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1130 Stahl und Eisen. Berichte über Versammlungen aus Fachvereinen. 1. December 1899. noch ehe sie bekannt wurde. Ganz besonders wurde behauptet, dafs das Gesetz die Vernichtung der Coa- litionsfreiheit bedeute, und dafs es ein gegen die Arbeiter gerichtetes Ausnahmegesetz sei. Sodann wurde behauptet, dafs die bestehenden Gesetze voll kommen zum Schutze der Arbeitswilligen genügen, und dafs demgemäfs das neue Gesetz durchaus über flüssig sei. In Erörterung dieser Angriffe ging der Referent nunmehr auf den Inhalt des Gesetzes selbst ein. Die grundlegenden Bestimmungen in den §§ 1 und 2 gehen über den jetzigen § 153 der Gewerbe ordnung hinaus. Der § 1 belegt auch mit Strafe den, der einen Anderen, gleichviel ob Arbeitgeber oder Arbeiter, an dem Beitritt zu einer Coalition bindert. Hierin liegt jedenfalls eine erhöhte Sicherheit des Coalitionsrechts, und zwar in der für die Arbeiter wich tigen Beziehung, dafs auch Arbeitgeber oder deren Vertreter sich jeder .Einwirkung auf die Arbeiter ent halten müssen. Nach einer Erklärung des Staats- secretärs Nieberding findet dieser Paragraph auch auf die Syndicate Anwendung. Der § 2 ist neu; er ent hält eine Bestimmung, die nur die Arbeitgeber, eine zweite, die nur die Arbeiter trifft, beide aber in voll kommen gleicher Weise; eine dritte Bestimmung er streckt sich gleichmäfsig auf Arbeitgeber und Arbeiter. Diese Bestimmungen bieten die Garantie für die Frei heit des Arbeitsvertrags und eine verstärkte Sicherheit des Coalitionsrechts. Der § 3 stellt diejenigen unter erhöhte Strafe, die sich zum Geschäft machen, Hand lungen der in §§ 1 und 2 bezeichneten Art zu begehen. Der Redner schildert, wie dieser Paragraph den Un willen der Socialdemokratie und deren Helfer aus den bürgerlichen Parteien besonders hervorgerufen habe und wie namentlich der Abg. Bebel im Reichstage bemüht gewesen sei, jene Personen als durchaus harmlos darzustellen. Demgegenüber giebt der Referent ein drastisches Bild von der verhetzenden Thätigkeit der socialdemokratischen Agitatoren, Hetzer und Streik- reisenden, die aber nach § 3 auch nur straffällig werden sollen, wenn sie die in §§ 1 und 2 bezeichneten Hand lungen begehen. § 4 Abs. 1 stellt dem körperlichen Zwange im Sinne der §§ 1 bis 3 gleich die Beschädigung und Vorenthaltung von Arbeitsgeräthen, Arbeitsmaterial, Arbeitserzeugnissen oder Kleidungsstücken. Auch hierin wird man keine Beeinträchtigung der Coalitions- freiheit erblicken können. Absatz 2 des § 4 handelt von dem Streikpostenstehen. Der Redner betont, dafs das Postenstehen der Streikenden zu den wirksamsten Mitteln gehört. Von der Socialdemokratie wird es so dargestellt, als wenn die Posten nur die Aufgabe haben, in gemüthlicher und friedlicher Unterhaltung Nachrichten über den Stand des Ausstandes zu geben oder zu empfangen. Bekanntlich aber haben ins besondere bei grofsen Ausständen, bei uns wie in Eng land, diese Ueberwachungen durch Posten zu den mannigfachsten Ausschreitungen und Gewaltthätigkeiten schwerster Art, zu förmlicher Belagerung geführt. Im Reichstage haben selbst Redner der bürgerlichen Partei sich beeilt, der socialdemokratischen Anschauung, dafs es ihnen freistehen müsse, Zwang auf die Arbeiter auszuüben, Vorschub zu leisten. Der Referent bemerkt, dafs das Postenstehen an sich nicht verboten werden soll, es soll vielmehr die planmäfsige Ueberwachungs- thätigkeit nur dann strafbar sein, wenn sie als Mittel zu einem der in den §§ 1 und 2 unter Strafe gestellten Zwecke dient. Bei dieser Vorlage werden Arbeitgeber und Arbeiter unter gewissen thatsächlichen Verhält nissen in vollkommen gleicher Weise unter Strafe gestellt. Die sogenannten schwarzen Listen sind in den Verhandlungen des Reichstags mehrfach als Ausnahme recht der Arbeitgeber bezeichnet worden, deren Führung ihnen nicht verboten sei, obgleich die Gegner sie als ein verwerfliches Kampfmittel