Volltext Seite (XML)
Sneh Gedanken zum neuen Jahr Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentinnen und Studen ten! Zu Beginn des Jahres 1990 richte ich in schicksalhafter Stunde für unser Land und für unsere Universität die dringliche Bitte an Sie, alles zu tun, daß mit Besonnenheit und Augen maß der Weg der Demokratisie rung friedlich fortgesetzt und un umkehrbar gestaltet werden kann. Ich danke Ihnen dafür, daß durch Ihr verantwortungsbe wußtes Wirken in den Hörsälen, Laboratorien, Kliniken, Biblio theken, Werkstätten, Mensen, Studentenwohnheimen, Lehr und Versuchsstationen, Betriebs techniken, Sektionen und Insti tuten die Arbeitsfähigkeit der Universität unter zunehmend komplizierten Bedingungen ge währleistet und erste Maßnah men bei der Demokratisierung der Universität und der Bestim mung ihrer Autonomie in einer sich erneuernden Gesellschaft eingeleitet werden konnten. Ich verbinde meinen Dank mit allen guten Wünschen für ein friedvol les Neues Jahr für Sie und Ihre Familien; ich schließe in diesen Dank und in diese Wünsche un sere ausländischen Studierenden, Aspiranten und Gäste mit be sonderer Herzlichkeit und Auf merksamkeit ein. Lassen Sie mich resümieren: Unsere Universität hat sich durch ihr öffentliches Wirken ebenso wie durch interne Dis kussion und Standpunktbildung der Verantwortung gestellt, die ihr aus der durch die Volksmas sen friedlich erzwungenen 'Venäe zur Demokratisierung und Erneuerung der Gesellschaft erwächst. Dr. Zimmermann von unserer Sektion Theologie gehörte zu den sechs Leipziger Bürgern. / die in entscheidender Stunde Gewissen und höchsten persönlichen Mut demonstriert haben. Dafür ge bührt ihnen Dank und Respekt. Zahlreiche Persönlichkeiten der Universität haben im Dialog ih ren Standpunkt begründet. Die Sonntags-Foren am Karl-Marx- Platz wurden durch uns mitge staltet und durch einen „poli tischen Frühschoppen“ am 15. Oktober in der Moritzbastei eingeleitet. Tausende Mitarbeiter und Studenten haben durch ihr Mitwirken an den Demonstra ¬ tionen Anteil am friedlichen Weg der Erneuerung. Jeden Mon tag ständen unsere Hörsäle für Tausende Bürger unserer Stadt offen, und Hochschullehrer, Mit arbeiter und Studenten haben un ter Beweis stellen können, daß sie über konzeptionelle Vorstel lungen zu Rechtsstaatlichkeit, De mokratie, Ökonomie, Ökologie, Völkerrecht, Gesundheitswesen. Kultur, Medienvielfalt und Volksbildung verfügen. Aus allen Kreisen der Univer sität gab und gibt es Meinungen und Standpunkte zum akade mischen Leben und zur. grund sätzlichen Veränderung der Stel lung der Wissenschaft in unse rem Land. Sie sind mehrheitlich dadurch gekennzeichnet, allen Bedingungen an unserer Univer sität dafür freien Raum zu ge ben, daß wissenschaftliche und moralische Kriterien den ihnen unverzichtbar zukommenden Stellenwert erhalten und daß die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit unserer Alma mater zu gewähr leisten ist. Unser Konzil am 22. November 1989 faßte zahlreiche Wortmel dungen an der Universität zu sammen und verlieh dem Prozeß der Demokratisierung neue Im pulse. Das gilt besonders für Ent scheidungsfindung und -Vorbe reitung nach dem Kompetenz- und öffeuiiic'/miitsprinzip, ver bunden mit der ausschließlichen Bewertung nach Leistung. Kon sens wurde gefunden, in sechs Se natskommissionen unter breiter Mitwirkung der gesamten Uni versitätsöffentlichkeit unsere grundsätzlichen Positionen zu Autonomie der Universität und zur