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Unterhaltungs-Stunde Ist die Natur zweckmäßig? Von Professor vr. H. BZ o h l b o l d - München. Der Laubfrosch, der auf dem Blatte sitzt, ist grün, der Schneehase ist weiß, damit sie ihren Verfolgern entgehen. Di« Schlupfwespe legt ihre Eier mit Hilfe eines Legestachels ir Raupen und Puppen, damit die ausschlüpfenden Larven so- gleich Nahrung finden. Die ganze Natur, so sagt mar immer wieder, ist äußerst zweckmäßig eingerichtet. Nu, aut angepaßte Individuen setzen sich auf die Dauer durch kommen dann schließlich zur Fortpflanzung und erhalten du Art. So hat seit undenklichen Zeiten eine ganz mechanische, aber doch höchst wirksame Auslese stattgefuudcu, deren Re sultat die Natur in der heutigen Daseinsform ist. Gegen diese hier mit wenigen Worten umrisscne Ansichi ist schon vieles gesagt worden. Man hat auf diesen oder jenen Fall hingewiesen, in dem sich natürliches Geschehen ganz un zweckmäßig vollzieht. Die Teleologen können erwidern, daß du Ausnahme nur die Regel bestätigt. Aber es gibt noch einen ganz anderen Standpunkt. Der Ochse hat Hörner um zu stoßen. So ist die allgemeine Ansicht. Goethe sagt einmal, die Frage nach dem Warum der Höruer sei falsch gestellt. Mau müsse ganz anders fragen: Wie ist es möglich, daß der Ochse Hörner hat, mit denen er dann stößt? Das ist eine vollständige Ver schiebung des Standpunktes. Goethe beantwortet die Frage auch in seinem Sinn. Er weist darauf hin, daß dem Ochsen die Schneidczähne des Oberkiefers fehlen und daß dieser selbst im vorderen Teil nicht verknöchert sei. So findet hier gewisser massen eine Materialersparnis statt, und es bleibt an einer Stelle des Organismus etwas weg, was dafür an einer anderen Stelle verwendet werden kann. Das Beispiel, das wir wählten, um einen von der teleologischen Auffassung durch- aus abweichenden Standpunkt zu zeigen, ist sehr einfach. Aber es hat umfassende Hintergründe. Es setzt, wenn wir das Pro blem in ein paar Worte fassen wollen, an die Stelle des Zweckes den Zusammenhang. Der Mensch handelt zweckmäßig, er tut etwas Bestimmtes, weil er damit ein ihm vorschweben- des Ziel zu erreichen glaubt. Die Natur kennt keine Zwecke und Ziele im menschlichen Sinn. Organismen wollen sich nicht, wenn auch unbewußt, anpassen. In der Natnr gibt es nur Zusammenhänge, Totalitäten, die in sich harmonisch sind. Ge rade so etwas wie die Farbenanpassung — wir gingen vom Laubfrosch aus —, die sogenannte Schutzfärbung, ist außer ordentlich viel diskutiert, behauptet und bekämpft worden. Sie verliert ihre Problematik, aber auch die in sie gelegte Be deutung, sobald man sie unter dem Gesichtspunkt des Natur harmonischen betrachtet. Wir sind es gewohnt, zu atomisieren, indem wir denken. Der Stein, den wir vom Boden aufheben, ist uns etwas für sich Bestehendes. Wir lassen ihn los, er fällt zur Erde. So sagen wir, sie ubt eine Anziehungskraft auf ihn aus. Ju Wirklich keit ist die Annahme einer hypothetischen Kraft gar nicht not- wendig. Der Stein gehört zur Erde. Indem wir ihn aufheben haben wir einen natürlichen Zusammenhang gelöst, der sich in Fallen des Steines wiederherstellt. Der Stein für sich ist ein, Abstraktion; er könnte nicht existieren, wenn nicht die ganz< Erde da wäre. Ebenso ist ein Strauch, auch nur ein Grashaln für sich allein nicht möglich. Er braucht die Erde, aus de: er wächst, ebenso wie den Gang der Sonne durch die Tier kreiszeichen, der den Wechsel der Jahreszeiten bedingt, brauch, die Wolke, die ihm Regen spendet, die Luft, das Licht, du Wärme. Man kann sagen — und diese Auffassung ist die ge wöhnliche — das alles ist die „Ursache" seines Daseins, du Bedingung seines Wachstums. Aber das ist allzu menschlich gedacht. Denkt man, anstatt atomistisch, dynamisch, so geht mar statt von Einzeldingen von einem Ganzen ans. Eine dyna mische Vorstellung