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sowjetische Musikwissenschaft hat sich nur zu bereitwillig dem amtlichen Druck gebeugt. Tschaikowskis sexuelle Prägung wurde nicht etwa abgeleugnet, sie wur de schlichtweg nicht zur Kenntnis genom men. Sie war kein Gegenstand auch noch so akribischer Forschung; und an der Akri bie bei der Nachzeichnung des Lebens eines nationalen Heros wie Tschaikowski hat es wahrlich nicht gemangelt. Wir stehen hier wieder vor dem Phäno men, daß totalitäre Regime mit Erschei nungen außerhalb des allgemein Konsens fähigen, also auch mit Sexualität jenseits der allgemein üblichen Standards, nicht adäquat umgehen können. Das Rußland der Zarenzeit konnte der Homosexualität noch mit relativ liberalem Verhalten be gegnen, vor allem, wenn es sich um hoch- gestellte Persönlichkeiten handelte. Von diesen gab es eine nicht unbedeutende Zahl; Homosexuelle fanden sich bis in die kaiserliche Familie, was allgemein bekannt war und sich auf grundsätzliche Duldung stützen konnte. Schwule niederen gesell schaftlichen Rangs mußten allerdings mit drakonischen Strafen (Verlust der bürger lichen Rechte und Verbannung nach Sibi rien) rechnen. Diese unterschiedlichen Maßstäbe sollten uns allerdings nicht wun dern: durch die Geschichte läßt sich fast lückenlos verfolgen, daß je nach Stellung innerhalb der Machthierarchie stets mit un terschiedlichem Maß gemessen wurde. Was den Oberen nachgesehen wurde, durften die Unteren noch lange nicht. Auch in den letzten Jahren der Sowjetunion hat es noch lange gedauert, bis die Kriminalisierung der Homosexualität ge mildert und schließlich aufgehoben wur de. Aber immerhin mußte sich der erste Schwulenverband der Sowjetunion noch als "Tschaikowski-Vereinigung" tarnen. Die westlichen Gesellschaften haben al lerdings wenig Grund, auf ihre Toleranz gegenüber Homosexuellen besonders stolz zu sein. Händels Homosexualität, von der Martin Gregor-Dellin spricht, ist bis her kein Gegenstand weitergehender For schung geworden. Wie lange hat es ge dauert, bis offen über Thomas Manns Ho li iHlTbtLU = ; 'P "" ,r1 f mosexualität gesprochen werden durfte! Luchino Viscontis Film „Ludwig" über den Bayernkönig Ludwig II. durfte in Deutsch land zunächst nur in einer stark zusammen geschnittenen „entschärften" Version ge zeigtwerden; erst 1993 fand das Fernse hen den Mut, die mühsam rekonstruierte ungekürzte Fassung auszustrahlen. Mag Homosexualität inzwischen auch größere gesellschaftliche Akzeptanz gefunden ha ben; wenn es sich um vermeintliche Nationalheilige handelt, tun sich Wissen schaft und Gesellschaft noch immer schwer genug. Nicht auszuschließen ist folglich, daß Alexan dra Orlowas Forschungsergebnisse gar nicht erst auf ihre wissenschaftliche Plausi bilität geprüft wurden. Zu vermuten wäre viel mehr, daß von Anfang an der Wunsch, sie möge nicht recht haben, federführend gewirkt haben könnte. Allerdings gibt es auch Gegenstimmen, die so seriös sind, daß wir nicht ohne weiteres über sie hin weggehen dürfen. Eine - aus welchen Gründen auch immer - sehr späte Reak tion des Musikhistorikers Alexander Posnanski findet sich unter dem Titel "Tchaikovsky's Suicide: Myth and Reality" in der Frühjahrsnummer 1988 der Zeit schrift " 19th-Century Music", die von der Skizzen zur "Pathetique" (u.a. nachträglich komponierte langsame Einleitung des ersten Satzes und Detail zum Marschscherzo] Dichtung oder Wahrheit ? »