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Die ersten beiden Sinfonien (1899 bzw. 1902 vollendet) von Jean Sibelius sind noch wesentlich von dem farbenreichen, üppigen Orchesterstil seiner frühen Tondichtungen ge prägt. In der 3. Sinfonie, die in den Jah ren 1904 bis 1907 langsam heranreifte, er reichte der Komponist in ästhetischer Bezie hung eine neue Qualität. Anstelle des roman tischen Klangbildes sind klassische Klarheit und Deutlichkeit getreten. Jedes musikalische Detail ist als Ausdrucksträger wesentlich in bezug auf das sinfonische Ganze, das nicht mehr hauptsächlich auf emotionale Wirkung zielt, sondern im gleichen Maße musikalisches Mit-Denken des Hörers beansprucht. Auch die Anforderungen an die Interpreten sind ge stiegen: die Ausführung fordert kammermusi kalische Akribie. Die 3. Sinfonie ist das erste Werk, das Sibe lius nach der sehnsüchtig erwarteten Über siedlung in sein bei Järvenpää gelegenes Landhaus Ainola in Angriff nahm, und sein Glücksempfinden angesichts der nunmehr ge wonnenen Freiheit, inmitten der geliebten hei matlichen Natur dem Schaffen leben zu kön nen, hat ohne Zweifel auf den Gehalt der Sinfonie entscheidend eingewirkt. Wenn man in dem dramatischen Gestus und dem hero ischen Pathos der ersten beiden Sinfonien den Freiheitskampf des finnischen Volkes wi dergespiegelt fand, so erscheint es legitim, auch im Falle der „Dritten" einen Bezug zu emp finden. Die Erfahrung individueller Freiheit, die Perspektive unbehinderten Schöpfertums führt in der hier vollzogenen künstlerischen Verallgemeinerung zum antizipierenden Aus druck des Glücks, „auf freiem Grund mit freiem Volke stehn". Den festumrissenen Hauptgedanken des in klassischer Sonatenform konzipierten Allegro moderato kennzeichnet unbeschwertes Aus schreiten, ein positives Lebensgefühl, das von einem fröhlichen Holzbläsermotiv noch über höht wird. Das gesangliche Seitenthema der Bratschen bildet eine kontrastierende Erqän- zung, aber keinen konfliktschaffenden Wider spruch. Verhaltener im Ausdruck, trotz der leb haften Sechzehntelbewegung in den Strei chern, verläuft die von kammermusikalischer Feinarbeit geprägte Durchführung, um in der gestrafften Reprise die lebensbejahende Grundhaltung umso kraftvoller hervortreten zu lassen. Doch dann wird in der Coda ein öberleitungsmotiv zu einem andächtig-erha benen Gedanken der Bläser umgeformt: Der Bewegung, der Aktivität folgt ein Moment dankbarer Besinnung, glückhaften Innehal tens, und ein für Sibelius charakteristischer Plagalschluß beendet den Satz mit feierlicher Bestimmtheit. Das folgende Andantino con moto, quasi al- legretto ist einer der zauberhaftesten lyrischen Sätze, die Sibelius je geschrieben hat. Er be steht aus Variationen und zwei Zwischenspie len über ein empfindungsvolles Thema, das nach kurzer motivischer Vorbereitung zunächst von den Flöten vorgetragen wird. Die harmo nische und instrumentale Behandlung ist au ßerordentlich delikat. Den Charakter der Mu sik betreffend, ist man versucht, in Abwand lung eines Ravelschen Titels von „Variationes nobles et sentimentales" zu sprechen. Auf ein Scherzo hat Sibelius in dieser Sinfo nie verzichtet, dafür hat die erste Motivgrup pe des Finalsatzes ausgeprägten Scherzando- Charakter. Sie geht nach drei Moderato-Tak- ten in ein kapriziöses Allegro man non tanto über und bezieht Motive aus dem Mittelsatz in das musikalische Geschehen ein. Die Mo tive eines zweiten, selbständigen Gedanken komplexes haben den a-moll-Dreiklang zum tonalen Zentrum: wogende Engführungen in den vierfach unterteilten ersten Violinen bil den das klangliche Fundament. Beide Sub stanzgruppen erfahren durchführungsartige Wiederholung, wobei die zweite, diesmal von f-moll ausgehend, zum Ausdruck vehementer Erregung gesteigert wird. Dann tritt in den unterteilten Bratschen ein neuer, früher be reits unauffällig angedeuteter, marschartig ausgreifender Gedanke hervor, der nach dem Übergang zum 4 4 Takt „con energia" die vorwärtsdränqende, von expansiver Kraft er füllte Schlußstrophe des Werkes beherrscht, das am 25. September 1907 unter Sibelius in Helsinki uraufgeführt wurde. Ton- und Bildaufnahmen während des Konzertes sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. Chefdirigent: GMD Jörg-Peter Weigle - Spielzeit 1990 91 Druck: Mitteldeutsche Druckanstalt GmbH Heidenau Preis: 0,50 DM