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4 Wissenschaft 10. September 1976 UZ/31 FORSCHER zwischen MEER und BODDEN Eine Reportage von Dr. Karla Schröder, Mitglied des UZ-Redaktionskollegiums albinsel Zingst — schmaler Landstrich zwischen Flachküste und Boddenniederung am Ostende des Fischland-Darß-Gebietes. Als Ostseebad, das größte der Halbinselgruppe, zieht es Jahr für Jahr Tausende Urlauber an mit dem eigentümlichen Reiz seiner langgestreckten Dünen, hohen Kiefern, seines weiten, nahezu buchtenfreien Strandes. Doch Entdeckerfreuden bietet diese flache Landschaft an der Ostsee nicht nur allein den Erho lungssuchenden. Zingst hat sieh auch einen Namen gemacht als For- schungs- und Ausbildungsort für Meeresforscher, und solche, die es wer den wollen. Wer zum Ortsausgang von Zingst, Richtung Miggenburg wan dert, erreicht ein rotes Backsteingebände mit schwarzgoldenem Schild: Ma ritimes Observatorium der Sektion Physik der Karl-Marx-Universität Leipzig. Hier, bei Kustos Dr. Hans-Jürgen Schönfeldt und seinen neun Mitarbeitern, bin ich einen Tag zu Gast. H Hinter Verträumtheit wartet die Arbeit 28. Juli: Scharfer Nordostwind und tosende. Schaumwellen am Strand vor dem Maritimen Observa torium. Das kahle Gestänge der Meßbrücke im Meer, der steilaufra gende Stahlturm und die verschie densten Gerätetypen kontrastieren reizvoll mit der Verträumtheit der sonnenüberfluteten Uferpromenade. Doch Dr. Schönfeldt und seinen Be gleitern steht nicht der Sinn nach romantischen Betrachtungen. Skep tisch blicken sie auf die vorn Sturm gerüttelten Meßmasten: Tatsächlich' einige stehen schief. Das gibt unge naue Werte. Die Masten müssen ge richtet, die Geräte .überprüft Wer den. Rasches Erklettern des 15 m hohen Meßturmes, der. bedenklich im Winde- schwankt und klappert. Oben werden die Geräte,, für , die Sonneneinstrahlung gewartet. Auf der langen ins Meer ragen den Brücke und anderen Meßpunk ten, die auch auf der Wiese hinter dem Observatoriumsgebäude aufge stellt sind, werden Parameter über, Luftfeuchtigkeit, Windstärke und -richtung, Niederschlagsmenge, Luft- und Wassertemperatur erfaßt. Die Werte werden elektronisch übertragen und im Gebäude Von zahlreichen Meßschreibern aufge zeichnet. Tag und Nacht erfüllen die Schreiber und Meßplätze, das an sonsten recht anheimelnde, kleine Haus mit ihrem gleichmäßigen Tik- ken und Rasseln. Im Bodden rüstet sich der For schungskutter „Ikarus“ ) zur Fahrt. Einst als Feuerwehrboot erbaut und für Forschungszwecke umgerüstet, zu einem großen Teil von Wissen schaftlern und Technikern selbst, hilft es, Werte über den Wasseraus tausch zwischen Meer und Bodden zu erhalten und den Salz- und Nährstoffgehalt des Wassers zu. er mitteln. So wurde u. a. festgestellt, daß sich der Salzgehalt im Bodden wasser allmählich erhöht, bedingt durch häufigere Salzeinbrüche von der' Ostsee her, Sonden, die an ver schiedenen Stellen des Boddens ver ankert . sind, übermitteln aus der Meerestiefe Werte zum Datenschrei- ber im Meßraum des Schiffes. An Deck steht ein ganzes Bataillon von Flaschen, in die Wasserproben von verschiedenen Stellen des Boddens eingefüllt werden. Sie werden im chemischen Labor des Obervatoriums analysiert. KMU - ein Domizil für Meeresforschung AU das sind notwendige Vorarbei ten für die Grundlagenforschung der Arbeitsgruppe Ozeanologie der Sektion Physik der KMU. Ihr For schungsthema heißt: „Wechselwir kungen zwischen Meer und Atmo sphäre im Ostseeraum unter den Bedingungen der Küstennähe und der Kontaktzone zwischen Land und Meer.