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124 Nr. 3. September 1881. STAHL UND EISEN. den Realpolitikern. Auch die Geschichte hat oft genug gelehrt, dass gewaltige, tief in das Leben und die Gestaltung eines Volkes eingreifende Er eignisse vermocht haben, dem politischen Streben der grossen Masse desselben eine andere Richtung zu geben. Sind demgemäss selbst die politischen Bestrebungen der Modification und dem Wechsel unterworfen, wie viel weniger wird es möglich sein die Schablone unverrückbarer Principien und Grundsätze für die Regelung von Fragen an zuwenden, die aus den thatsächlichen Verhält nissen unseres, von den verschiedensten Factoren beeinflussten, in seiner Gestaltung so häufig wechselnden, so schnell schreitenden wirthschaft- lichen Lebens hervorgehen? Und dennoch will man die Partei verpflichten, in wirthschaftlichen Fragen nach politischen Anschauungen zu ent scheiden. Das Verwirrende in solchem Streben tritt am deutlichsten bei den Wahlen hervor. Durch sie soll in erster Reihe die politische Gesinnung zum Ausdruck gelangen; das Resultat wird aber ge fälscht, wenn beispielsweise der liberale Candidat unter jeden Umständen auch Freihändler sein muss. Es ist sehr wohl möglich, dass einer An zahl von Wählern die wirthschaftlichen Interessen viel näher als die politischen liegen; gewaltsam vor die Alternative gestellt, werden sie sich dem gemäss leichter entschliessen, ihre politischen Grundsätze aufzugeben, als die für unbedingt nothwendig erkannten wirthschaftlichen Ziele. So kann es kommen, dass durch die Verquickung wirthschaftlicher und politischer Fragen ein über wiegend liberaler, aber in der Mehrzahl schutz- zöllnerischer Wahlkörper gezwungen wird, einen Abgeordneten anderer politischer Richtung zu stellen, während die wirkliche politische Gesinnung unverfälscht zum Ausdruck gelangen würde, wenn die Wählerschaft einen dieser Gesinnung ent sprechenden Candidaten hätte aufstellen können, dem es auch möglich gewesen wäre, die wirth- schaftliehen Anschauungen derselben in der Par tei zu vertreten. Wir wollen hier nicht die oft gegebene Schilderung der Vorgänge wiederholen, welche in Deutschland die Begriffsverwirrung erzeugt haben, als welche unzweifelhaft die Identificirung gewisser wirthschaflicher Institutionen mit poli tischer Freiheit bezeichnet werden muss. Zu begreifen ist freilich, dass fanatisches Partei interesse diese Begriffsverwirrung pflegt und för dert, nicht aber, dass Männer, die nach ihren sonst bethätigten geistigen Gaben und Charakter eigenschaften schärfer unterscheiden, der Wahr heit mehr die Ehre geben müssten, sich solcher Parteiparole blindlings unterwerfen. Für uns aber resultirt aus diesen unglückseligen Verhält nissen die Unmöglichkeit, in unseren Ausführungen die wirthschaftlichen Fragen in allen Fällen ge trennt von den politischen zu halten. Es ist uns Sterblichen versagt, unbedingt zu erkennen, was die Zukunft in ihrem Schoosse birgt; nicht selten werden wir jedoch an der Hand der Thatsachen und der Combinationen, die wir an dieselben knüpfen, in den Stand ge setzt, die nahenden Ereignisse mit annähernder Sicherheit vorauszusehen. So dicht aber wie augenblicklich hat sich die Zukunft auf dem uns hier zumeist interessirenden Gebiete wohl selten verschleiert. Tief einschneidende, gewaltige wirth- schaftliche Fragen sind in den letzten Jahren aufgeworfen, die theilweise noch ungelöst die Gemüther mächtig erregen, die andern Theiles mit Hülfe eines Reichstages entschieden worden sind, der mit der jüngst geschlossenen Session auch seine Legislaturperiode beendet und zu exisliren aufgehört hat. Wir stehen vor neuen Wahlen, und politische Zerfahrenheit verbindet sich mit wirthschaftlichen Bestrebungen verschie dener Art und kirchlichen Interessen, um ein Wirrsal zu schaffen, das weniger als je zuvor ein Urtheil über das Endresultat gestattet. Die geschlossene Majorität, welche den wirthschaft lichen Schutz der nationalen Arbeit sanctionirte, hielt wohl noch zusammen, um einige Ergän zungen an dem grossen Werke des Jahres 1870 vorzunehmen, sie gerieth jedoch, zerklüftet von Interessen, die weit ausserhalb des wirthschaft lichen Gebietes lagen, ins Schwanken und zerfiel, als es galt, für ganz Deutschland in dem Volks- wirthschaftsrathe eine Institution zu schaffen, die nur als eine nothwendige Consequenz des früher adoptirten Wirthschaftssystems hätte betrachtet werden sollen. Diese Ablehnung, in Verbindung mit früheren Vorgängen — es sei hierbei an die Samoavorlage erinnert — zeigten, dass die neuere Wirthschaftspolitik eine feste Stütze im Reichs tage nicht mehr fand; wie sich aber die Zu sammensetzung des neuen Reichstages gestalten wird, ist durchaus nicht zu übersehen. Freilich, wer den Thatsachen näher sieht, wird von der festen Ueberzeugung durchdrungen sein, dass die Stimmung im Volke, welche die Majorität für das Zollgesetz von 1879 schuf, in denjenigen Kreisen sich gekräftigt und gestärkt hat, die nur einigermassen uriheilsfähig bezüglich dieser Fragen sind. Denn die Arbeit ist an vielen Stellen erhalten worden, wo, ohne die rettende That der neueren Wirthschaftspolitik, das Aufhören derselben Noth und Jammer über Tausende von Arbeiterfamilien gebracht hätte, und das allein ist schon ein grosser Erfolg; die Arbeit hat sich aber im Allgemeinen auch gemehrt, und sie ist lohnender geworden. Das wissen alle, die im praktischen Getriebe der productiven Thätigkeit stehen. Der Handelsstand, das distributive Gewerbe, denkt freilich vielfach anders, die Vertreter des selben in ziemlich weilen Kreisen betrachten den bedingungslosen Freihandel noch heute als das