wird nicht Einzelindividuen an den Anfanc ihrer Betrachtung setzen, um das Ganze als Zusammenspiel der Teile zu erklären, sie betrachtet das Ganze und sucht du Teile so, wie sie sind, oadurch zu begreifen, daß sie in jedei Einzelheit das Ganze sucht. Aus der Idee des Ganzen heraus und in ihrem Sinn ist das Einzelne gebildet in seiner Form seiner Farbe, seiner Wirksamkeit. Die Natur — auch das hat Goethe ausgesprochen, als ei in Italien mit der griechischen Kunst vertraut wurde — schafft nach den gleichen Prinzipien, nach denen die Griechen ihre Kunstwerke bildeten. Der Künstler geht von einer Idee aus, nach der er ein Werk gestalten will. Die Plastik, das Ge mälde — was immer es sei — ordnet die Teile harmonisch aus der Idee des Ganzen. Sie fügen sich nicht so zusammen, daß sie einander gegenseitig bedingen, sondern so, daß jeder sich dem Dienste der Gesamtidee unterstellt. Man wird dagegen einwenden, daß eine solche Auffassung nicht von wissenschaft licher, sondern von künstlerischer Betrachtung ausgehe. Aber man kann auch sagen, daß hier die Wissenschaft zur Kunst wird. Darüber zu streiten, was „richtiger" ist, hat keinen Sinn. Es handelt sich nur darum, daß nach dieser Methode die Natur . anders als sonst angesehen wird. Sollte es nicht möglich, ja notwendig sein, auf verschiedene Weise an die Welt heran- rutreten und sich mit ihr auseinanderzusetzen? Ist nur eiue Art der Weltbetrachtung absolut richtig? Es gibt viele Mög lichkeiten, die neue Seiten enthüllen können. Im vorliegenden Fall wird es sich darum handeln, was man will. Die heutige Wissenschaft sucht kausale Zusammenhänge und betrachtet die Natur physikalisch. Alle Naturbetrachtung will in die Physik münden und alle Physik in die Technik. Eine dynamische An schauung will das Erlebnis und durch das Erlebnis Einsicht in die Ideen, die in der Natur schöpferisch wirken. Sie sieht daher in der Weltentwicklung nicht eine Folge von Vorgängen, deren früherer immer den späteren bringt, kein Zweckwirken, das Ziele anstrebt. Für sie ist das All ein Ganzes, das sich in Harmonien auslebt, die in ewigem Wandel und Wechsel, immer neu und doch immer das gleiche offenbarend, zugleich Spiel find und Offenbarungen letzter, ewiger Ideen. Das Schicksal liegt auf der Straße. Skizze von G. Wilhelm Sandrock. Man sah es Alma Bäcker gar nicht an, daß sie auf den Kesten Wege dazu war, das zu werden, was man früher einmal ein älteres Mädchen nannte. Ihr Gesicht, vom welliger dunklen Bubenkopf eingerahmt, hatte noch etwas Kindlichci an sich, und die Nasenspitze, die beim schnellen Sprechen lusti; auf und ab hüpfte, war für das ganze Büro vom ersten Tag« der Bekanntschaft an ein aufheiternder Anblick. Wenn auch du Natur sie nicht gerade bevorzugt behandelt hatte, so könnt, doch das Mädchen im allgemenmi zitfriedeu sein. Trotz alledem hatte Alma Bäcker noch nicht den Manr gefunden, der — wenn es auch teilweise energisch bestritten wird — in den Träumen aller Mädchen eine bedeutsame Roll« spielt. Sie war schüchtern, nein, noch mehr, männerscheu. Su schien nicht recht zu wissen, was sie mit scklchen Geschöpfen anfangen sollte, und die Verlegenheit, die sie in Gesellfthaf: von Männern oft befiel, verbarg sie hinter einem etwas albern klingenden Lachen über durchaus nicht lächerliche Dinge. Ss mußte das Urteil der gesamten Männlichkeit im Büro lauten: eine hoffnungslose alte Jungfer. Freilich machte einer hier eine Ausnahme. Er hieß Paul Braschhümpel und war auch sonst etwas verdreht. Man wurde aus ihm nicht recht klug. Er machte oft ein finsteres Gesicht und gab verkehrte, hastige Antworten. Aber weil er kein Spiel verderber war und sich nicht aufregte, wenn man ihn ein wenig hänselte, so verzieh man ihm seine Gegenwart. „Er Hal einen Klaps", sagten die Leute und gaben sich mit dieser ab schließenden Erklärung zufrieden. Ach, was ahnten die