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UZ gratuliert der Medizinischen Fakultät zum 575jährigen Bestehen W enn die Medizinische Fakul tät der Universität Leipzig ih rer Gründung vor 575 Jahren gedenkt, ist dies Anlaß zu historischer Rückschau, zur Analyse der Gegen wart und zu einem Ausblick in die Zu kunft. Daß dies zu einem Zeitpunkt ge schieht, zu dem die beiden Teile Deutschlands dank der machtvollen re volutionären Erhebung im Herbst 1989 nach einer schmerzlichen, jahrzehnte langen Trennung wieder vereint sind, gibt dieser Aufgabe eine besondere Ver- ptlichtung zu kritischer Auseinander setzung mit unserer jüngsten Vergan genheit. Es waren politische, soziale und reli giöse Konflikte, die König Wenzel den IV. in Prag veranlaßten, mit dem Kuttenber ger Dekret das Stimmrecht der vier an der Prager Universität studierenden Univer sitätsnationen - der böhmischen, bayri schen, sächsischen und polnischen - ein seitig zu Gunsten der böhmischen Nation zu ändern. Da die drei nichtböhmischen Nationen den Verlust ihrer Privilegien nicht akzeptierten, verließen sie 1409 Prag und zogen nach Leipzig. Die mit 8000 Einwohnern kleine, aber aufstre bende Handelsstadt, die im Augustiner Chorherrenstift St. Thomas schon eine Pflegestätte des höheren Unterrichts be saß, bot den Studenten eine neue Heimat. Die Ratsherren der Stadt und der Mark graf von Meißen begrüßten die Gelegen heit, mit der Eröffnung eines Studium ge nerale ihr Ansehen und die Bildungs möglichkeiten zu verbessern. Am 2. De zember 1409 fand im Refektorium des Thomas-Klosters die feierliche Gründung der Universität statt. Unter den 46 Magi stern, welche gemeinsam mit 369 Stu denten den Eid auf die Statuten der neu gegründeten Universität leisteten" befan den sich 7 Mediziner. Zu dieser Zeit be saß die Stadt Leipzig weder einen Arzt noch einen Apotheker. Heilkundige Män ner und Frauen, deren Kunst ohne gelehrte Vermittlung aus Tradition und Erfahrung erworben war, versorgten die Kranken. 1415, 6 Jahre nach der Universitäts gründung, konstituierte sich ein Collegi um medicum aus 9 Magistern als Medizi nische Fakultät mit eigenen Statuten und wählte Gerhardus Hoghenkerke als De kan auf Lebenszeit. Die Fakultät fristete anfangs ein kümmerliches Dasein. Erst 23 Jahre nach ihrer Gründung, 1438, wurden durch landesherrliche Anordnung 2 Me dizinische Ordinariate geschaffen, eines für Pathologie, das andere für Therapie. Der Professor für Pathologie vertrat die theoretische Medizin, der für Therapie die praktische. Mit dieser Aufgabe war das Amt des Dekans auf Lebenszeit verbun den. Die Ausbildung der Medizinstuden ten verlief ähnlich wie an anderen Uni versitäten Europas. Eurokompatibilität, die wir heute als Ziel vor Augen haben, war damals selbstverständlich. Zunächst wurde die Artistenfakultät als Studium generale absolviert, danach er folgte die theoretische medizinische Aus bildung auf der Grundlage antiker und mittelalterlicher Werke. Die praktische Ausbildung erwarben die Studenten im Verlaufe von 2 Jahren als Famulus eines praktizierenden Arztes oder in den städti schen Hospitälern. Modernes Denken, wie es Reformation und später die Auf klärung mit sich brachten, breitete sich ähnlich wie an anderen deutschen Uni versitäten nur mühsam aus. Der schola stische Lehrbetrieb bestimmte die Fakul tät. So wurde es erst 1739 möglich, we nigstens in den Vorlesungen der Anato mie und Chirurgie Deutsch als Unter richtssprache einzuführen. In allen übri gen Fächern war