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Sonntags-Neilage Nr. 24 27. b. IYZI WNsäruNer Lageblatt „Marlckier — oder verreck!" Von Au g ust Ab el, M. b. R. Zwilchen Lott untt Äabnsinn „Cafard" ist «die französische Bezeichnung für jenes erbärm liche Kerbtier, das man im Deutschen „Schwabe" oder „Kaker lake" nennt und das sich/ entgegen dem ausgesprochenen Willen des Menschen, nichtsdestoweniger in seinen Behausungen als Haustier niederläßt. In den Tropen und Subtropen aber, vor allem in den französischen Kolonien und ganz besonders in der Fremdenlegion, hat dieser Ausdruck „Le Lüfard" eine ganz an dere, furchtbare Bedeutung. Anter „Cafard" bezeichnet man dort entweder eine ganz tiefe Gemütsdepression, eine absolute Wurschtigkeit und ein gänzliches Uninteressiertsein am Schicksal seiner Mitmenschen und an seinem eigenen, oder aber man ver steht darunter jene Gemütsaufwallungen, die anscheinend ohne jeden Grund erfolgen und sich in sinnloser Gehorsamsverweige rung, unerklärlichen tätlichen Angriffen gegen Leidensgenossen und Vorgesetzte, in unüberlegter Desertion und ähnlichen Din gen äußern. Der „Cafard" hat -viele Tausende von Frem-denlegionären vor -die Kriegsge ri ch t e i n O r a n, A l g i e r , C -as a b l a n c a, F ez, M a - rakesch-usw. gebracht. Etliche Tausende unglücklicher Le gionäre büßen in den „Penitentiers", „Travaux publics", „Maisons de Dötentions" und in Cayenne für die Dumm heiten und Vergehen, die sie im „Cafard" begangen haben. * An der Karawanen - „Straße" von Colomb-Bechar nach Timbuktu liegt ein Fort der Fremdenlegion. Das Fort ist belegt mit zweihundert Mann und dreißig Offizieren. Seit vier Mo naten ist die Besatzung nicht abgelöst,' seit -vier Monaten ist sie gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Alle verfügbaren Bücher und Schmöker sind bereits ein dutzendmal durchgekaut; der blödsinnige, einförmige Fortdienst hat Soldaten und Offi ziere zu stumpfsinnigen Tieren gemacht. Die Kartenspiele sind infolge der Nervenüberreiztheit der Spieler längst in tausend Stücke zerrissen, gute und echte Kameradschaften infolge der Enge des Forts — Haß aus Nähe! — in die Brüche gegangen und haben unbegründeten Todfeindschaften Platz gemacht. Kaum daß die Legionäre noch miteinander sprechen! -Viele schleichen herum und haben schon seit Tagen den Mund nicht mehr auf getan. In den engen, dumpfen Einzelzellen des Forts liegen bereits dreißig Mann wegen Gehorsamsverweigerung; ein Dutzend ist in Eisen gelegt wegen tätlichen Angriffen auf Vor gesetzte. Sie toben und schreien T-ag und Nacht. Tagsüber brennt die Sonne unerbittlich auf das Fort hinunter. Stunden lang herrschen 50—56 Grad Celsius im Schatten. Die Wasser rationen sind von Liter auf 1 Liter herabgesetzt; Büchsen fleisch und Konsewen sind den Menschen zum Ekel geworden. Obschon Totenstille über dem Fort herrscht, entfaltet der „Ca- fard" seine Schwingen. Des Nachts sinkt die Temperatur auf ein bis zwei Grad über Null; manchmal sinkt sie auch bis aus ein bis Mei Grad unter Null, und die armen Menschen im Fort, die dort wie eine Schafherde nebeneinander liegen, um sich gegenseitig zu wärmen, klappern mit den Zähnen. Stumpfsinnig und verblödet starren die Schildw-achen in die Anendlichkeit der Wüste hinaus. — So geht es nun Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Manche Legionäre sagen ganz lau; Gedichte auf, um nicht verrückt zu wechen. Andere wieder versuchen zu zeich nen, weil sie fürchten, den Verstand zu verlieren; aber im Laufe der Wochen werden die Zeichnungen des heimatlichen Hauses in der Lüneburger Heide und des geliebten deutschen Mädchens zu