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ZUR EINFÜHRUNG Die widersprüchlichen Thesen zu Tschaikowskis Tod University of California herausgegeben wird. Es ist beeindruckend, mit wie vielen Details Posnanski aufwartet, sie sauber an hand von Quellen belegt und schließlich zu der Feststellung kommt, daß Orlowa nicht recht hat. Es hat im übrigen nicht den Anschein, als ob Posnanski aus Grün den ideologischer Engstirnigkeit zu einem Ergebnis käme, das so und nicht anders lauten darf. Seine Genauigkeit, oft quä lend und anstrengend, ist ebenso beein druckend wie überzeugend. Uns bleiben also zwei Meinungen, die einander unvereinbar gegenüberstehen. Alexandra Orlowa behauptet und belegt, daß Tschaikowski zum Suizid gezwungen wurde und so Opfer einer Konspiration wurde, die auch seine behandelnden Arz te nicht ausspart. Hätte er sich dem Ver dikt nicht gebeugt, wäre eine gesellschaft liche Demontage bis hin zur sozialen Aus löschung unvermeidlich gewesen. Alexan der Posnanski vertritt den gegenteiligen Standpunkt: an Tschaikowskis Tod durch Cholera ist nicht zu zweifeln, wenngleich die Quellenlage nicht alle Einzelheiten be friedigend beantwortet. Orlowas These vom Suizid des Komponisten gehört laut Posnanski in die Reihe fantasievoller Ver mutungen, die natürlich auch durch Tschaikowskis Homosexualität „mit ihrer Aura von Geheimnissen und Ungesagtem" genährt werden. Es ist derzeit schwierig, sich für den einen oder anderen Standpunkt zu entscheiden, denn Argumente pro und contra halten sich die Waage. Es wird noch eine ge raume Zeit dauern, bis wir davon spre chen können, daß diese oder jene Rich tung endgültig recht hat. In der Zwischen zeit bleibt uns nur das Werk Tschaikowskis. Daß uns das Tragische und Pathetische im Werk Tschaikowskis auch deshalb an rührt, weil wir um die Tragik seines Le bens, seiner Lebenslüge wissen, ist eine ganz andere Frage. Aber wir dürfen sein opus ultimum, die Sinfonie Nr.6 h-Moll nicht als ein Werk interpretieren, in dem schon Wissen um den unmittelbar bevor stehenden Tod aufklingt. Am 20. Mai (1. Juni] 1893 hatte Tschaikowski in London ein Konzert des Royal Philharmonie Or chestra geleitet; am 1. (13.) Juni war ihm - gemeinsam mit Arrigo Boito, Max Bruch, Camille Saint-Saens und Edvard Grieg die Ehrendoktorwürde der Universität Cam bridge verliehen worden. Mitte Juni kehr te er nach Rußland zurück. Am 16.(28.) Oktober dirigierte er in Petersburg die Ur aufführung seiner 6. Sinfonie. Obwohl die ses Werk dramatischer als alle seine an deren Kompositionen ist (diese Dramatik ist freilich eher nach innen gerichtet und tritt nach außen weniger stark in Erschei nung als etwa in der 4. oder 5. Sinfonie) und vermutlich der Befindlichkeit der Zu hörer nur wenig entsprochen haben dürf te, war der Uraufführungserfolg nur mä ßig. Die Hörer waren eher irritiert, viel leicht, weil sie den requiemähnlichen Gestus des Werks nicht völlig begriffen. Kurz vor der Uraufführung war Tschaikow ski um eine Requiemverfonung gebeten worden, aber er lehnte ab, denn „meine letzte Sinfonie (besonders ihr Finale) ist von ähnlichem Geist durchdrungen". Die Be zeichnung "Symphonie pathetique" erhielt das Werk erst am Tag nach der Urauffüh rung auf einen Vorschlag Modest Tschai kowskis. Fast unhörbar beginnt der erste Satz mit dem Thema im tiefsten Fagottregister. Die ses Thema bildet den einen Pol des Sat zes, in dem die Auseinandersetzung zwi schen Quälendem und Vorwärts drängendem, letzteres zunächst von tie fen Streichern intoniert, so plastisch her ausgearbeitet ist, daß dieser erste Satz bei nahe schon die Quintessenz des ganzen Werks darstellt. Wenn das Orchester zum ersten Mal fortissimo spielt, beginnt eine Steigerung, die bis zur Ekstase führt, aber am Ende des Satzes dominiert wieder das Thema der Trauer, das sich an die ortho doxe Liturgie anlehnt. Der zweite Satz führt - sicher ungewollt - den Hörer in die Irre. Was sich scheinbar als Walzer präsentiert, steht in Wirklich keit im Fünf-Viertel-Takt, wie er für russi sche Volksmusik nicht untypisch ist. Im Konzertsaal waren aber vor hundert Jah-