“ Eine Arbeitsrichtung, die auch international mit hohem Aufwand betrieben wird. Das Ma ritime Observatorium der Karl- Marx-Universität ist alleinige Ein richtung in der DDR, in der über die Wechselwirkung zwischen Meer und Atmosphäre geforscht und ge lehrt wird,. Ein Teil der Arbeits gruppe wirkt in Leipzig am Fachbe reich Geophysik der Sektion Physik. Hier findet das Team mit Elektro niklabor und Werkstatt eine ausge zeichnete technische Basis. Geleitet wird die gesamte Gruppe Ozeanolo gie von Dozent Dr. sc. Peter Hupfer. Wieso wurde ausgerechnet die Karl-Marx-Universität, die in der Leipziger Tieflandbucht recht fern der rauhen See liegt, ein Domizil für Meeresforschung? Dr. Hupfer über den Werdegang des Observato riums: Als in den 50er Jahren für das Hochschulwesen die Aufgabe stand, eine Pflegestätte für die phy sikalische Meereskunde (Ozeanolo gie) und maritime Meteorologie zu schaffen, fiel die Wahl auf die Karl- Marx-Universität, vor allem des-, halb, weil damals bereits alle Ar beitsrichtungen der Geophysik dort vertreten . waren und langjährige Traditionen den guten Ruf des viel seitigen Geophysikalischen Instituts gefestigt hatten. Das erwies sich als günstiger Nährboden für die Ent- wicklung der Ozeanologie. 1957 wurde das Maritime Observatorium Zingst als Bestandteil des Geophysi Forschungskutter „Ikarus" auf Fahrt. An verschiedenen Stellen des Boddens ent nehmen Wissenschaftler Wasserproben, die auf Salz- und Nährstoffgehalt geprüft werden. Sonden, die im Meeresboden verankert sind, übermitteln Werte zum Da- tenschreiber im Meßraum des Schiffes. kalischen Instituts der KMU ge gründet. Es spricht für die Weitsicht seiner Begründer, der Professoren Schneider-Carius und Bruns, daß die damals gestellten Aufgaben auch heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Sie bestehen in der Ausbil dung von Nachwuchskadern für die Ozeanologie und Wahrnehmung von Lehraufgaben für solche Wissen schaftsgebiete, die Ozeanologie im Nebenfach betreiben; in der Gewäh rung von Arbeits- und Studienmög lichkeiten auch für Angehörige an derer Hochschulen der DDR. Sie be stehen desgleichen in profilierten, volkswirtschaftlich bedeutsamen Forschungsarbeiten ' im Bereich der Küste und der territorialen Gewäs ser. „Das (Observatorium wurde am Anfang mit sehr bescheidenen Kräf ten entwickelt“, erinnert sich Dr. Hupfer. „Während die Lehraufgaben bereits ab 1957 für die Universitäten Leipzig und Berlin in Angriff ge nommen wurden, begann 1960 die planmäßige Grundlagenforschung. Sie befaßte sich zunächst mit dem Wasserhaushalt der Darßer Bodden kette und erbrachte grundlegende, in der Praxis vielfach genutzte Ergeb nisse. Dazu konnte ein seegehender Forschungskutter angeschafft wer den, der Vorgänger des heutigen .Ikarus’. Nach .und nach wurden die technischen Ausbauten abgeschlos sen : Meßturm, Meßhütte am Strand, 80 m lange Seebrücke; festes Kabel ¬ system. Das war 1963-64. Von da an wurde der Schwerpunkt der For schung auf die ufernahe Zone des Meeres verlagert.“ Später profilierte sich die For schung weiter. Der Problemkreis „Wechselwirkung zwischen Meer und Atmosphäre unter den Bedin gungen der Küstennahe“ kristalli sierte sich heraus. Auf diese Weiter entwicklung hatte auch die Grün dung der Kommission Meeresfor schung und -nutzung der DDR posi tiven Einfluß, die bereits 1968 die Arbeit des Observatoriums als sehr effektiv und volkswirtschaftlich be deutsam bewertete. Dieses Jahr war für das Observatorium auch hin sichtlich seiner internationalen Aus strahlungskraft bedeutsam. Es be gann die gemeinsame Arbeit mit so wjetischen, polnischen und bulgari schen Wissenschaftlern in Zingst. Sie leiteten ihre- Kooperation ein mit der Forschung auf dem Gebiet der „turbulenten Ausbreitung von Beimengungen“ (für den Laien: Ver schmutzung!) im Meer. Seit der Einbindung der Arbeits gruppe in die Sektion Physik am 1. 