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Nr. 218 Beilage zur Weitzerty Zeitung Mittwoch, am 18. September 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. — Am heutigen Mittwoch findet in Berlin «ine Ml- «tsterbesprechung mit den Fraktionsführern über die Reform der Arbeitslosenversicherung statt. — Von den von der Altonaer Polizei Verhafteten! wurden am Dienstag 21 nach Berlin gebracht. — Landeshauptmann Dr. Stumpf protestiert« bei der Wiedereröffnung des Tiroler Landtags gegen das Friedens diktat von St. Germain. — Es ist nunmehr gelungen, das in der Lübecker Bucht gesunkene Flugboot „Rohrbach-Roman" zu bergen. ES wurde in den Flughafen Lübeck-Travemünde eingeschleppt. — In der Ueberlandzentrale Lübeck platzte das Haupt rohr der Dampfleitung. Zwei Personen wurden leicht, eine schwer verletzt. Der Straßenbahnverkehr lag längere Zeit vollständia still. - In Parma fand die feierliche Beisetzung der bei der Benztnexplosion ums Leben Gekommenen statt. Ver treter der Behörden und des Klerus fo^e «im w»ße Menschenmenge waren erschienen, um den 26 Unglücklichen die letzte Ehre zu erweisen. < — In einer Synagoge in New Bork gab das Treppen ¬ geländer nach und ritz Dutzend« von Menschen in die, Liese, Ho Personen wurden leicht, sieben schwer verletzt. Reichstag hat das Wort. Wird er den Entwürfen zur Reform der Arbeitslosen- "Versicherung zu stimmen? — Berlin, 18. September 1929. Der Reichsrat, die Vertreterversammlung der deut schen Regierungen, hat seine Beratungen über die Reform der Arbeitslosenversicherung beendet. Die Ent scheidung liegt nunmehr beim Reichstag, dem auf Grund der Reichsratsbeschlüsse zwei Gesetzentwürfe vorgelegt worden sind. Tie Aufgabe, die der Reichsrat zu lösest hatte und an der sich in den nächsten Wochen der Reichs tag versuchen mutz, war eine zweifache. Sie lautete: Beseitigung der Mißstände in der Arbeitslosenversiche rung und Sanierung der Reichsanstalt für Arbeits vermittlung und Arbeitslosenversicherung durch die Ausgleichung von Einnahmen und Ausgaben. Bisher hat nämlich die Reichsanstalt mehr ausgegeben als vereinnahmt. Ueber die Beseitigung der Mißstände in der Arbeitslosenversicherung, die niemand leugnet, der mit offenen Augen durchs Leben geht, ist man sich im Reichstat rasch einig geworden; ähnlich wird es sich im Reichstag Verhalten. Heftig umstritten ist jedoch das Sanierungsprogramm. Nach den letzten Beschlüssen des Reichsrats soll die Ausgleichung des Haushalts der Arbeitslosenan- slalt durch Beitragserhöhungen und Leistungskürzungen erzielt werden. Ter Fehlbetrag betrug insgesamt 139 Millionen Mark, 92 Millionen Mark wurden durch die erste Regierungsvorlage gedeckt. Für den Rest will der Reichsrat wie folgt Deckung schaffen: 11 Mil lionen Mark Ersparnisse durch die Verkürzung der Unterstützungssätze für Arbeitslose ohne unterstützungs berechtigte Angehörige; 6 Millionen Mark Einsparun gen durch Verlängerung der Wartezeit für Saisonar beiter, 24 Millionen Mark Mehreinnahmen durch die Sondererhöhung der Beitragssätze für Saisonarbeiter und weitere 6 Millionen Mark aus der Auswirkung der Maßnahmen zur Beseitigung der Mißstände. Daneben ist eine allgemeine Beitragserhöhung um Vs v. H. für alle Arbeitnehmer vorgesehen. Ter Neichsrat hat in der Abstimmung das zwischen Preußen und dem Reich getroffene Abkommen gebilligt, er hat ferner auf der einen Seite neue Be stimmungen eingesügt, gegen die die Reichsregierung und die Sozialdemokratische Partei Bedenken hegen, gleichzeitig aber auf der anderen Seite Beitragserhö hungen beschlossen, von denen bisher außer den Teutsch nationalen und der Wirtschaftspartei auch die Deutsche Volkspartei und die Demokraten nichts wissen wollten. Tie Unzufriedenheit mit den Reichsratsbeschlüssen erstreckt sich infolgedessen über viele Parteien. Wie unter