Demokratie an unserer Ho hen Schule, zu Studenten und Studium, zu Wissenschaft, For schung und zum wissenschaftli chen Nachwuchs, zur Rolle der Arbeiter und Angestellten sowie zur medizinischen Betreuung und klinischen Verantwortung zu bestimmen. Es geht dabei um Positionen, die mit Sicht auf ihre Langzeitwirkung der sorgfälti gen Bewertung und Beratung be ¬ dürfen, da sie die unverzicht baren Grundsätze der Universi tas litterarum und die sich dar aus ableitenden Aufgaben durch und für eine sich erneuernde Ge sellschaft betreffen. Die Senatskommissionen ha ben ihre Tätigkeit aufgenommen, und ich bitte Sie um Ihre aktive Mitwirkung, mit dem Ziel, auf dem Frühjahrskonzil 1990 ver bindliche Vorschläge für die in nere Struktur der Universität in der mannigfachen Vielfalt ihrer Lehr-, Forschungs-, Betreuungs-, Kultur- und Bedienungsfunktio nen und für ihre Einordnung in nationale und internationale Ent wicklungen unterbreiten zu kön nen. Kurzfristig wurden und wer den Maßnahmen eingeleitet, um alle administrativen Hemmnisse und ungerechtfertigten Eingriffe in Forschung, Lehre und andere Prozesse an der Universität auf zuheben. Dieser • Weg wird von einer generellen Verwaltungsre- form begleitet, Und es wird ange strengt gearbeitet, um Investi- tions-, Werterhaltungs- und Re konstruktionsmaßnahmen zu si chern und die vorliegenden kon zeptionellen Vorstellungen für die Gestaltung der materiellen Grundlage der Universität lang fristig zu garantieren. Wir stehen in unserem Land und an unserer Universität vor der Alternative: konsequente Si cherung der demokratischen Er neuerung oder chaotische Ent wicklungen mit unabsehbaren Folgen, die nicht nur die Zu kunft unseres Landes berühren würden. Ich bekenne mich ent schieden zur demokratischen Ent wicklung, zu Vernunft und Rea litätssinn. Ich bitte Sie um Ihre aktive Mitwirkung bei der Ge staltung der Zukunft unserer Universität, um Ihren persönli chen Beitrag, damit die Arbeits fähigkeit der Universität gewähr leistet bleibt, und ich bitte Sie um Ihre Vorschläge, wie wir hel fen können, unser Land aus der Krise herauszuführen und vor sonst drohendem Chaos zu be wahren. Als gewählter Rektor stehe ich in der Verantwortung, die ich nur auf der Basis Ihres Ver trauens und Ihrer Solidarität wahrnehmen kann und will. Besonnenheit und Augenmaß auf Weg zur Demokratisierung Von Prof. Dr. sc. Horst Hennig, Rektor der KMU Unerwünschte Neujahrsgrüße Eigentlich hatte ich noch ein paar Neujahrsgrüße erwartet, als ich un längst meinen Briefkasten leerte. Was ich statt dessen fand, verschlug mir allerdings die Sprache: „Herzli che Grüße von Herrn Schönhuber.“ Handzettel und Aufkleber; Unter schrift: R.E.P. Freundliche, aber be stimmte Worte, wie man sich meine/unsere Zukunft vorstellt. Nein, danke! Ich habe ganz anderes im Sinn als ein geeinigtes 4. Reich aller Deutschen, selbstverständlich — wie am Wochenende zu hören — als Mitglied der NATO. Nun mehren sich Stimmen, wegen der paar Reps solle man sich nicht so haben und ein ganzes Volk ver unsichern, schließlich könne jeder seine Meinung sagen, und das Volk habe mit den Faschos ohnehin nichts im Sinn. Richtig. Meinungs freiheit ist wichtig; Panik machen gilt nicht.. Aber sind es die Linken, die Antifaschisten, die diese verur sachen? Niemals hörte ich davon, daß ein Überlebender von Buchenwald einem Passanten eine (wenn auch „nur“ Schreckschuß)-Pistole an die Schläfe setzte, um an Wehrlosen sein Mütchen zu kühlen. Niemals