3.1971 erzielte die Arbeitsgruppe weitere spürbare Fortschritte. Die breitere technische Basis erlaubte der Arbeitsgruppe und damit dem Observatorium, das Spektrum ihrer Forschung vielseitiger zu gestalten. Zusätzliche Ausbildung für viele Studenten Hauptaufgabe einer Universitäts einrichtung ist die -Lehre, und da von macht auch das Maritime Ob servatorium in Zingst keine Ab striche. Seit- Bestehen wurden knapp 1000 Studenten in mehrwö chigen Kursen ausgebildet. Die Wirksamkeit in der Lehre geht weit über die Grenzen der Karl-Marx- Universität hinaus. Studenten aus Berlin, Rostock, Dresden, Freiberg von den verschiedenen Fachrichtun gen traten die Reise nach Zingst an, um sich eine zusätzliche theoreti sche Ausbildung in Ozeanologie zu holen und in Spezialpraktika die di versen Meßgeräte und -methoden handhaben zu lernen. Die Studenten bestätigen immer wieder — man kann es dem lustigen dicken Gäste buch auch entnehmen —, daß Zingst neben Grundkenntnissen und -fer- tigkeiten in Meereskunde anhand der gewonnenen Daten interessante Rückschlüsse auf ihr eigentliches Fachgebiet erkennen läßt und das interdisziplinäre Denken anregt. Im großen Umfang erfüllten die Wis senschaftler Lehraufträge an vielen Hochschulen der DDR. „In Zukunft ist vorgesehen“, äußert sich Dr. Hupfer zur Perspektive der Ausbil dung im Observatorium, „den ge samten Lehrblock Ozeapologie mit Grundvorlesung, Praktikum, Arbei ten auf See, selbständiger wissen schaftlicher Arbeit jährlich ein- oder mehrmals jeweils für mehrere Wochen in Zingst durchzuführen.“ Dafür soll die aufwendige Wahrneh mung von Lehraufträgen an ande ren Hochschulen eingeschränkt wer den. Die im Observatorium bearbei teten Themen bieten auch die Mög lichkeit, Einzel- und Gruppenprak tika mit spezieller Zielsetzung durchzuführen. Seitdem das RGW-Komplexpro gramm der Erforschung der chemi schen, biologischen und physikali schen Prozesse im Meer bedeutende Impulse verliehen hat, vervielfachte sich auch die internationale Koope ration seitens der Meeresforscher der KMU. Ihre Partnereinrichtun gen sind vor allem das Institut für Ozeanologie der Akademie der Wis senschaften der UdSSR, das Institut für Wasserbau und das Institut für Geophysik der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Gemeinsame Publikationen und wissenschaftliche Tagungen fanden internationale Be achtung. Weithin bekannt wurden die For- schungsexperimente der RGW-Län der EKAM (Einflüsse der Küste auf Atmosphäre und Meer), mit denen sich bereits zwei Jahreszahlen ver binden: 1973 und 74, Nachdem 1973 das Zingster Observatorium Gastge ber war, traf man sich ein Jahr spä ter im Herbst für acht Wochen in Lublatowo in der Volksrepublik Po len. Dort stand die Aufgabe, die dynamischen, Prozesse in der ufer- nahen Zone bis zu sechs Kilometer vom Ufer entfernt zu erforschen. Wasserströmung, Wellen, Brandung, die Bewegung des aufgewirbelten Sandes .waren unter anderem Ge ¬ genstand der Untersuchung. Die DDR hatte dabei vor allem die ge samten Wind- und Temperaturver hältnisse sehr genau zu registrieren. Die Wissenschaftler der befreunde- ren Länder erstreben, bei den in strumenteilen und rechnerischen Methoden künftig zu standardisier ten' Verfahren zu kommen, um die Vorteile der Wissenschaftskoopera- tion noch effektiver nutzen zu kön nen. Besonders eng ist die Zusam- meharbeit mit der UdSSR, was sich in den gemeinsamen Expeditionen KASPEX 75 und 76 im Kaspischen Meer äußerte. Ein Weiteres Küsten experiment steht für 1977 in Aus sicht. Diesmal soll es in Warna stattfinden, so daß auch Experi mente im Schwarzen Meer vorge nommen werden können. Probleme, die auf den Nägeln brennen Die Arbeiten der Meeresforscher, so erfahren wir von Dr. Hupfer und Dr, Schönfeldt, sind