diesen Umständen den Reformentwürfen in ihrer jetzigen Gestalt im Reichstag eine Mehrheit ver schafft werden soll, ist micht zu ersehen. Vorerst ist das Schicksal der Reformbestrebungen in der Arbeits losenversicherung ebenso ungewiß, wie vor der Beschluß fassung im Neichsrat! Von sozialdemokratischer Seite liegt bereits eine Aeutzerung des parteiamtlichen Pressedienstes vor, nach der mit einer Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Reformcntwürfen „kaum zu rechnen ist". In den Kreisen der Volkspartei und der Demokraten verweist man erneut auf die bereits in einem früheren Stadium der Verhandlungen vorgebrachten Bedenken. Einen Versuch zur Klärung der parlamentarischen Lane will w"n im Laufe des keutiaen Mittwocks unter nehmen. Es ist eine Mini sterbesprech ung mit den Führern dec Regierungsparteien vorgesehen, in der die Reichsratsbeschlüsse zur Debatte gestellt werden. Am Donnerstag wird dann der sozialpolitische Aus schuß seine Verhandlungen wieder aufnehmen, und Ende des Monats dürfte schließlich auch die Vollversammlung des Reichstags das letzte Wort sprechen. . Im Interesse der Gesundung unserer Finanzen mutz das Problem der Arbeitslosenversicherung jetzt »ingltch einer Lösung zugeführt werden. Eine für asle Parteien tragbare Lösung müßte um so leichter erreicht >»erden können, als die Regelung der umstrit tenen Fragen nur als eine bis zum 31. März 1931 aedachte Zwischenlö ung erstrebt wird. Auf Voraus sagen sollte man sich jedoch nicht einlassen, weil ge rade in der Frage der Reform der Arbeitslosenver sicherung mehr als einmal überraschende Wendungen etngetreten sind. Ter Gedanke, den Arbeitnehmer im Wege der Versicherung gegen -das Risiko der Arbeitslosigkeit evetrso zu schützen, wie gegen das Risiko der Krankheit oder der Arbeitsunfähigkeit, ist sicher gut. Daß ferne erste Verwirklichung auf Schwierigkeiten gestoßen ist, spricht nicht gegen den Versicherungsgedanken, wohl aber bedingen die bisherigen Erfahrungen die ent schiedene Abwehr alles dessen, was einzelnen unbillige Vorteile gewährt, die Gesamtheit der Versicherten aber schädigt. O Die Hauptvorlag« üb«r die Reform der Arbeitslosen versicherung wurde vom Neichsrat mit 42 gegen 21 Stimmen genehmigt, nachdem zuvor das Kompromiß Reich-Preußen mit,32 gegen 81 Stimmen angenommen worden war. In der Debatte fiel die Schärfe auf, mit der sich die Berichb- erstatter mehrfach gegen die Regierung wandten. Die Vor legung des Gesetzentwurfs im Reichstagsausschub vor der Verabschiedung durch den Reichsrat wurde als „unerwünscht" bezeichnet, weil dadurch den Rechten des NeichsratS Ab bruch getan werd«. Hawkens legt ein Geständnis ad. 2i- Attentäter hatten ihn über die Anschläge unter richtet. — 21 Verhaftete von Altona nach Berlin gebracht. — Berlin, 18. September. Wte von zuverlässiger Seite mitgetetlt wird, hat der in der «ombenlegeraffäre verhaftete Landvolk- sichrer Hamkens a«S Tettenbüll ein Geständnis dahin abgelegt, daß er von sämtlichen Sprengstoffanschlägen unterrichtet gewesen sei. Ter gleichzeitig mit Hamkens verhaftete Muchmann soll soweit überführt sein, daß er für die meistert Anschläge als Mittäter in Frage kommt. Tas angebliche Geständnis Hamkens wirkte sen sationell. Noch gestern hatten die Verteidiger dieses rührigsten Agitators scharfe Proteste gegen die Ver haftung von Hamkens eingelegt, mit der Begründung, Hamkens habe mit den Anschlägen nichts zu tun und es verstoße gegen das Gesetz, einen nicht dringend Verdächtigen seiner Freiheit zu berauben. Ueber die Persönlichkeit von Hamkens ist zu sagen, daß Hamkens allgemein als einer der führendsten agrar revolutionären Agitatoren galt. Um die von ihm ins Leben gerufene Bewegung zu organisieren hat Hamkens alles im Stich gelassen; sein Bauernhof im Holsteini schen wurde ertraglos. — Im Jtzehoeer