hörte ich, daß Antifaschi sten Friedhöfe, Denkmale und Eh- tenhaine schändeten. Niemals hörte ich Internationali sten „Ausländer und Juden raus“ rufen. Hier endet für mich die Meinungs freiheit. Faschistische, neofaschistische und nationalistische Tendenzen sol cher Art Öls Lappalien und Über mut jugendlicher Randalierer abzu tun, hieße, einen verhängnisvollen Fehler zu wiederholen. Der zweite Weltkrieg ist kein Wahlpropagandatrick der „Roten“. Den hat es gegeben. Ich habe Bu chenwald, Lublin und Lidice gese hen. Und ich werde es nicht verges sen. Dr. ELKE LEINHOSS, Foto: HOLGER WILL Heute: Seite 2: Auch im neuen Jahr: „DAS FO RUM“ In eigener Sache: Neuer Kopf mit neuen Ideen Seiten 3 und 4: „Ohne Filter“ zum sechsten Mal: u. a. mit Walter Janka, Bautzen II, die Erste (Folge) Seiten 5 und 6: Der Studie letzter Teil und Ur laub bis an die Grenze Ausgepennt Abstimmung Auf Beschluß des Zentralrates wird es die FDJ ab 28. 1. 1990 re publikweit nicht mehr geben. Das ist die logische Konsequenz eines schizophrenen Alleinver tretungsanspruchs. WIR ABER BRAUCHEN EINE WIRKLICHE STUDENTISCHE INTERESSENVERTRETUNG! Die auf ihren Wahlkampf be dachten Parteien und Organi sationen werden sich unserer Probleme nicht annehmen. Darum müssen wir unsere Ge schicke selbst in die Hand neh men. DIESE CHANCE BIETET DER STUDENTENRAT! ABER NUR, WENN WIR AUSPENNEN! Es geht um studentische Mit bestimmung, vor allem bei: — Wohnen und Soziales — Stipendien — Studieninhalte und -ablauf — Immatrikulation und Exma trikulation — Disziplinarmaßnahmen — Prüfungen — Stuaentenfonds — Mensen und Klubs Darüber hinaus gibt es Be währtes zu verteidigen. Oder wol len wir in Zukunft z. B. auf sub ventionierte Preise, Tarife und Reisemöglichkeiten verzichten? Nicht, wenn wir zur Urabstim mung gehen. Unsere Stimme für den Studentenrat sichert unsere Mitbestimmung! WANN: 10. 1. bis 17. 1. 1990 WO: an den Wahlurnen der Sek tionen WER: Direktstudenten, For schungsstudenten, Fernstudenten und A-Aspiranten LASSEN WIR UNS DIESE CHANCE NICHT ENTGEHEN! Matthias Lechner (Rewi), Dirk Behr (Psych.), Ralf Eggers (Rewi), Jan Kuhlbrodt (Pol. ök.), Jens Behrens (Philo), Andre Jaroslawski (Gesch.) DIESE AUFFORDERUNG ZUR URABSTIMMUNG WIRD SEHR NACHDRÜCKLICH VOM REKTOR UND ALLEN STAAT LICHEN LEITUNGEN UNTER STÜTZT! u Rektoren wollen Gremium bilden Eine Initiativgruppe zur Grün dung einer Rektorenkonferenz der DDR tagte am 6. Januar 1990 an der Karl-Marx-Universität. Auf dieser Beratung, an der die Rektoren der Universitäten Berlin, Dresden, Greifswald, Halle, Jena. Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Magdeburg, Rostock so wie der Bergakademie Freiberg, der Technischen Hochschule Leipzig und der Handelshoch schule Leipzig teilnahmen, wur den Fragen der Autonomie der Hochschulen, der Demokratie an diesen Einrichtungen sowie der weiteren Entwicklung des Hoch schulwesens diskutiert und ge meinsame Standpunkte formu liert. Vorgesehen ist die baldige Kon stituierung einer Rektorenkon ferenz als eines freiwilligen, un abhängigen Gremiums von Hoch schulen der DDR. Wieder Fakultät (PI.) Nachdem der Rat der Sek tion Theologie der Karl-Marx- Universität seit der letzten Hoch schulreform die Funktion einer Fakultät für Theologie wahr genommen hat, beschlossen Rek tor und Akademischer Senat am 19. 12. 