volkswirt schaftlich notwendig,. um den Indu- strialisierungspiozeß, der immer stärker auch in den Küstenregionen Fuß faßt,, in, der Wechselwirkung mit der natürlichen. Umwelt beherr schen zu lernen. Es bleibt nicht ohne Einfluß auf. See und Strand, daß die Küste immer, stärker bebaut wird, daß neue Häfen, Industriean lagen, Kernkraftwerke . entstehen. Über .200, Millionen Tonnen Han delsgüter passieren, jährlich den Seeweg. Jährlich werden in der Ostsee etwa 800 000 Tonnen Fisch gefangen. Nahezu drei Millioneh Menschen verbringen jährlich ihre Ferien an der insgesamt 1470 km langen Ostseeküste der DDR. Die Direktive zum Fünfjahrplan sieht weitere Tausende von Ferienplätzen vor. Wie wird sich das auf Meer und Küste auswirken? Der Schutz unserer Meere vor Verunreinigun gen, der Einfluß der vielfältigen Pro zesse zwischen Küste und Meer auf das Fischereiwesen, die Auswirkun gen auf die ufernahe Zone, die Ver änderungen am Strand (bekanntlich geht ah einigen Küstenstellen der Strand zurück, bei Zingst sind es jährlich sogar 90 cm) — all das sind aktuelle und brennende Probleme, zu deren Lösung auch die Ozeanolo- gen der KMU. mit ihren Partnern einen ganz speziellen Beitrag lei sten. „Unsere Ergebnisse sind unter anderem gefragt“, so Dr. Hupfer, „Wenn Bohrinseln im küstennahen Meer gebaut werden sollen.“ Die Kenntnis der Vorgänge des Energie austausches an der Grenzfläche Ozean — Atmosphäre gestattet prä zisere Wetteranalysen. Auch werden Varianten erforscht, um zu minima ler Schädigung bei Einleitung kom munaler Abwässer in das Meer zu kommen. Übrigens ist festzustellen, daß die sozialistischen Anliegerstaa ten den weitaus geringsten Anteil an der Ostseeverschmutzung haben. Erst vor kurzem übergab Dr. Hupfer der Wasserwirtschaftsdirektion Küste eine abgeschlossene For schungsarbeit, die einen Beitrag zur Verhütung der Verschmutzungsge fahr darstellt. Die Arbeit befaßt sich mit den Vermischungsprozessen in der ufernahen Zone am Beispiel von Zingst und entwickelte aus den Un tersuchungsergebnissen ein soge nanntes Advektionsmodell; das ist ein Modell, das die Besonderheiten und Grundzüge der küstennahen Strömung erfaßt. _„Esi ermöglicht, Sie mittlere Wasserbewegung in Ufernähe aus leicht zugänglichen Daten äußerer Einflußfaktoren ohne großen Aufwand zu bestimmen“, er klärt der Autor. In der Praxis wer den solche Kenntnisse über die Strömungsverhältnisse benötigt, um die Ausbreitung von Beimengungen (also Verunreinigungen) in diesem Gebiet beurteilen zu können. Das Modell gestattet es, die wesentli chen Züge und Richtungen der Aus breitung von Beimengungen zu er kennen. Damit wurde auch eine Komponente des Selbstreinigungs vermögens der See näher bekannt. So wurden Ausbreitungsformeln entwickelt, die bei der Abschätzung von Beimengungen praktisch ange wendet werden können. Die Arbeit zielt auch darauf hinaus, künftig die Ausbreitung dieser Beimengungen prognostisch angeben zu können. Werden die von den Wissenschaft lern erkannten Ausbreitungsbedin gungen berücksichtigt, wird es mög lich sein, notwendige Investitionen zielgerichteter und effektiver einzu setzen. Wer das Maritime Observatorium in Zingst kennenlernte und den Ort auf der schnurgeraden Seestraße wieder verläßt, sieht im herben Reiz der flachen Küstenlandschaft nicht mehr allein den Inbegriff für Urlaub und Erholung. Hier arbeiten unsere Wissenschaftler daran, daß Schönheit und Nutzen der Ostsee und ihre Ufer erhalten bleiben — zur Freude der Sommergäste, zum Gewinn für uns alle. Ein polnischer Kollege während des Küstenexperiments „Ekam 74" bei Meßarbei ten (Mitte rechts). Am Ortsausgang von Zingst liegt das Maritime Observatorium der Sektion Physik der KMU. Fotos: Observatorium/HFBS/Schröder