Menschen davon, wie es in Wirklich keit in Panl Braschhümpels Herzen aussah! Wenn sie gewußt hätten, daß er verliebt war, so würden sie eine andere Er klärung für sein oft etwas sonderbares Verhalten gehabt haben. Aber sie konnten das ja nicht ahnen, denn Paul Braschhümpel teilte keinem das Geheimnis seiner stillen Liebe mit, nicht einmal der Angebeteten selbst. So konnte Alma Bäcker nichts davon ahnen, daß ein Mann sie zur Königin seines Herzens gemacht hatte. „Es ist gut so", sagte Paul Braschhümpel zu sich selbst, „denn sie haßt ja die Männer und würde meine Liebe doch niemals erwidern, und ich könnte mich nur vor den Leuten lächerlich machen." Dennoch litt er an dieser heimlichen Liebe. Eines Sonnabends fuhr der fleißige Paul Braschhümpel wie gewöhnlich als Letzter aus dem Geschäft mit dem Rade heimwärts. Ahnungslos rollte er die Karlsstraße entlang, als plötzlich ein glänzender Gegenstand sein Auge fesselte. Er war ichon in der nächsten Sekunde daran vorüber gefahren. Aber er hatte geglaubt, einen Geldbeutel gesehen zu haben, und so wandte er sein Rad scharf um. Er hatte recht. Dori lag ein glänzender schwarzer Leder beutel, noch fast neu, und schien zu rufen: „Nimm mich mit!" Panl Braschhümpel stieg ab, hob den Geldbeutel auf, betrach tete ihn, sah hinein, entdeckte nur ein paar Groschen und dachte: „Ich gebe ihn, sobald ich gegessen habe, auf der Polizei wache ab." — Deshalb stand er etwa eine Stunde später vor dem Wach habenden und meldete seinen Fund. Der Schutzmann betrach tete mit kundigem Blick den Geldbeutel: „Viel hat das Ding nicht gekostet. Vielleicht eine Mark. Sind denn keine Anhalts punkte über die Person des Besitzers zu finden? Hier steckt ja ein Zettel. Mit der Maschine geschrieben: Strebsames, be rufstätiges Mädchen, 30 Jahre alt, einsam und ohne verständ nisvolle Freunde, möchte die Bekanntschaft eines ruhigen, ge bildeten Herrn im Alter von etwa 35 Jahren machen, der einen guten Lebenskameraden wünscht. Briefe unter A. B. 30 an die Geschäftsstelle des Blattes erbeten." Der Schutzmann geruhte, nach dieser Lektüre einen Witz zu machen: „Sie brauchen nur unter A. B. 30 einen Heirats antrag einzuschicken, und die Verliererin bekommt ihren Geld beutel wieoer." Paul Braschhümpel wollte dem Wachhabenden gerade er klären, daß er diesem Vorschlag zur Güte leider nicht folgen könne, weil... weil... na, die Gründe spielten ja hier keine Rolle... Da ging die Tür auf und — Alma Bäcker trat ein. Sie sah den jungen Mann nicht, der verdutzt zurück getreten war und halb von der Tür verdeckt wurde. „Ist hier nicht", fragte sie hastig, „ein schwarzer Ledergeldbeutel abge geben worden? Ich habe ihn vorhin verloren. Es war nicht viel Geld darin, aber... aber er ist für mich doch von Wert." Der Wachhabende machte eine kleine höfliche Verbeugung: „Eben ist Ihr Geldbeutel abgeliefert worden. Dieser Herr hat ihn gefunden." Da sah das Mädchen Paul Braschhümpel, und es wurde rot bis hinter die Ohren: „Ach, vielen Dank! Wie merkwürdig, daß gerade Sie das Ding finden mußten." Sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte, weil sie verlegen war. So nahm sie ihr Eigentum und wollte gehen. Doch der Schutzmann hielt sie noch einen Augenblick zurück: „Bitte, Fräulein, dieser Zettel gehört auch noch Ihnen." Und er reichte ihr mit einem Lächeln, das alles Mög liche sagen konnte, die Anzeige. Die Verlegenheit der jungen Dame bereitete ihm sichtlich Vergnügen. Paul Braschhümpel ballte einen Augenblick die Faust; dann schritt er als gesitteter Staatsbürger ruhig hinter Alma Bäcker aus der Wachstube, Die beiden gingen ein paar Meter schweigend neben ein ander. Dann sagte das Mädchen plötzlich, und in seinen Augen stand eine Träne: „Bitte, bitte, Herr Braschhümpel, sagen Sik keinem Menschen etwas von der Anzeige! Alle würden mich auslachen." „Nein", versprach er ritterlich. Und