1989. der Sektion die Strukturbezeichnung „Fakultät“ einzuräumen. Die Aufgaben des Sektionsdirektors und des De kans werden in Personalunion realisiert Guter Start für Toni! Hätte der kleine Toni geahnt, daß er mit seiner Geburt am Neujahrs morgen Punkt 8.26 Uhr immer noch der erste „Neuankömmling“ des Jahres sein würde, vielleicht hätte er dann noch bis zum eigentli chen Termin in drei Wochen gewar tet. So aber wurde seine 22jährige Mutti Heike Knobloch, die im Kran kenhaus St. Georg als Kranken schwester beschäftigt ist, gleich von Fernsehen und Rundfunk besucht. Auch die UZ wollte herzlich gratu lieren und erfuhr, daß die Hebam men für Toni 48 cm und 2930 Gramm in die Statistik notiert hat ten. Übrigens ertönte an diesem Tag in der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe noch dreimal der be rühmte „erste Schrei“! Foto: MÜLLER Ein Staatspräsident an der Universität Herzliches Willkommen für Francois Mitterrand (ADN/LVZ/UZ). Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterrand weilte am 21. 12. 89 für einige Stun den in Leipzig. Bereits bei seiner Ankunft am Vormittag auf dem Flughafen Schkeuditz brachte er seine Genugtuung darüber zum Aus druck, jene Stadt kennenzulernen, von der die demokratische Erneue rung der DDR ihren Ausgang nahm. Mitterrand, der von Außenmini ster Roland Dumas, Innenminister Pierre Joxe, Industrieminister Ro ger Fauroux, Kulturminister Jack Lang und Außenhandelsminister Jean-Marie Rausch und hochrangi gen Vertretern der französischen In dustrie begleitet wurde, begab sich zunächst zur Karl-Marx-Universi- tät. Schon bei der Ankunft vor dem Hauptgebäude hatten sich auf dem Karl-Marx-Platz zahlreiche Ein wohner und Gäste Leipzigs ver sammelt, die dem französischen Staatsmann herzlich applaudierten. Mit der Amtskette geschmückt be grüßte Rektor Prof. Dr. Horst Hen nig den Gast und seine Begleitung Auf dem Weg in den Hörsaal 19, wo es zu einer Begegnung des Prä sidenten mit Studenten der Karl- Marx-Universität kommen sollte, herrschte enormes Gedränge. Viele Studentinnen und Studenten versuch ten mit nicht immer sonderlich fairen Mitteln, in den bereits gefüll ten Hörsaal zu gelangen,, obwohl in weiteren drei Hörsälen die Möglich keit bestand, das Geschehen auf der Mitschauanlage zu verfolgen. Es zeugte von der Ungezwungen heit des Staatspräsidenten, als er die Studenten aufforderte, doch noch in den Saal zu kommen. Bald waren alle Gänge eng gefüllt, und selbst um den Tisch des Präsidenten herum saßen dicht an dicht Studen ten auf dem Fußboden. Fast eine Stunde gab es ein sehr lebhaftes Gespräch zwischen dem Staatsmann und den Studenten. Die Fragen zielten sowohl auf studenti sche und wissenschaftliche Pro bleme wie auch auf Prozesse der po litischen Entwicklung in Frankreich und im internationalen Rahmen. Auf die Frage nach der Haltung Frankreichs zur Existenz von zwei souveränen deutschen Staaten und zur deutschen Einheit antwortete der Präsident klar und eindeutig, daß die Deutschen in beiden Staa ten selbst zu entscheiden haben, wel chen Weg sie gehen wollen. Auf kei nen Fall könne das aber die nach dem zweiten Weltkrieg entstande nen Realitäten unberücksichtigt las sen. Der europäische Einigungspro zeß werde dabei von zunehmender Wichtigkeit sein. Außerdem informierte Mitterrand über die Absicht Frankreichs, auch in Leipzig ein Kultur- und Informa tionszentrum zu errichten. Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand (rechts) im Gespräch mit Prof. Dr. sc. Horst Hennig, Rektor der Karl-Marx-Universität, und Gewandhaus« kapellmeister Prof. Kurt Masur. Foto: ARMIN KUHNE