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1. Beilage zu Nr. 114 des Dresdner JvUNMls Sonnabend, 18. Mai 1912. Marie. Erzählung von Wilhelm Wolter-. 18 (Fortsetzung zu Nr. 112.) „Wunderst du dich darüber?" wiederholte Marie, da Grunow nicht antwortete. „Es ist doch gar nicht so wunderbar. Ich bin nicht abergläubisch und halte nichts von der Kraft eines Talismans oder eines Amuletts. Und für mich könnte ja" — sie senkte den Kopf ein wenig — „dies auch jetzt kein Talisman mehr sein . . . aber du hast ja selbst gesagt, daß man in Ehren halten soll, was einem früher einmal heilig war, auch wenn die Gefühle, die man gehabt hat, längst vergessen sind ... Die Kette ist nicht das einzige, was uh von damals aufgehoben habe. Paß einmal auf." Sie lies ins Nebenzimmer und kam mit einem abgegriffenen kleinen Büchelchen in der Hand zurück. Ihre Augen leuch teten. Sie hielt das Buch in die Höhe. „Kennst du es noch?" „Bechsteins Märchenbuch?" „Erinnerst du dich nicht mehr daran?" „Nur dunkel . . ." „Wie?" fragte sie mit einem leisen Ton des Vorwurfs. „Das weißt du nicht mehr, daß du mir's mit unter den Weihnachtsbaum gelegt hast?" „Ich muß gestehen, ich hatte es ganz vergessen." „O ... du hattest mich einmal . . . Siebenschün genannt, und als ich dich fragte, was du damit meintest, sagtest du, das sei eine Märchenprinzessin, und ich bat dich, du möchtest mir die Geschichte erzählen, und da schenktest du mir das Buch, und ich habe dir die Ge schichte von Siebenschön unterm Weihnachtsbaume vor gelesen." „Richtig, richtig", sagte er wie im Traume, „jetzt entsinne ich mich . . ." Sie setzte sich an den Tisch unter die Lampe und blätterte in dem Büchelchen. „Da ist's!" rief sie. „Was?" „Eben das Märchen von Siebenschön." „Ah . . ." Sie las: „Es waren einmal in einem Dorfe ein paar arme Leute, die hatten ein kleines Häuschen und nur eine einzige Tochter —" Grunow machte eine Bewegung. „Die war wunderschön und gut über alle Maßen. Sie arbeitete, fegte, wusch, spann und nähte für sieben, und war so schön wie sieben zusammen, darum war sie Siebenschün geheißen. Aber weil sie ob ihrer Schönheit immer von den Leuten angestaunt wurde, schämte sie sich und nahm Sonntags, wenn sie in die Kirche ging — denn Siebenschön war noch frömmer wie sieben andere, und das war ihre größte Schönheit — einen Schleier vor ihr Gesicht. So sah sie einstens der Königssohn und hatte seine Freude über ihre edle Gestalt, ihren herrlichen Wuchs, so schlank wie eine junge Tanne, aber es war ihm leid, daß er vor dem Schleier nicht auch ihr Gesicht sah, und fragte seiner Diener einen: „Wie. kommt es, daß wir Siebenschöns Gesicht nicht sehen?" „Das kommt daher," antwortete der Diener, „weil Siebenschön so sittsam ist." Darauf sagte der Königssohn: „Ist Siebenschön so sittsam zu ihrer Schönheit, so will ich sie lieben mein lebenlang und will sie heiraten. Gehe du hin und bringe ihr diesen goldenen Rina von mir und sage ihr, ich habe mit ihr zu reden, sie solle abends zu der großen Eiche kommen." Sie hielt plötzlich inne. „Nein, ich will es lieber nicht lesen!" „Doch, doch! Ich bitte dich, lies weiter," bat er. Sie senkte den Kopf nnd begann nach einer Weile ven neuem: „Der Diener tat, wie ihm befohlen war. Siebenschün glaubte, der Königssohn »volle ein Stück Arbeit bei ihr bestellen und ging daher zur großen Eiche; da sagte ihr der Prinz, daß er sie lieb habe um ihrer großen Sitt samkeit und Tugend willen und sie zur Frau nehmen »volle. Siebenschün aber sagte: „Ich bin ein armes Mädchen, und du bist ein reicher Prinz; dein Vater würde sehr böse werden, wenn du mich wolltest zur Frau nehmen." Der Prinz drang aber noch mehr in sie, und da sagte sie endlich Ja und kam nun jeden Abend zu der Eiche und zu dem Königssohne — auch sollte der König noch nichts davon erfahren. Aber da war am Hofe eine alte häßliche