unsinnigen Karikaturen und zu scheußlichen Obszönitäten. Ein irres Lächeln um den Mund, wanken ausgemerkelte Gestalten durch das verfluchte Fort. Gleich tollwütigen Hunden quillt ihnen der Schaum aus dem Munde. Dann werden sie gefesselt, in den Schatten geworfen und -durch gewaltsame Bromein- flösung „beruhigt"; aber sie beißen und schlagen um sich wie Bestien. Was in den Saharanächten auf diesen Forts sich ab spielt, daszu schildern wäre viel leicht die Feder eines Dante fähig, aber nur diese! Aeber dem weltvergessenen, verdammten Fort schwebt, gleich einem ungeheuren ner ven- und blutsaugenden Vampir, der „Ca- f a r -d" . . . Sieben Tage marschiert nun die Kolonne -und legt jeden Tag etwa 50 Kilometer zurück. Die Füße sind wund, und das Ausziehen der Schuhe ist verboten, weil die Füße, sobald die Schuhe ausgezogen werden, zu dicken, unförmigen Klumpen an- schwellen. Die Venen an den Waden sind fingerdick herausge- treten; dort, wo die Patronentaschen sitzen, befinden sich auf dem Körper handtellergroße, wunde Stellen. Breite, wunde Striemen bezeichnen die Lagerungen des Koppels, -des Gewehr riemens Md der Tournisterbänder. Die Kehle ist ausgedörrt, die Augen sind halbblind. Nun schlägt die Kolonne zur Nacht ihre Zelte aus. Alsbald senkt sich das Schweigen der Wüste über das Lager der Verlorenen; aber in einem Zelt wispert es! Jemand hat den Vorschlag gemacht, heute nacht zu desertieren! Niemand fragt, wohin die Reise geht; man hat keinen Kompaß, keine genügenden Wasserrationen, keine körperlichen Kräfte mehr, um ein solches.gefährliches Unternehmen durchz-uführen. Die nächste marokkanische Hafenstadt liegt 500 Kilometer vorn Lager entfernt. Irgend jemand nennt ihren Namen, und: d-ie Insassen des Zeltes machen sich fertig zum Ausbruch. Der Posten wird überrumpelt — ein Taschentuch im Munde verhindert ihn am Schreien —, und zwölf Fremdenlegionäre fliehen in die Wüste hinaus — Der Nachtwind -verweht ihre Spuren, und niemand hört jemals wieder etwas von ihnen. — Der „Cafard" hatte ihre Urteilskraft ge trübt und ihre Verstandskräfte aus geschal tet. Die Sahara hat sie verschlungen. * Irgendwo in der Wüste hält die Karawane zur Nast. Die aus gedörrten, gepeinigten Dromedare legen sich sofort hin, und keine Macht der Welt kann sie wieder zum Aufstehen heweg-en. Im Schutze der Düne versuchen Menschen und Tiere etwas Ruhe zu genießen. Die Fremdenlegion stellt die Wachen aus. Ein Doppelposten bezieht den erhöhten Kamm der Düne. Die Nacht bricht herein; riesengroß geht der Mond am Horizont auf. Die beiden Posten versuchen, durch Hin- und Hergehen wach zu bleiben. Da bleibt plötzlich einer stehen und hebt den Zeigefinger. Lauschend späht er in die Wüste hinaus. Der andere folgt seinem -Beispiel, und jetzt hören sie es beide ganz genau: Die Wüste singt! Die Sahara singt in einem ganz seinen, sehr hohen Tone, der die Nerven zer reißt und fürchterliche Schmerzen im Gehirn verursacht. — Der Gesang der Wüste wird stärker und stärker, und jetzt fängt einer der Posten laut an zu schreien und zu brüllen. Das Brüllen geht über in einen entsetzlichen Lachkrampf. Der andere Posten wird davon angesteckl. Die beiden Legionäre werfen ihre Gewehre in den Sand, reißen sich die Anifomen vom Leibe und führen, fürchterlich heulend und brüllend, auf der Düne einen höllischen Tanz aus. Der näher zum Lager hinliegende „kleine Po sten" schlägt Alarm, zwanzig bis dreißig Fäuste packen die Ver rücktgewordenen, binden ihnen Hände und Füße zusammen und schmeißen sie in den Sand. — Der „Cafard" hatte sie gepackt; aber was sie hörten und was sie für den Gesang der Wüste hielten, war nichts