Latein bis in die Anfän ge des 19. Jahrhunderts verbindlich. Das 19. Jahrhundert brachte den ent scheidenden Wandel. Eine von der säch sischen Regierung getragene Umstruktu rierung der Medizinischen Fakultät trug Unter schwierigen Bedingungen wurde im Februar 1946 die Universität wieder eröffnet. Auch die Medizinische Fakultät nahm ihren Lehrbetrieb wieder auf. Der Mangel an Professoren und Lehrkräften war im Sommer 1947 so extrem, daß der damalige Dekan, der Pathologe Werner Hueck, dem Rektor vorschlug, den Lehr betrieb wieder einzustellen. Auch der Ein satzfreudigkeit von 20 Emeriti, die der Fa kultät ihre Hilfe anboten, war es zu dan ken, daß der Unterricht fortgesetzt wer den konnte. So schwierig die äußeren Be dingungen auch waren - kalte Hörsäle, Mangel an Lehrbüchern, Mangel an Klei dung und Hunger - Hochschullehrer und Studenten bildeten eine enge Gemein schaft und widmeten sich zielstrebig, voller Enthusiasmus und hoffnungsvoll Hörsaals der Germanist Hans Mayer in seiner Autobiographie „Ein Deutsherauf Widerruf erfaßt. Der Wiederaufbau der Institute und Kliniken wirde sehr systematisch betrie ben, so daß sich für Lehre, Forschung und ärztliche Versorgung die Bedingungen wesentlich besserten. Von den damals tätigen Professoren können stellvertre tend für viele andere nur einige erwähnt werden, die weit über, die Grenzen der Universität hinaus bekannt wurden, be- geisterungsfähige • Assistenten um sich scharten und durch ihr Wirken Schulen bildeten, die bis in die Gegenwart reichen: der Internist Max Bürger, der Gynäkolo ge Robert Schröder, der Pädiater Albrecht Peiper, der Anatom Kurt Al verdes, der Pa Eine Fakultät auf dem Weg zu dem ihr gebührenden Platz Festvortrag, gehalten von Prof. Dr. sc. med. Gottfried Geiler, Dekan der Medizinischen Fakultät o der vorangeschrittenen Spezialisierung Rechnung und führte 1811 zur Bildung neuer Ordinariate. Diese entwickelten sich rasch weiter und wurden zur Grund lage jener Fakultätsgliederung, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fakul tät zu hoher Blüte führte. Die Akzeptanz naturwissenschaftlicher Methoden und naturwissenschaftlichen Denkens führte zu ungeahnten Fortschritten. Diese Ent wicklung der Medizinischen Fakultät war eng verbunden mit dem Wirken bedeu tender Gelehrter wie dem Physiologen Carl Ludwig, dem Pathologen Julius Cohnheim, dem Anatomen Wilhelm His, dem Chirurgen Carl Thiersch und dem In ternisten Adolf Strümpell, die für die vie len anderen stehen sollen, die dafür Sor ge trugen, daß die Medizinische Fakultät in gleicher Weise ein lohnendes Ziel für die akademische Jugend wie für Gelehrte nicht nur aus Deutschland wurde. Die ra sche Entwicklung der Stadt Leipzig zu ei ner urbanen Metropole durch Industrie, Mustermesse, Buchdruck, Verlagswesen und Buchhandel führte zu wechselseiti gem Nutzen von Stadt und Universität. Der erste Weltkrieg hat diese glückli che Phase der Medizinischen Fakultät jäh unterbrochen. Die Zeit der Erholung während der Weimarer Republik, in der die Fakultät durch eine gediegene Beru- fuhgspolitik eine erneute Blüte erlebte, war kurz. Der Nationalsozialismus und der zweite Weltkrieg.hinterließen ein gei stiges und materielles Trümmerfeld. Zahlreiche Institute und Kliniken waren total oder partiell zerstört. ihrer Aufgabe. Im Ringen um die so not wendige geistige Erneuerung waren die Vorlesungen der Philosophen Theodor Litt, Hans-Georg Gadamer und Ernst Bloch im berühmten Hörsaal 40 des zwar beschädigten, aber noch nutzbaren