Hofmeisterin, die lauerte dem Königs sohne auf, kain hinter sein Geheimnis und sagte es dem König an. Der König ergrimmte, sandte Diener aus und ließ das Häuschen, worin Siebenschöns Eltern wohnten, in Brand stecken, damit sie darin verbrenne. Das geschah aber nicht, sondern Siebenschön sprang, als sie das Feuer merkte, heraus und alsbald in eine» leeren Brunnen hinein, ihre Eltern aber, die armen alten Leute, verbrannten in dein Häuschen. Da saß nun Siebenschön drunten im Brunnen und grämte sich und weinte sehr, konnt's aber zuletzt doch nicht auf die Länge drunten im Brunnen aushalten, stieg herauf, fand iin Schutt des Häuschens noch etwas Brauchbares, machte es zu Geld und kaufte dafür Mannskleider, ging als ein frischer Bub an des Königs Hof und bot sich ^u einem Bedienten an. Der König fragte den jungen Diener nach dem Namen, da erhielt er die Antwort: „Unglück!" und dem König gefiel der junge Diener also wohl, daß er ihn gleich annahm und auch bald vor allen andern Dienern gut leiden konnte. Als der Königssohlt erfuhr, daß Siebenschöns HäuS- chen verbrannt war, wurde er sehr traurig, er glaubte nicht anders, als Siebenschön sei mit verbrannt, und der König glaubte das auch und wollte haben, daß sein Sohn nun endlich eine Prinzessin heirate, und dieser mußte nun eines benachbarten Königs Tochter freien. Da mußte auch der ganze Hof und die ganze Dienerschaft mit zur Hoch zeit ziehen, und für Unglück war das am traurigsten, es lag ihm wie ein Stein auf dem Herzen. Er ritt auch mit hintennach, der letzte im Zuge, und sang wehklagend mit klarer Stimme: „Siebenschün war ich genannt, Unglück ist mir jetzt bekannt." Das hörte der Prinz von weitem, spornte sein Pferd und ritt wie ein Offizier längs des ganzen Zuges in ge strecktem Galopp hin, bis er an Unglück kam und Sieben schön erkannte. Da nickte er ihr freundlich zu und jagte wieder an die Spitze des Zuges und zog in das Schloß ein. Da nun alle Gäste und alles Gefolge im großen Saal versammelt waren und die Verlobung vor sich gehen sollte, da sagte der Prinz zu seinem zukünftige»: Schwiegervater: „Herr König, ehe ich mit eurer Prinzessin Tochter mich seierlich verlobe, wollet mir erst ein kleines Rätsel lösen. Ich besitze einen schönen Schrank, dazu verlor ich vor einiger Zeit den Schlüssel, kaufte mir also einen neuen; bald darauf fand ich den alten wieder. Jetzt saget mir, Herr König, welches Schlüssels ich mich bedienen soll?" — „Ei, natürlich des alten", antwortete der König, „das Alte soll man in Ehren halten und es über Neuem nicht hint- ansetzen." — „Sehr wohl, Herr König", antwortete nun der Prinz, „so zürnt mir nicht, wenn ich eure Prinzessin Tochter nicht freien kann, sie ist der neue Schlüssel und dort ist der alte." Und nahm Siebenschön an der Hand und führte sie zu seinem Vater, indem er sagte: „Siehe, Vater, das ist meine Braut." Aber der alte König ries ganz erstaunt und erschrocken aus: „Ach, lieber Sohn, das ist ja Unglück, mein Diener!" Und viele Hofleute schrieen: „Herrgott, das ist ja Unglück!" — „Nein", sagte der Königssohn, „hier ist gar kein Unglück, sondern hier ist Siebenschön, meine liebe Braut". Und nahm Abschied von der Versammlung und führte Siebenschön als Herrin und Fran auf sein schönstes Schloß". Sie hatte immer weiter und weiter gelesen, ohne auch nur einmal von dem Buche aufzusehen. Jetzt klappte sie das Buch zu und blickte Grunow an. „Ich habe damals gar nicht gewußt, wie viel Poesie in solch einem Märchen steckt". „Ja, ja, es steckt viel Poesie in solch einen» Märchen", sagte er in einem Tone und mit einein Blicke, als ob er an ganz, ganz etwas anderes denke... X Hohlfeld stand ans einem Brettergerüst, so hoch, daß er mit dem Kopse beinahe an die Decke seines Ateliers stießt und warf zornig große nafse Tonklumpen nach dem bärtigen Haupte der Hünenfigur vor ihm. Er glich