dann gab er seinem zagen Herzen einen Stoß: „Fräulein Bäcker, Sie möchten heiraten? Warum wollen Sie mich nicht nehmen?" Sie sah ihn staunend an: „Sie? Aber Sie haben mir j« noch nie gesagt, daß Sie mich baben wollen!" „Sie haben recht", besann er sich. „Ich hatte nicht den Mut dazu. Sie schienen sich nichts aus Männern zu machen. Ich... ich... ach, Fräulein Bäcker, wollen Sie mich haben?" „Ja", sagte sie rasch, und ihre Nasenspitze hüpfte vor Erregung auf und ab. Sonst sahen aber die beiden nicht nach einem Brautpaar aus, als sie die Straße hinunter gingen. Tatsache ist aber, daß Alma Bäcker von den 162 Heirats- angeboten, die sie auf ihre Anzeige hin erhielt, keine mehr benötigte. Ursache und Wirkung Ede: „Warum ist der denn so traurig?" Lude: „Dem ist die Brieftasche gestoh len worden." Ede: „Woher weißt du denn das?" Lude: „Hier ist sie!" Frau Elster hilft einem Strauchelnden. Skizze von Gerd Land. Fräulein Hellendorf, die Chefdetektivin, hatte als ersk du Gattin des bekannten Physikers Geheimrat Elster erspäht. S« ging sofort an einen der zahlreichen Hausapparate und tele phonierte der Zentrale des Kaufhauses: „Die diebische Elster ist im Hause!" Diese wenigen Worte bewirkten, daß alsball im gesamten Riesenbetrieb auch das kleinste Lehrmädchen wußte, daß die als „diebische Elster" bekannte Frau Geheimst' ihrer unglücklichen Leidenschaft frönen würde. Der gut ein gespielte Apparat der vortrefflichen Organisation trat in Tätig leit. Jeder Angestellte wußte, daß die stattliche, schöne uni elegante Frau mit dem sicheren Auftreten einer Angehörige: der besten Gesellschaft stehlen durfte, was und soviel sie wollte denn so hatte es die Direktion angeordnet. - Heimlich mußten die Angestellten die von Margot Elster gestohlenen Waren notieren und die Kassenzettel dem Sekre tariat einreichen. Der Mann der von der unseligen Leidenschaf der Kleptomanie Besessenen, der diese Frau trotz ihrer Ber anlagung zärtlich liebte, so, wie man etwa eine Rauschgift süchtige zu lieben vermag, kam für alles auf. Die Hellendorf, ein unscheinbares, ältliches Fräulein dessen scharfe Augen von einer Hornbrille verdeckt wurden, dH Detektivin, die sich in Hut und Mantel von solider Unaus sälligkeit unter die Käuferscharen zu mischen pflegte» wußte daß die junge Frau des bekannten Physikers vor kurzem ers von einer Mittelmeerreise heimgekehrt war. Natalie Hellendorf die sich in ihren Mußestunden viel mit solchen absonderliche: Fällen beschäftigte, mit denen sie ihr Beruf vertraut gemach hatte, ahnte, daß die Sucht zu stehlen bei der „diebischer Elster" periodisch auftrat wie bei einem Quartalstrinker de: Säuferwahn. Die Detektivin also hielt sich im Kielwasser der schöner Frau, verfolgte sie durch Abteilungen und Stockwerke und wunderte sich. Die Verfolgte stahl nicht... Frau Margot kämpfte einen erbitterten, zähen Kamp gegen ihre unnatürliche Leidenschaft, während sie an den wi greifbaren Waren überladenen und angefüllten Tischen und Regalen entlang ging. Sie kämpfte mit dieser Leidenschaft, di' heiß in ihr aufgebrochen war, die wie ein Dämon, teufelSgleicb ihre Hände vor Verlangen erzittern ließ. Nur einer halb ent wöhnten Rauschgiftsüchtigen angesichts der lang entbehrten heiß geliebten Droge vergleichbar, ging sie mit fieberhaft ge röteten Wangen, mit einem unsteten Flackern in den Auger durch die Abteilungen. Ja, sie wollte nicht mehr stehlen. Wollte nie mehr, nn wieder dem rasenden, pochenden Teufel im Herzen unterliegen um dann, von Furien gepeitscht, doch äußerlich ruhig, naö gelungenem Raub das Warenhaus zu verlassen. Sie wollt nie wieder, ihr Geheimnis vor den Angestellten ihres Haus halts verbergend, die geraubten Sachen in den mit wertlose: Gegenständen bereits überfüllten Schrank in ihrem Damen zimmer pferchen. Sie wollte dem geliebten Manne wieder ir die Augen schauen, ohne in seinem