alten Universitätsgebäudes ein Mekka aller Fa kultäten. Treffend hat das Fluidum dieses thologe Heinrich Bredt und der Bioche miker Erich Strack. Unter ihnen muß Max Bürger ein besonderer Rang zugespro chen werden, der als Initiator der Al temsforschung weltweit Anerkennung fand und Impulse gesetzt hat, die im Wis- senschaftsprofil der Leipziger Fakultät auch heute noch wirken. Probleme berei Prof. Dr. Gottfried Geiler hielt den mit großem Interesse aufgenommenen Vortrag während des Festaktes im Gewandhaus. Foto: FRANK GEHRMANN teten die schnell wachsenden Studenten zahlen, die 1963 auf 3206 anstiegen. Die sehr hoffnungsvolle Anfangsphase, die trotz aller Beschränkung durch die so wjetische Besatzungsmacht und deren an dere Sicht vom Wesen einer Universität durch das Bestreben nach Pluralismus und Autonomie geprägt war, fand bald ihren Abschluß. Im Jahre 1951 wurde unter der Bezeichnung „Marxistisches Grundla genstudium“ für alle Fakultäten der Un terricht in Marxismus-Leninismus obli gat. Als Hauptfach bewertet, diente er dem Ziel, die Studentenschaft ideologisch auf die Linie der Staatspartei SED auszu richten. Der unreflektierte Anspruch der marxistischen Ideologie auf die Wahrheit führte den im Wesen der universitas lit- terarum begründeten Anspruch auf gei stigen Pluralismus ad absurdum. Der durch die Wahrnehmung und Ausübung von Mach gestützte Anspruch wurde in allen Bereichen des universitären Lebens wirksam. Er führte zu einer Berufungs politik, in der vielfach Parteizugehörig keit vor Fachkompetenz rangierte, er führte zum System der sogenannten Rei sekaderregelung und zu dem ca. 10 Jahre währenden Publikationsverbot in wesent lichen wissenschaftlichen Zeitschriften und damit zu einer besorgniserregenden Abkopplung von der internationalen Wis senschaft. Sichtbares Zeichen dieser Entwicklung zum Machtmißbrauch war 1968 die Sprengung der gothischen Paulinerkir- ehe, unserer Universitätskirche, die den Krieg nahezu unversehrt überstanden hat te und dem Neubau der Universität wei chen mußte. Vielfältige stumme und auch laut geäußerte Proteste von Leipziger Bürgern und Universitätsangehörigen wurden mißachtet und geahndet. Daß ein unkontrollierter zentralistisch-bürokrati scher Apparat den Universitäten als den Ausbildungsstätten der jungen Generati on besondere Aufmerksamkeit zuwandte, hat opportunistischem Verhalten den Weg bereitet. Die Angst, von der Vaclav Havel im Juli diesen Jahres eindringlich gespro chen hat, machte Aufrichtigkeit zuneh mend zu einem Wagnis, ließ öffentliche Kritik verstummen und führte bei vielen zur Resignation. Und dennoch, es hieße der Wahrheit nicht gerecht zu werden, wollte man ein Pauschalurteil fällen. Viele Mitarbeiter der Fakultät aus allen Berufsgruppen ha ben der persönlichen Verantwortung ge genüber dem doktrinären Anspruch von Partei und Staat Priorität eingeräumt, so daß auch in dieser Phase an der Leipziger Medizinischen Fakultät zuverlässige Ar beit in Lhre, Forschung und ärztlicher Versorgung geleistet wurde. Jahr für Jahr konnten durchschnittlich 350 solid aus gebildete Humanmediziner und 65 Zahn mediziner in die Praxis entlassen werden und haben sich dort bewährt. - Obwohl die Rahmenbedingungen für die wissen schaftliche Arbeit schwieriger wurden - ich erinnere nur an den Valutaamangel, die damit verbundene ungenügende ap parative Ausrüstung und die Isolierung von der westlichen Wissenschaft -, wur den auf mehreren Gebieten beachtliche Leistungen vollbracht, die auch interna