selbst ein wenig dem langen Ritter mit Bein- »chienen, Rittgkragen und Arinkacheln, an dem er da seit Monaten herummodelte. Der Ritter stellte einen alten sächsischen Herzog dar, der den Brunnen eines Städtchens im Erzgebirge zieren sollte. Hohlfeld hatte als erster Sieger in einem Wettbewerb den Auftrag erhalten, den tapferen Sachsenheerführer in doppelter Lebensgröße auf erstehen zu lassen. Das war eine Arbeit für ihn ge wesen, so recht nach feinem Herzen. Er war kein süß licher Weiberschönheitsverherrlicher. Aber da, wo es galt, Kraft zu verkörpern, da war er am Platze. So knorrig wie er selbst stand der Recke vor ihm, den Dolch im Gürtel, das Schwert zur Linken, auf den mächtigen Zweihänder gestützt. Rascher als er gedacht, war die Arbeit vorwärtsgeschritten — jetzt, plötzlich, seit ein paar Wochen stockte sie, rückte sie nicht von der Stelle. Es war etwas im Ausdrucke dieses Gesichts, etwas in diesen eckigen Zügen, etwas in diesen finsterblickende»» Augen, das ihm nicht gefiel. Das anders sein sollte und nicht anders werden wollte. Es sollte ruhige Würde sein, männliche Gelassenheit, und es wurde immer und immer wieder Ingrimm. Vorgestern hatte er wütend den ganzen Kopf heruntergeschlagen und heute schauten ihn die näm lichen Züge, die selben drohenden Augen wieder an. Es war zum Verzweifeln. Er schleuderte den letzten Ballen, den er in der Hand hielt, dem Herzoge ins Gesicht, daß es laut klatschte, und wandte sich nach einem bärtigen Manne in blauer Bluse, der neben dem Tonmodell stand. „Es ist gut für heute, Riffel." Der Mann kletterte die Leiter hinab, Hohlfeld folgte ihm. Hohlfeld legte den Spatel aus der Hand, setzte sich auf eine Kiste und blickte finster nach dem widerspenstigen Kopfe des fürstlichen Kämpen in der Höhe droben. Riffel zog eine Jacke an und setzte seine Mütze auf. „Adjee." Hohlfeld antwortete nicht. Er war ganz in Ge danken versunken. Sein Blick war langsam herabgeglitten. Die Hände zwischen den Knien ineinander gefaltet, vornübergebeugt saß er da und starrte vor sich hin auf die fleckigen Dielen. Dämmerung erfüllte allmählich den hohen Raum, es war, als ob die Schatten des hereinbrechenden Abends sich bis in die Seele des Träumenden senkten. Er seufzte tief. (Fortsetzung folgt.) Kunst und Wifienschast. Refidenztheater. (Leo Walter Steins „DaS Leutnantsmündel.") Die Sommerzeit des Residenz theaters ist gestern — nicht eben verheißungsvoll — mit einem für Dresden neuen Werke von Leo Walter Stein eröffnet worden, das — es führt den Titel „DaS Leutnantsmündel" — sich etwas anmaßend „Lust spiel" nennt. In Wahrheit ist's ein Mittelding zwischen Schwank und Posse, banal in seiner Handlung, banal in der Charakteristik seiner Figuren und banal selbst in seinen» Dialog — eine Allerweltsarbeit, der inan die schnelle Voll endung in jedem Akt und jeder Szene ansieht. Wenn die Direktion des Residenztheaters nicht bessere Novitäten darzubieten hat, so wäre es rätlicher, sie ginge einmal kritisch die ältere Lustspiel- und Schwankliteratur durch und veranstaltete Aufführungen von älteren bewährten Arbeiten an Stelle solcher neuen, die ohne allen Reiz sind. Das Werk wurde mit Fleiß gespielt; hervorzuheben ist aber keine der schauspielerischen Leistungen, selbst die von zwei neugewonnenen Mitgliedern des Ensembles nicht. Nur daß beide, Hr. Hermann Wieland in der Rolle eines ostpreußelnden Gutsbesitzers und Hr. W. Hanschmann in der Rolle eines jüdischen Agenten, wiederholt — wohl weniger durch ihre Schuld als viel mehr durch die Schuld des Autors — zum übertreiben im Spiel verleitet wurden, bemerkte man. Hoffentlich präsentieren sie sich in künftigen Aufgabe»» vorteilhafter, künstlerisch ansprechender. W. Dgs. Wissenschaft. Aus Da,»zig wird gemeldet: Unter dem Vorsitz des früheren preußischen Staatsministers v. Möller trat gestern -der Deutsche Verein für