Aufruhrvrozeß wurde Hamkens zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Ankunft der Altonaer in Berlin. Gestern mittag sind 21 der Attentatsverdächtigen mit dem fahrplanmäßigen D-Zug aus Hamburg in Berlin eingetroffen. Tie Verhafteten waren mit starker Bewachung in einem Sonderwagen untergebracht wor den. Aus dem Lehrter Bahnhof hatte sich eine große Anzahl von Kriminalbeamten eingefunden, die sich unter das Bahnsteigpublikum mischten und den Ab transport überwachten. Eine Schupokette sperrte den Waggon ab. Auf der Straße standen 21 Autos bereit. Je ein Verhafteter nahm mit einem Schupo im Kraft wagen Platz. Tas Aktenmaterial über das bis herige Untersuchungsergebnis wurde jedem begleitenden Schupo in einem Briefumschlag mitgegeben. Obgleich man die Ankunft geheimhalten wollte, wurde der Abtransport mit der Zeit so auffällig, daß sich allmählich eine große Zuschauermenge ein- sand. , Die ersten Haftbefehle des Unter suchungsrichters. Der mit der Untersuchung der Bombenlegeraffäre beauftragte Amtsgerichtsrat Tr. Reulicke-Berlin hat die ersten sieben richterlichen Haftbefehle erlassen. Ti« Haftbefehle richten sich gegen Ernst von Sa- lomon, Plaaß, Erich Timm, Herbert MittclSvorf, Rotz? teutschcr, Heinrich Vander uns den Feuerwerker Wilske. Tie Angcschuldigteu wurden im Laufe des Dienstaas in das Nntersuchungsgefängnts Moabit übergeführt Macdonalds Besuch in Amerika. Tas Rciseprogramm. — Einzelheiten aus dem Flottem kompromiß. — U-Boote sollen verboten werden. Ter amtlich« britische Funkdienst veröffentlicht ein« Erklärung über die Amerikareise des britischen Ministw Präsidenten Macdonald. Danach trifft Macdonald an 4. Oktober in New York ein und begibt sich sogleich nach seiner Ankunft nach Washington, wo er bis zum 7. Ok tober bleiben wird. Tie Rückreise nach London erfolg! am 25. Oktober. In der Zwischenzeit will Macdonald einige Städte in den Vereinigten Staaten und Kanada besuchen. Ter Zweck des Besuchs Macdonalds im Weißen Hause ist nach dieser Veröffentlichung lediglich der, „Englands guten Willen zu einer Verständigung mit Amerika zu bezeugen," während die noch bestehende« Meinungsverschiedenheiten in der Flottenfrage erst au der Füns-Mächte-Konferenz beseitigt werden. Tie Er- Wnung der Konferenz ist nunmehr entgegen den ersten Meldungen erst für Januar 1930 zu erwarten. Bezüglich der englisch-amerikanischen Flottenver- Handlungen wird betont, daß ein Uebereinkommen von 25" Ergebnis der Füns-Mächte-Konferenz abhänge. Hinsichtlich der Zerstörer tonnage sei man über eingekommen, daß die englische und amerikanische Ton- nage gleich groß sem solle. Wünschenswert wäre mn allgemeines Abkommen, das den Bau von U-Boo- ten - an dem besonders Frankreich Gefallen gefunden hat! verbietet. Tie Meinungsverschiedenheiten in der Kreuzersrag« seien gering. Ter Streit geh« nur noch um drei Kreuzer mit 8-Zoll-Geschützen. Großes Aufsehen erregten in Lonvon Meldung«« a«S Pams, nach denen Frankreich gegen di« Einberu fung der Flottenkonferenz «ach London Einspruch er« heben will. Stu Rachgeben Englands in der Srag4 des Tagungsortes -Ut als ««wahrscheinlich „Brot die beste Grenzstcherung." Außenpolitik auf dem Christlichen Gewerkschaftskongreß!. - Die Stimm- d-S SaargebietS. Aus dem 12. Kongreß der christlichen Gecherk- schaften in Frankfurt am Main sprach mn Dienstag Friedrich Baltrusch über Fragen der Außenpolitik. Redner führte aus, es bestehe rein Zweifel, daß den Boungplan gegenüber dem Dawesplan einen Fort schritt darstelle. Abgesehen von den finanziellen Er- leichterungen bringe uns die Haager Konferenz die Rheinlandräumung und die Abschaffung der unerträg lichen Kontrollen. Wenn der Reichstag den Uoung- plan, der schließlich auch nur eine Zwischenlösung dar stelle, durchführen wolle, müsse das besetzte Gebiet ge räumt und die deutsche