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D I 15 DEUTSCH Bei Beethoven sind die Sinfonien die Höllenzüge, die, in machtvoll auf gereckten Gipfeln auf alles andere herabblickend, zu dem wild zerklüfteten, in Eis und jähen Felsmassen trotzig bis an den Himmel ragenden Hochberg der „Missa Solemnis“ führen, von dessen einsamer Höhe kein Laut mehr zu den Menschen, nur zu der Gottheit dringt und zu dem keine irdi- sdien Pfade dringen. Nur auf den Schwingen der Töne der letzten Quartette und Klaviersonaten — diesen aus tiefster Stille, Vereinsamung und Weltverlorenheit in majestätischer Klage und lebensflüeini gem Humor geborenen Klängen — ver mag sich der Andächtige hinauftragen zu lassen. — Bei Brahms ist es anders. Da führen die Sinfonien von dem Gipfel des „deutschen Requiems“ fort. Aus den Schauern des letzten Gerichtes, den Ge heimnissen des Jenseits, den trostvollen Verheißungen einer zur Religiosität ge wordenen, herben und gefestigten Mensch lichkeit fort zu den Tragödien und Komö dien des Lebens, in friedlichere Länder. Beiden gemeinsam in ihrer Sinfonik ist der ungeheure Wille zur Monumentalität: einer Monumentalität von bewußter und geglückter Meisterschaft, die manche Rätselspiele der blutenden Seele, manch geheim angebradites Merkzeichen stummer Leiden und Freuden, manch verräterische Sinnbilder verschwiegener Träume unter stolzen, kühnen, von zwingender Energie zu großartiger Einheit gebändigten For men bringt. Die Melodiekraft Beethovens ist ohnegleichen in der ganzen Musik literatur, in ihrer Echtheit und Wahrheit unerreicht. Auch Meister Brahms war eine große, eigentümliche Melodiekraft ge geben. Und nur eine Unzulänglichkeit seiner Zeitgenossen bewirkte, daß man statt des üppigen Melodienbodens ein brachliegendes Feld sah. Audi Nietzsches Wort, daß Brahms nur durch einen Zufall berühmt geworden sei, da er von den Antiwagnerianern als Gegen- )ol nötig gebraucht worden sei, ist natür- ich längst ad absurdum geführt. Der Sinfoniker Brahms ist vielmehr ein Gegen pol zu Beethoven, aber nidit einer, der sich abstößt, sondern einer, der angezogen wird. Er kommt aus dem Lande der Ro mantik, um in Beethoven, dem Klassiker, aufzugehen. Als soldier erhebt er die Beethovensdie Durchführungstechnik zu einem allgemeinen Prinzip und verschmilzt EN SINFONIKER sie mit dem leitmotivisdien Stil. Es ist aber ein sehr weiter Weg von dem musi kalisch geschmeidigen Leitmotiv Wagners zu den ganz in die Sphäre absoluter Mu sik getauchten, form-organisdi bedingten Leitthemen Brahms. Sie sind vielmehr nur erregende und regelnde Substanz, die im fertigen Bau zuweilen gar nicht zu ent decken ist. Gerade bei der vierten Sin fonie ist wohl die ideelle, nicht aber die motivische Einheit offensichtlich. 'Beethovens D-Dur-Sinfonie Ende des Sommers 1802 weilte Beet hoven in Heiligenstadt, einer Wiener Sommerfrische, seinem Lieblingsaufenthalt. Eine schwere Krankheit befiel ihn dort. Schon glaubte er den Tod nahe. Und so verfaßte er sein Testament: um seinen „Mitmenschen Aufklärung zu geben über sein rätselhaftes Wesen“ — sein bekanntes „Heiligenstädter Testament“. Wie war es nun möglich, daß Beethoven in dieser Zeit körperlich und seelisch tiefster De pression ein Lichtwerk schreiben konnte, wie seine „Zweite“? Seine geliebte Kunst, die führte ihn über alles Erdenleid leicht empor! Und nur noch leise zittert die Er innerung an die Stunden der Verzweif lung (der Arzt hatte ihm damals an gedeutet, daß er voraussichtlich äußerlidi nicht mehr die Macht der Töne spüren, daß er taub werde) durch das Werk, das seine Schöpferkraft in diesem Zustande erstehen ließ. Es ist wohl kein Zufall, daß die Einleitung dieser „Zweiten“, das „Adagio motto“, das bisher an dieser Stelle übliche Maß an Umfang und Inhalt ge waltig überschreitet. Beethoven mußte sich erst selbst befreien. Und wenn das Tutti durch die Töne des D-Moll-Akkords in wuchtigem Fortissimo abwärts schreitet, so spricht neben dem Komponisten hier vor allem noch der Mensch Beethoven zu uns, der, von Verzweiflung gepackt, sich an das Kommende erinnert, ehe er resig niert und in sonniger Wärme und ge dämpftem Lichte sich verinnerlicht: Das „Heiligenstädter Testament“ spricht zu uns. Diese zweite Sinfonie ist nach Form und Inhalt eines der klarsten Tonmerke Beet- hovens. Es schließt sich im allgemeinen