Volkshygiene in, Sitzungssaale des Landeshauses zu seiner diesjährigen Tagung zusammen. Als Vertreter der bayerischen Medizinalverwaltung ist Polizeiarzt vr. Weide (München), als Vertreter der Vaterländischen Frauen- vereine Oberverwaltungsgerichtsrat vr. Kühn (Berlin) im Auftrage des Vereins für Volks- und Jugendspiele in Deutschland Geh. Hofrat Prof. vr. Raydt (Hannover) er schienen. Der Vorsitzende Staatsminister v. Möller be grüßte zunächst die Vertreter der staatlichen und städtische», Behörden und erteilte sodann dem Geh. Medizinalrat Prof. vr. Ewald (Berlin) das Wort zu seinem Festvor trage über: Die „Hygiene des Blutes". Ain Nachmittag sand eine Besichtigung des neuen städtische»» Kranken hauses, der städtischen Armenanstalt und des Genesungs heims der Laudesversicherungsanstalt statt. — Der Zentralverein Deutscher Zahnärzte trat gestern in Jena zu seiner 51. Jahresversamm lung zusammen. Es sind zahlreiche Mitglieder aus allen Teilen Deutschlands anwesend. Den Vorsitz führt Prof. Walkhoff-München. Bei Eröffnung der Versammlung hielten u. a. der Prorektor der Universität Jena, Geh. Rat Linck und der Oberbürgermeister vr. Singer Be grüßungsansprachen. In den wissenschaftlichen Sitzungen werden 35 Vorträge gehalten, die z. T. mit Demon strationen verbunden sind. Jin Bolkshaus ist eine Aus stellung von Bedarfsartikeln für die zahnärztliche Praxis eingerichtet »vorden. Die Tagung dauert bis Sonntag, sie wird mit einem Fortbildungskurs»-) abgeschlossen. — Aus Berlin wird gemeldet: Der bekannte Hygieniker Geh. Mediziualrat Prof. vr. Rubner will demnächst seinen Lehrstuhl für Physiologie an der hiesigen Universität aufgeben, um sich rein wissenschaftlichen Forschungen zu widmen. Bon einem Wohltäter ist dem Kaiser Wilhelm-Institut eine erhebliche Summe zur Verfügung gestellt worden, deren Erträgnisse zur Errichtung einer Abteilung für hygienische nnd physiologische Forschung verwendet werde»» sollen. Znm Leiter dieser Abteilung ist angeblich Prof. vr. Rubner ausersehen. Literatur. Das Königl. Hoftheater in Stuttgart hat zur gleichzeitigen Uraufführung mit dem Kleinen Theater in Berlin Ludwig Thomas neuestes Werk, das dreiaktige Schauspiel „Magdalena" erworben. Die Uraufführung in Stuttgart wird zu Beginn der kommenden Spielzeit in den» neu zu eröffnenden kleinen Hause erfolgen. — Das Wilhelm Raabe-Denkmal in Hildes heim soll ai» der Godehardikirche zur Ausstellung kommen. Die Kosten des Denkinals, das in Brunnenform geplant ist, betrage»» rund 15 000 M. und sollen durch Samm lungei» aufgebracht werden. Der Denkmalsausschuß hat in seiner letzten Sitzung beschlossen, die Ausführung des Brunnendenkmals Prof. Ernst Müller-Braun schweig in Charlottenburg zu übertragen, dem Schöpfer des Jahn-Denkmals in Worms, von dessen Hand auch die Büste Wilhelm Raabes im Braunschweiger Museum und das Raabe-Denkmal auf dem Großen Sohl herrührt. Bildende Kunst. Aus Halberstadt wird uns ge schrieben: Der Gedanke der Denkmalspflege hat erfreu licherweise i»» letzter Zeit in weiten Kreisen zahlreiche An hänger gesunde»», so daß der „Deutsche Denkmalspflege tag", der voin 18. bis 22. September d. I. hier stattsindet, allgemein großes Interesse finden wird. Auf dem Pro gramm der Tagung stehen folgende Referate: Prof. E. Högg-Dresden „Moderne Ladeneinrichtungen in alten Häusern"; Prof. vr. Meier-Braunschweig „Halberstadts Kunstdcnkmäler"; Museumsdirektor Prof. vr. Koetschau- Berlin „DenkmalShaudcl uud Denkmalspflege"; Tombau- nieister Hertel-Cöln „Auswahl und Behandlung der Bau stoffe für Wiederherstettungsarbeiten"; Geh. Oberbaurat Neuester Zcblsxer: krvLstokkmöbel (D. I» k.). Lloeant — prallt,»«!» — Hillis. 123 Oie „kaunZkunst" bietet krautleuteu beim Lmlmut ikirvr Wobnunzsoillr ektuoz ckio größten Vorteile clureb erstklassige Qualität — eigene kadeikation — ullübertrokkeae uaci kreise.