gütigen Blick das Flackerr des Mißtrauens zu suchen, zu erraten... Wie unter einem hypnotischen Zwange war sie heute wieder mit ihrem silberverchromten Wagen hergefahren, wir unter dem Gesetz ihres Dämons war sie hereingeeilt. Wie sie nun, den gewaltsam in ihr sich aufbäumenden fremden Willen niederringend, durch mehrere Stockwerke ge gangen ist, ohne zu stehlen, da schleicht sich in ihr Herz ein« Hoffnung. Und sie weiß, daß es eine unerhörte Besserung, wenn nicht Heilung von der krankhaften Veranlagung be deutet, wenn sie es heute über sich bekommt, auch die letzter Etappen dieser Folter zu durchschreiten, ohne einen silberner Teelöffel, ein Paar Seidenstrümpfe oder einen Pelzkragen mit- gehen zu heißen. Ja, wenn es ihr gelingt, an den verlockend aufmerksamen Gesichtern der Verkäufer vorbei voll innerer Ruhe hinaus zugehen, ihren Wagen zu besteigen und heimzufahren, sie wäre unsagbar froh, unendlich glücklich ... Das alte Fräulein Hellendorf, das schon so viek Verzweif lung bei Anfängern, soviel Abgebrühtheit bei gewerbsmäßigen Ladendieben erlebt hat, das so manchen kleinen Stromer im Einverständnis mit ihrer Direktion laufen ließ, ja, ihn speist« und ihm wieder auf hie Beine half, das so manchen schweren Jungen mit kalter Routine der Polizei in die Arme spielte, das alte Fräulein Hellendorf wittert den Kampf, den die „diebische Elster" mit sich austrägt. Die feine psychologische Technik der Jäger, die menschliches Wild zur Strecke bringen, die seltene Gabe der großen Krimi nalisten, verrät ihr, daß die schöne Frau da vor ihr alle ver fügbare Willenskraft aufbietet, um die Sucht zu meistern. Und schon will die alte Detektivin die Frau des bekannten Er finders ansprechen, um ihr schonend beizubriugen, daß die ganze seelische und körperliche Erregung in diesen von Klepto manie durchgepeitschten Jahren auf einem Trug beruhte,' da ja der Geheimrat alle „gestohlenen" und getreulich registrierten Waren bezahlte, da wird sie Plötzlich von etwas ganz anderem in Anspruch genommen. Ein Mann hat soeben blitzschnell, unbemerkt vom Ver kaufs- und Kontrollpersonal, einen Gegenstand von einem der Verkaufstische gezogen. Man befindet sich im Erdgeschoß. Und Margot Elster schon im Begriff, in einem herrlichen Ruhegefühl das Waren haus zu verlassen, hat im selben Augenblick wie die Hellendorf den Dieb erspäht, einen Mann, mit abgeschabter Eleganz ge kleidet, dem oer Hunger aus den Augen schreit. In ihrer sachlichen Art geht die Hellendorf zu dem Manne, um leise aber bestimmt ihre Formel für solche Fälle anzu bringen: „Haben Sie die Absicht, die eben entwendete War« ordnungsmäßig zu bezahlen? Wenn nicht, folgen Sie mir ge fälligst zur Untersuchung ..." Da hört sic eine Stimme neben sich. Es ist eine Helle, klare, bestimmte Frauenstimme. Die „diebische Elster" spricht: „Ich bezahle den Kram. Wenn Sil den Mann laufen lassen, werde ich dafür sorgen, daß er Ihnen hier keine Schwierigkeiten mehr macht." Keiner der Vorbeigehenden hat etwas von dem Vorfall gemerkt. Der alte, vergrämte Mann mit den hoffnungslosen Augen, über dessen Gesicht sich brennende Röte ergossen Hal weiß gar nicht, wie ihm geschieht, als er nun von der schönen, duftenden Frau hinausgeschoben wird, hinaus aus dem Waren Haus, hinaus auf die Straße, hinein in ein Luxnsauto. Natalie Hellendorf ist an diesem Tage seltsam aufas räumter Stimmung. Beim feierabendlichen Appell erklärt sic den versammelten Angehörigen der Hausdetektei: „Die diebisch! Elster wird aus den Akten gestrichen, meine Herrschaften! Ist heute gibt es nur noch eine Kundin Frau Doktor Elster, dü bar bezahlt." Ungläubiges Staunen begegnet ihren Worten Und wie in Gedanken fährt die Hellendorf fort: „... und einen Hungrigen gibt es weniger in dieser Stadt." Beruflicher Spür sinn, Psychologische Fähigkeit und weiblicher Instinkt haben die Chefdetektivin nicht getrogen.