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Doras Barschaft war bedenklich zusammen geschmolzen. Noch einen vollen Monat war sie gegen Mangel und Not geschützt, dann — ihre Gedanken ver wirrten sich, wenn sie sich vorstellte, daß sie vielleicht nicht zur rechten Zeit Erwerb finden werde. Aber gleich straffte sie sich wieder auf. Dahin, daß sie ihren letzten Groschen verausgabte, ließ sie es natür lich nicht kommen. Es gab ja so vielerlei Beschäftigung. Und wer sucht, der findet auch. Am nächsten Tage machte sie sich auf den Weg. Es wurden Zuarbeiterinnen für Putz und Schneiderei verlangt. Sie hatte geschickte Hände und den besten Willen. Auf ein wenig Glück hoffte sie gleichfalls. Gleich auf der ersten Stelle sah man sie achsel zuckend an. „Da hätten Sie gestern kommen müssen. Immer gleich den Arbeitsmarkt lesen, wer zuerst kommt, mahlt zuerst!" Die Tür flog zu, Dora stand draußen. Nach den langen Tagen des Wohllebens hatte es sie Ueberwindung gekostet, ihre Leistungen, von denen sie noch nicht einmal wußte, ob sie genügen würden, anzubieten. Das Herz klopfte rebellisch in ihrer Brust, sie suchte es zu beschwichtigen. Tausende mußten ebenso wie sie treppauf und absteigen, auf der Suche nach dem täg lichen Brot. Sie klopfte an viele Türen, doch überall vergeblich. An jeder Stelle waren ihr schon Arbeiterinnen zuvor gekommen. Wie Neid stieg es auf in ihr, als sie die blassen verarbeiteten Gesichter über die Näharbeit gebeugt, die eifrig sich rührenden Hände sah. Jene verdienten, was sie den Tag über verbrauchten. Wäre es ihr doch auch erst gelungen, Beschäftigung zu finden. Mit allem Fleiß wollte sie sich bemühen, ihre Arbeitgeber zu friedenzustellen. (Fortsetzung folgt.) Zwischen der Suppe und dem Gemüse holten einige ein Strickzeug hervor und begannen eifrig zu stricken. „Kriegsstrümpfe für unsere Soldaten", sagte aus ihren fragenden Blick Doras Nachbarin, „besser etwas, als nichts. Viel ist nicht damit zu verdienen, aber man hungert sich ehrlich und redlich durch." „Da tue ich nicht mit", erklärte eine andere, „ich verkaufe Wohlfahrtskarten, da habe ich an manchen Tagen meine fünf Mark. Bei der Strickerei kann man nichts werden." „Das kommt auf persönliche Auffassung an", meinte Dora, „es gehört wohl besonderer Mut dazu, fremde Häuser aufzusuchen und an fremden Wohnungen die Klingel zu ziehen. Ich könnte es nicht." „Wer weiß —" dehnte die andere, „Not bricht Eisen." Es durchfuhr Dora seltsam, sie erbebte bis ins innerste Mark. . . . Not — die hatte sie noch nie kennengelernt. War es auch zeitweise knapp gewesen — sie hatte gearbeitet früh und spät, immer wieder Rat geschafft, sie waren glatt durchgekommen. „Und überhaupt! Wer nur arbeiten will, der braucht ganz gewiß nicht zu darben." Dora hielt noch einmal Umschau. Es war so wunderhübsch hier, die ganze Aufmachung auf das Be hagen der gebildeten Frau berechnet. Man konnte in einer Efeulaube sitzen, auf allen Tischen prangten Blumen, hübsche junge Damen, welche ehrenamtlich tätig waren, brachten die Speisen, räum ten, als seien sie es nicht anders gewöhnt, die benutzten Teller fort. Mit Bedauern ging Dora endlich, nachdem sie lange gezögert. Für sie wurde hier der Tisch nicht gedeckt, denn sie konnte ja keine Empfehlungen aufweisen. Es war doch eine große, durch nichts gutzumachende Torheit gewesen, daß sie aus ihrer Häuslichkeit fortge gangen