tionale Akzeptanz gefunden haben. Sie darzustellen, muß ich mir versagen. Daß in dieser Zeit viele Kliniken und Institute wissenschaftliche Verbindungen zu den Nachbarländern im Osten geknüpft haben, lag in der Natur der Entwicklung. Diese Kontakte sollen künftig als Chance genutzt werden, um im wiedervereinten Deutschland als Brücke zwischen Ost und West zu dienen und als Hilfe für unsere Partner verstanden werden. Im Blick auf die Versorgung der Pati enten hat sich die Fakultät bemüht, den modernen Anforderungen gerecht zu wer den. 18 Kliniken, 21 Institute, eine Sekti on'Stomatologie und eine Medizinische Fachschule bilden die strukturelle Basis. Dank der Entwicklung integrierter Abtei lungen haben sich die Möglichkeiten für hochspezialisierte diagnostische und the rapeutische Verfahren wesentlich erwei tert. Daß aber auch in der Patientenver sorgung die Ausrüstung der Kliniken vie le Wünsche offen läßt, ist kein Geheim nis und stellt sich als Aufgabe für die Zu kunft. Die Zahl von fast 40 000 sta tionären und 700 000 ambulanten Be handlungen pro Jahr vermittelt einen Ein druck vom Umfangdergeieisteten Arbeit. Die Habenseite der Leipziger Medizi nischen Fakultät wäre unvollständig, würde ich nicht das Gondar-Projekt in Äthiopien erwähnen. Auf der Grundlage einer Vereinbarung mit der Universität Addis Abeba haben hauptsächlich Pro fessoren und Dozenten unserer Fakultät im Norden von Äthiopien, in der Stadt Gondar, den Unterricht an einer 1979 neu gegründeten Medizinischen Hochschule übernommen und haben dieses Entwick lungsprojekt, das auch internationale Re sonanz gefunden hat, bis 1989 mit großem Erfolg betrieben. Der in den Oktober- und Novemberta gen 1989 durch den Mut und durch die Konsequenz vieler mit friedlichen Mitteln erzwungene Wandel erfüllt uns mit Stolz. Die dabei gewonnenen Erfahrungen sind ein wichtiges Element für die Mitgestal tung unserer Zukunft im vereinten Deutschland. Der Wandel stellt uns vor neue und schwierige Aufgaben. Diese sind nicht zu bewältigen, wenn allzuleicht und unbese hen Mitverantwortung oder Mitschuld am Dilemma jener Entwicklung verdrängt werden, die der ganzen Gesellschaft und auch unserer Fakultät schwere materielle und moralische Wunden gesetzt hat. Die moralischen wiegen besonders schwer. Mut zur Wahrhaftigkeit ist daher gefor dert, um aus den Verstrickungen der Ver gangenheit zu finden. Zu prüfen bleibt ei nem jeden, was er getan hat und was er nicht getan hat, wo er hätte handeln sol len. Wir schulden solches Verhalten vor allem unseren Studenten. - Das Bemühen um demokratische Umge staltung, das in der Neuwahl der Fa kultät zu Anfang dieses Jahres einen er sten und wichtigen Schritt zeitigte, der Wille zur Autonomie und das Bewußt sein der neugewonnenen Freiheit wer den jene Motivationen und Kräfte frei setzen, welche die Medizinische Fakul tät benötigt, um ihr unter den deut schen Fakultäten wieder den ihr ge bührenden Platz einzuräumen. Medizinstudenten auf der Station 5 der Kinderchirurgie. Wer ein guter Stomatologe werden will, muß viele Handgriffe beherrschen. Operation in der Klinikfür Herz- und Ge fäßchirurgie. Historische Medizininstrumente aus der Sammlung des Karl-Sudhoff-Insti- tutes. Künftiger Schwesternnachwuchs informiert sich in der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe über diesen anstrengenden Beruf. Ohne ein gut funktionierendes „Hinterland“, hier ein Blick in die Diätküche, läuft auch an der Medizinischen Fakultät nichts. Fotos: UZ-Archiv