Staatshoheit wiederhergestellt werden. Tas Saargebiet müsse schleunigst zum Reich« zurückkehren. Das Ausland müsse im Interesse den Durchführung des Aoungplans größere Mengen d«ll- scher Erzeugnisse aufnehmen. Landessekretär Hillenbrand-Saarbrücken Verla* eine Erklärung, in der betont wird, die Entscheid««* darüber, daß die Saarbevölkerung deutsch ist und z«M Reiche zurück will, sei längst gefallen. Durch di« schnelle Rückgabe des SaargebietcS würde ei« von Saar» ländern zugefügtes Unrecht wieder gntgemacht werden. Tas Saargebiet müsse lebensfähig erhalten bleiben. Tabei sei zu bedenken, daß «rot Mr die bodenständig« Grenzbevölkerung die beste Grenzsichermig sei. Reichstagsabgeocdneter Hülse behandelte sozial politische Fragen. Er betonte, die deutsche Sozial politik habe sich als kräftiger Ansporn Mr die Ent wicklung der schöpferischen Kräfte ausgewirkt und den Jnlandsmarkt gefestigt. Schmitz« Duisburg vom Me- tallarbeiterverband führte aus, Wirtschaft-- und Sozial politik müßten einander ergänzen. Zurück zum Reichl Eine Erklärung des Alten Bergarbeiterverbandes» > Der Alle Bergarbeiterverband Essen nimmt zu» Saarfrage in einer Erklärung Stellung, in der es! u. a. heißt, die Saararbeiterschaft habe unter dem französischen Regime die Lasten sell zehn Jahren am drückendsten empfunden und erhoffe demgemäß bei den neuen Regelung die verdienten Erleichterungen. I» Politischer Hinsicht gebe «S nur ei«e Auffas sung: Zurück unter di- deutsch- Staatshoheit «ud deutsche Gesetzgebung! Aber auch wirtschaftlich kö««- nur die Rückgliederung a» das Reich in Frage kom men. Ten Vorschlag französischer Interessenten, die Saargruben einem internationalen Konzern zu über tragen, lehne der Alte Bergarbeiterverband ab; er sehe die einzige und zweckmäßige Regelung nur darin, die Saargruben wieder in deutschen Staatsbesitz z« überführen. Landwirtschaft und Boungplan. Erklärungen Hugenbergs und deS Reichsausschusses. — Einberufung des Präsidiums? Wie verlautet, wird das Präsidium des Reichsaus» schusses Mr das Volksbegehren gegen den Boungplan einberusen werden, um sich mit den Zwistigkeiten zu be fassen, die durch die Formulierung des Paragraph 4 des dem Volksbegehren zu Grunde zu legenden Gesetz- entwurfs entstanden sind. Ter Führer des Reichsausschusses, Geheimrat Hu genberg, nahm zu dem Thema: „Landwirtschaft und Boungplan" dahin Stellung, die Ablehnung des Parise, Tributplans könne der Landwirtschaft nur dienlich sein. Eine Taweskrise» die wir herbeisehnen müßten, sei eine Gesundungskrise. Ter Youngplan sei ein Erzeugnis der Zerstörungspolitik und müsse zu Fall gebracht wer- den. Rückwirkungen aus der Taweskrise aus Landwirt- schäft und Gewerbe könnten verhindert werden. Der Reichsausschuß Mr das Volksbegehren ver- üffentlicht eine Erklärung, nach der die Bestimmungen des Paragraph 4 nicht auf den Reichspräsidenten von Hindenburg angewandt werden könnten. Gras Westarp, der Vorsitzende der demschnatio- nalen Reichstagsfraktion, Mhrte in einer Versammlung in Berlin aus, die neue Lage - d. h. die freiwillige Uebernahme von Lasten durch Verträge — lasse es ge boten erscheinen, das Volk zur Entscheidung auftu. rufen. Ter Widerruf der Kriegsschuldlüge sei erforber- lich und solle durch das Volksbegehren erzwungen werden. Bayrischer Minister gegen Volksbegehren. Auf einer großen Bauerntagung in Stmubii^ in Mederbayern kennzeichnete LanwoirtsEsi^uistm Tr. Fehr die Stellung des bayettschen Bauern- und MittelstandSbundes zum UoungPlan. Der Boungplan, so erklärte er, stelle einen weiteren Schritt in der Be- seitigung des Krieges dar. - r- , „ könne n Mals ?uf dem Wege des Volksentscheides m- Nat werden Der Bauernbund lehne seine Mitwtr- kung an dllftm Volksbegehren mit aller Entschieden er ab Er werde sich nie und nimmer an eine« W-n Katastrophenpolitik beteiligen.