war. Es waren drei Kinder, ein Baby, um welches die ganze Familie in liebevoller Fürsorge beschäftigt war. Der Mann, ein früherer Feldwebel, bekleidete eine Stelle auf dem Statistischen Amt. Die Stimmen der Kinder brachten Dora so reckt eindringlich in Erinnerung, was sie durchaus zu ver- gessen trachtete: ihr verlorenes Familienglück. Am zweiten September betrat sie, ihre drei Nickel in Bereitschaft, das Mittagsheim für Damen gebildeter Stände am Lützowplatz. Aber es wurde ihr bedeutet, daß man hier Speisen nur gegen Marken verabreiche. Die Marken könne sie in der nahe gelegenen Schelling- straße erhalten. Dorthin begab sich Dora ein wenig enttäuscht; sie fand das Verfahren recht umständlich. Das Haus, wo die Speisemarken ausgegeben wurden — man hatte einen leerstehenden Laden dazu gemietet —, fand Dora bald. Sie trat ein. In einem kahlen Raum saßen an einem primitiven Holztisch mehrere Damen aus der ersten Gesellschaft der Reichshauptstadt in eifriger Beratung. Ein wenig geniert trat Dora näher, aber mit un- gezwungenerFreundlichkeitfragte man nach ihrem Begehr. „Ich bitte um Marken zum Mittagstisch drüben am Platz!" „Ja haben Sie denn eine Empfehlung?" „Eine Empfehlung?" staunte Dora, „wozu ist die nötig?" „Das will ich Ihnen sagen," erläuterte eine der Vorstandsdamen, „die gute, billige Kost, welche wir hier verabreichen, soll unbedingt nur bedürftigen Per sonen zugute kommen. Da nun aber gerade diejenigen, welche bemittelt sind, sich zu diesem Mittagstisch drängen und den Armen die Plätze fortnehmen, so konnten wir Abhilfe nur dadurch schaffen, daß wir von jeder Person, welche Marken wünscht, eine Bestätigung ihrer Notlage von berufener Seite fordern, ein Schreiben, aus welchem wir ersehen müssen, daß es sich um eine der Wohltat würdige Person handelt. Wir wollen Ihnen heute ausnahmsweise eine Marke verkaufen. Bringen Sie uns morgen die gewünschte Empfehlung, so können Sie eventuell das Essen bis auf weiteres umsonst haben!" „Das leuchtet mir ein," sagte Dora, „aber ich weiß niemand, der mich empfehlen könnte!" „Bitten Sie Ihren Pfarrer oder Arbeitgeber. Auch der Bezirksvorsteher dürfte Ihnen die Gefälligkeit erweisen." Dora sagte nichts mehr. Bedrückt entfernte sie sich. Draußen überkam sie die ganze Trostlosigkeit ihrer Lage. Es gab wohl wenige, die so armselig, so ganz ver lassen waren — durch eigene Schuld, wie sie. Aber dann wurden ihre Gedanken abgelenkt. Sie gab die grüne Marke im Speisehause ab und suchte sich an einem der langen blumengeschmückten Tische einen Platz. Hübsch war es hier, licht und traut, ein ständiges Kommen und Gehen. Die Tischgäste bestanden in der Mehrzahl aus vereinsamten Frauen. Da saß die junge Kriegswitwe neben dem älteren unverheirateten Fräulein, die „getrennt" Lebende neben der Kriegsgetrauten, deren junger Ehemann auf dem Felde der Ehre kämpfte. Allen sah man mehr oder weniger die Notlage an. Doras blühende Schönheit mußte in dieser Um gebung doppelt auffällig wirken. Sie gehörte, ihrem Aussehen nach, entschieden nicht hierher. Und doch war sie eine von den vielen Existenzlosen, welche der Zukunft mit heimlichem Bangen entgegensahen. Es gab eine kräftige Brühsuppe, danach Makkaroni mit Schinken. Es schmeckte großartig, und die Portion war reichlich bemessen. Neben dem Teller lag eine Scheibe Brot, für zwei Pfennige bekam man ein Glas Limonade, die vorzüglich schmeckte.