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ZUR EINFÜHRUNG Spieldauer: ca. 50 Minuten Es erweist sich heute, daß Mahlers 1. Sinfonie von einer beispiellosen Kühnheit ist. Dazu gehört auch die ursprüngliche Fünfsätzigkeit, über welche sich die Kritik ebenfalls völ lig verständnislos mokierte. Ob die spätere Unterdrückung des „Blumi- nenkapitels", eines zwar schon ty pisch Mahlerschen, aber etwas nostalgischen und sicher schwä cheren Satzes, für die jetzige Werkgestalt von Vorteil war oder nicht - man muß sie anerkennen. Die Reduktion auf die klassische Vierzahl nimmt indes dem merk würdigen Sinfoniegebilde nichts von seiner Kühnheit. Mahler schreibt für die Einleitung des ersten Satzes vor: „Wie ein Naturlaut". Fallende Quarten - dieses Intervall ist für alle vier Sät ze konstitutiv - imitieren Kuckucks rufe. Der „Normalklang" wird durch ein irritierendes Streicherfla geolett auf dem 56 Takte langen Orgelpunkt auf A verfremdet. Was Mahler hier beschwört, ist nicht mehr Naturidylle: Es ist die ent fremdete Natur. Idyllisch dagegen der eigentliche Hauptteil des Sat zes. Hier wird ein ganzes Lied - ohne Text - in die sinfonische Struk tur integriert. Es ist das zweite von Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen" - entstanden noch vor 1 885. Was aber auf der Höhe des Satzes - in der Durchführung - sich zuträgt, ist von ganz anderer Art und wird eigentlich erst im Nach hinein verständlich. Die Musik dehnt sich wie ein Körper und lädt sich mit Erwartungsmomenten auf, bis gleichsam von außen, ein neu er Charakter durchbricht. Diese kompositorische Idee hat Konse quenzen. Mahler verschmäht hier den üblichen Themen-Dualismus. Ein am Anfang der Durchführung zuerst in den Celli auftauchendes Motiv „bildet" sich, wird als „Mo dell" durchgeführt und beherrscht schließlich diesen Teil. Eine wörtli che Wiederholung der Exposition wäre unmöglich: Nach der großen Fanfare (dem Zielthema, das vor her nur zu Beginn der Durch führung in den Hörnern erklang) folgt die drastisch verkürzte Repri se in immer lebhafterem Tempo. Ausnahmsweise harmlos gibt sich das bäuerisch-derbe Scherzo, des sen Trio zumal dem bewunderten Vorbild Bruckner verpflichtet ist. Wie im ersten Satz existiert auch hier ein Liedmodell bei Mahler selbst. Es ist der schon 1 880 ent standene Gesang „Hans und Gre te", Mahlers frühester Ländler. Nach diesem Scherzo schreibt die Partitur eine „ziemliche Pause" vor. Wie Mahler Bruno Walter mit geteilt hat, ist hier ein „katastro phenartiges Ereignis" vorgefallen, „das den Ausgangspunkt für die Stimmung des Trauermarsches und des Finales darstellt". Hier im Trau ermarsch wird Unvereinbares ver eint, sind die Kontraste kaum ver mittelt, wechseln die Tempi ruckar tig. Am Anfang und am Ende der alte Kanon „Bruder Martin, schläfst du noch", zunächst zu hören von einem gedämpften Kon trabaß-Solo in hoher Lage, beglei-