bezeichnet hätten. Aber ein gleiches Kampfmittel haben die Arbeiter in der Hand, wenn sie einen Arbeitgeber oder ganze Gruppen derselben boycotten oder die Sperre über sie verhängen. Wenn man die schwarzen Listen verbieten wollte, so würde ein gleiches Verbot auch die von den Arbeitern als Kampfmittel benutzten Boycotts und Sperren treffen müssen. Das würde aber ein zu grofser Eingriff' in die wirthschaftlichen Seiten des Kampfes sein. Der Vortragende ging dann zu dem principiellen Einwand über, dafs die bestehenden Gesetze ausreichen, um die bisher vorgekommenen Ausschreitungen unter Strafe zu stellen. Zunächst wird auf die §§ 153 und 152 der Gewerbeordnung hingewiesen. Der § 153 ist jedoch unanwendbar gegenüber allen Ausschreitungen, bei denen es sich nicht um die Erlangung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen, sondern um andere Streitfragen handelt, z. B. Beseitigung von mifsliebigen Vorgesetzten und Arbeitern, Wiederaufnahme ent lassener Arbeiter, Schutz der Streikenden oder deren Vertrauensmänner gegen Entlassung, Anerkennung von Arbeiter-Organisationen oder von Arbeitervertretungen, ferner die Maistreiks aus Sympathie. Diese Streiks um Machtfragen kommen verhältnifsmäfsig häufig vor, sie sind auch die gefährlichsten, denn bei ihnen ist regelmäfsig die Socialdemokratie thätig; sie werden gewissermafsen als Manöver von den letzteren benutzt, um die Genossen an den Kampf zu gewöhnen und die Arbeiter in die socialdemokratische Organisation zu zwingen, kurz, um ihre Macht zu stärken. Es ist der § 153 nur anwendbar bei Nöthigungen, die in Beziehung mit einer Coalition begangen werden; er versagt, wo eine Verabredung oder Vereinigung nicht vorliegt oder nicht nachweisbar ist. Endlich können nach § 153 Ausschreitungen bei Ausständen nur bestraft werden, wenn sich nachweisen läfst, dafs durch körperlichen Zwang, Drohung u. s. w. der Anschlufs Widerstrebender an die kämpfende Partei erzwungen werden soll. Die Erfahrung lehrt aber, dafs sehr häufig Streikende, z. B. im Aerger über Nichtbetheiligung am Kampfe, schwerste Ausschreitungen begehen, ohne dafs die Absicht vorgelegen hat oder nachgewiesen werden kann, die Arbeitswilligen in die Organisation zu zwingen. Dasselbe gilt von allen Angriffen und Racheacten, die nach beendetem Ausstand an den Arbeitswilligen be gangen werden. Die hier oft angeführten Paragraphen des Strafgesetzbuches sind auch nicht ausreichend. Die §§ 240 und 241 (Nöthigung und Bedrohung) können niemals bei der Ehrverletzung oder Verrufserklärung angewandt werden. Aber auch Drohungen scheiden aus, wenn sie sich nicht auf ein Verbrechen oder Ver gehen erstrecken. Bei dem Erpressungs-Paragraphen 253 ist die Voraussetzung, dafs der Thater durch die Nöthigung eines andern sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvortheil verschaffen will. Diese Voraussetzungen fehlen bei den meisten in den Arbeiterkämpfen vorkommenden Fällen. Richtig ist, dafs zahlreiche Ausschreitungen den Thatbestand der Beleidigung, Körperverletzung, des Hausfriedensbruchs oder der Sachbeschädigung im Sinne der betreffenden Paragraphen des Strafgesetzbuchs erfüllen. Aber die Verfolgung dieser Ausschreitungen ist vielfach unmög lich, da sie Antragsdelicte sind und die Einschüchterung und die Furcht vor Rache hei den Arbeitswilligen gewöhnlich so grofs ist, dafs sic solche Anträge nicht stellen oder, wenn sie in der ersten Empfindung des erlittenen Unrechts gestellt sind, aus Angst vor Rache nicht aufrecht erhalten werden. Der Referent ging dann auf die .Kritik ein, welche die Abgg. Dr. Lieber und Bassermann an dieser Vor lage im Reichstage geübt hatten. Dr. Lieber hat diese Vorlage als einen Lückenbüfser bemängelt, er verlangt positiven Aufbau und zu diesem Zweck die Einführung derCoalitionsfreiheit für alle, die dem deutschen Reichs- rechte unterstehen und für alle Zwecke, zu denen sich deutsche Reichsbürger vereinigen wollen; es sei ihm