös die Ueberführung der sterblichen Ueberreste Lutz von Sa gans nach seiner Heimat zu ermöglichen und ihn in der Gruft seiner Väter beisetzen zu lassen, damit er vereint mit seiner geliebten Mutter der Auferstehung entgegenschlum merte. Dann zog sie wieder heimatlos in die Fremde. Der gütige, alte Pfarrer hatte ihr einige Adressen gege ben, um ihr durch seine Empfehlung eine Verdienstmoguch- leit zu verschaffen. Elga war sich in schlaflosen Nächten darüber klar ge worden, daß sie nun gezwungen sein würde, sich ihren Le bensunterhalt zu verdienen. Deshalb wählte sie als nächstes Ziel Berlin, weil sie der Ueberzeugung war, daß eine Großstadt unzählige Verdienst möglichkeiten bieten müsse. Aber welch' bittere Enttäuschungen hatten dort auf sie gewartet! Der Wille zur Arbeit allein genügte nicht, um eine Stellung zu erhalten. Trotz ihrer Empfehlungen fragte man überall nach Zeugnissen, und da sie solche nicht vorzeigen konnte, wurde sie entweder mit leeren Worten auf später vertröstet oder auch schroff abgewiesen. Es blieb Elga nichts anderes übrig, als immer wieder eines der teueren Andenken an ihrs geliebte Mutter zu ver kaufen, um notdürftig das Leben fristen zu können. Bittere Not trat an sie heran. Sie wohnte in einem bescheidenen Dachkämmerchen hoch droben im Norden, nachdem sie die Mieten in einer Fami lienpension nicht mehr bezahlen konnte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend irrte sie nach einer Stellung umher. Bei jedem Wetter war sie un terwegs. Einigemale hatte sie kleine Verdienstmöqlichkeiten erhalten. Sie war Aushilfsverkäuferin, sie trug Zeitungen aus, sie fand in einer Konservenfabrik Stellung. Aber alles, was sie unternahm, stand unter einem un günstigen Stern. Das Schicksal schien eine Freude daran zu haben, sie, die sorglos in Glück und Reichtum gelebt hatte, tief zu demütigen. Doch immer wieder raffte sich Elga auf, allen Widerwär tigkeiten des Lebens Trotz zu bieten. Unermüdlich stand sie im Gedränge vieler Arbeitsloser vor den Aushängen» der Zeitungen, um den Arbeitsmarkt zu studieren. Dann lief sie gehetzt von den Sorgen des Alltags Straß' auf und Straß' ab, um überall, wo eine Stellung offen mar, ihre Dienste anzubieten. Heute aber blieb sie regungslos vor dem großen Schau fenster der Tageszeitung stehen und achtete nicht darauf, daß sich der Strom der Menschen um sie her verlor. Heute las sie die Spalten der Stellenangebots nicht, sondern schaute wie gebannt nach einer Anzeige, in der in großen Buchstaben zu lesen stand: „Konzert des Donkosaken-Lhor". Mit brennenden Augen überflog Elga die nachfolgenden Zeilen. Und sie las, daß ehemalige, heimatlos gewordene russische Offiziere und Studenten, sich zu diesem Donkosaken-Chor zu sammengeschlossen hatten und nun in der Welt umherreisten, um sich mit ihren Heimatliedern den Lebensunterhalt zu ver dienen. Ueberall, wo die Konzerte bisher stattgefunden hatten, war der Erfolg groß gewesen. Und während Elga diese Nachricht las, versank der Lärm der Riesenstadt, der um sie brandete, versank das Leid, das sie trug, versanken die schweren, bitteren Sorgen des All tags. Melodien wurden in ihr wach... schwermütige, sehn süchtige Heimatlieder... Jene Lieder, dis sie oft von den Burschen und Mädchen des Dorfes gehört hatte... Einmal rhnen wieder lauschen können... und dabet träumen... träumen von den Tagen der Kindheit... von sorgloser Jugend... von Heimaterde und Heimatglück... Tränen stiegen in Elgas Augen auf und verschleierten den Blick. Müde sanken ihre Schultern herab, und mit schleppenden Schritten wandte sie sich zum Gehen. Das Herz war ihr schwer, denn die ganze Trostlosigkeit ihrer Armut kam ihr zum Bewußtsein. , Sie würde ihre Landsleute nicht sehen, würde die Hei- matlieder nicht hören können. Sie war ja so arm geworden..» Sie würde sich keine Eintrittskarte kaufen können, wenn nicht irgend ein Wunder geschah. Und an Wunder vermochte sie nicht mehr zu glauben. Dis bitteren Erfahrungen der letzten Wochen und Monate hatten sie völlig hoffnungslos gemacht. .... (Fortsetzung folgt.)